Hamburg. Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider spricht mit Uni-Präsident Dieter Lenzen über (große) Themen unserer Zeit.
In „Wie jetzt?“, einem Gemeinschaftsprojekt von Hamburger Abendblatt und Universität Hamburg, unterhalten sich Chefredakteur Lars Haider und Uni-Präsident Dieter Lenzen über Fragen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Diesmal geht es um den Umgang mit Menschen, die sich nicht gegen Corona impfen lassen wollen.
Lars Haider: Die Pandemie nähert sich gefühlt ihrem Ende, aber eine Frage bleibt auf jeden Fall: Was machen wir mit denen, die freiwillig ungeimpft bleiben wollen? Wie gehen wir mit denen um?
Dieter Lenzen: Das ist eine sehr große Frage, die zu einem Brief passt, den ich vor Kurzem bekommen habe. Darin wurde ich gebeten, dafür zu sorgen, dass sich möglichst niemand impfen lässt, weil hinter der Impfkampagne eine große Verschwörung stecke. Der Brief bezog sich explizit auch auf Kinder und Jugendliche …
… vielleicht bleiben wir erst mal bei denen, weil sich bei ihnen die Frage nach dem Impfen oder Nicht-Impfen ja aktuell stellt.
Lenzen: Rechtlich ist die Lage eindeutig, die Eltern dürfen für ihre Kinder entscheiden, ob sie sie impfen lassen oder nicht. Moralisch ist die Situation schwieriger: Einerseits stellt sich die Frage, ob Eltern eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ihrer Kinder zulassen dürfen. Andererseits müssen sie das Risiko abwägen, das eine mögliche Covid-19-Erkrankung bedeuten würde. Das ist ein typisches ethisches Dilemma. Ich würde Eltern, die Kinder haben, die älter als zwölf sind, raten, die Angelegenheit mit ihnen zu besprechen. Kinder in dem Alter sind durchaus in der Lage, sich dazu eine Meinung zu bilden.
Christian Drosten hat gesagt, dass wir uns am Ende alle entscheiden müssen, für uns selbst oder für unsere Kinder: Wollen wir dem Virus bei einer Impfung oder bei einer Infektion begegnen? Seine These ist, dass früher oder später jeder auf diese oder andere Art Kontakt mit Corona bekommt. Kommen wir zu den Erwachsenen: Was machen wir mit den etwa 20 Prozent der Erwachsenen, die sich laut Umfragen nicht impfen lassen wollen? Zwingen wir die? Oder lassen wir es als Gesellschaft gut sein, weil sich die angestrebte Herdenimmunität gegen das Coronavirus wahrscheinlich auch schon mit einer Bevölkerung einstellt, die zu 80 Prozent geimpft ist?
Lenzen: Natürlich könnte der Staat seine Bürgerinnen und Bürger zu einer Impfung zwingen, bei Masern ist das ja so geschehen. Die Frage ist nur, ob es nicht klüger wäre, die Folgen des Nicht-Geimpftseins spürbar zu machen. Es gibt in der Erziehungsphilosophie eine Kategorie mit dem Namen logisches Bestrafen. Die könnte man auch auf die Pandemie anwenden. Wer sich nicht impfen lassen will, kann dann bestimmte Freiheiten nicht für sich beanspruchen. Die Politik wird sich mit dieser Frage auseinandersetzen müssen, und zwar noch vor der Bundestagswahl im September.
Ich stelle mir gerade vor, wie Annalena Baerbock ankündigt, dass mit ihr als Bundeskanzlerin Nicht-Geimpfte zum Beispiel nicht mehr in den Urlaub fliegen dürfen … Ich glaube, dann hätte sich die Hoffnung der Grünen, erstmalig die Bundeskanzlerin zu stellen, schnell erledigt.
Lenzen: Man muss zumindest darüber nachdenken. Es könnte doch etwa eigene Flüge für Nicht-Geimpfte geben, dann würde man ihnen zumindest den Urlaub nicht grundsätzlich verbieten. Was auf jeden Fall nicht geht, ist, dass das Wohl der Gemeinschaft gefährdet wird, weil Einzelne für sich Sonderrechte beanspruchen. Meine Freiheit endet dort, wo ich die Freiheit anderer beschränke. Aber Sie haben recht: Wer als Politiker solche Gedanken im Moment äußern würde, hätte Probleme bei der Wahl. Ich würde trotzdem gern von den Kandidaten wissen, wie sie mit Nicht-Geimpften umzugehen gedenken.
Sie haben eben die Erziehungsphilosophie angesprochen, eines ihrer Spezialgebiete. Dort kennt man auch das Anreizprinzip, das man auf die Impfungen auch anwenden könnte. In den USA gibt es etwa für Menschen, die sich für eine Impfung entscheiden, ein Lotterielos kostenlos.
Lenzen: Das sind sachfremde Motive, aber ich bin nicht nur deshalb dagegen. Denn wenn Sie etwa geldwerte Vorteile bei einer Impfung einräumen, müssten Sie diese 82 Millionen Deutschen gewähren, das würde ein teurer Spaß. Wir müssen in einer aufgeklärten Gesellschaft auf die Einsichtsfähigkeit der Menschen setzen. Wenn tatsächlich 20 Prozent der Menschen nicht bereit sind, sich impfen zu lassen, wie Sie es behaupten, dann kann man das nicht so stehen lassen, dann muss für dieses Problem eine politische Lösung her. 20 Prozent sind einfach zu gefährlich für die gesamte Gesellschaft. Ich kann mir aber vorstellen, dass am Ende gar nicht so viele eine Impfung ablehnen werden, wir erleben doch in den vergangenen Wochen eher das Gegenteil.
Man betrachtet immer nur die medizinischen Aspekte einer Impfung, muss aber auch ihre Vorteile im sozialen und psychologischen Bereich sehen. Es ist schon ein Unterschied, ob Studierende allein zu Hause sitzen oder sich auf dem Campus der Universität treffen können.
Lenzen: Ich hoffe, dass der Ethikrat sich mit dem ganzen Fragenspektrum einer Impfentscheidung beschäftigt, das weit über medizinische Risiken hinausgeht und für die Verfassung einer Gesellschaft sogar wichtiger sein könnte. Ob es wirklich ein Leiden ist, nur wenige Menschen sehen zu können, sei dahingestellt, das hat viel mit unseren Vorerfahrungen zu tun.
Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Impfgegner oft und gern darauf verweisen, dass man ja nicht wisse, wie die Langzeitfolgen einer Impfung aussähen? Das gilt für alle neu entwickelten Medikamente, die trotzdem genommen werden, eben weil sie dank medizinischer und pharmazeutischer Fortschritte neue Krankheiten bekämpfen oder bekannte noch stärker lindern können.
Lenzen: Für alles, was neu erfunden wird, gilt doch, dass wir nicht wissen, wie genau ein bestimmtes Produkt unser Leben verändert – das fängt bei Lebensmitteln an und hört bei Elektrofahrzeugen auf. Denken Sie mal daran, dass bei der Erfindung der Eisenbahn die feste Überzeugung vorherrschte, dass ein Körper, der sich schneller als 25 km/h bewegt, zum Tode verurteilt ist. Deshalb sind die Leute damals auf die Barrikaden gegangen.
Das war grober Unfug, der durch nichts belegt war, aber das war den Menschen egal. Dass Vergleichbares heute, mit einem ganz anderen Bildungsstand unserer Gesellschaft, immer noch möglich ist, erschüttert uns natürlich sehr. Wir dachten, dass wir spätestens seit den 70er-Jahren große Fortschritte in der Einsichtsfähigkeit der Bevölkerung gemacht haben, und stellen jetzt fest, dass es dort Verbesserungsbedarf gibt. Auch für unser Bildungswesen.
Wird sich das jemals ändern? Wir haben doch viele technologische Sprünge erlebt, denen die Menschen zunächst erst abwartend bis skeptisch oder ablehnend gegenüberstanden. Selbst das Internet wurde und wird von vielen als Bedrohung verstanden, was es in Teilen tatsächlich auch ist.
Lenzen: Anthropologisch ist es vielleicht wie folgt zu erklären: Wenn wir auf Sicherheit setzen – und jeder menschliche Organismus muss auf Sicherheit setzen, weil er sonst sein Leben infrage stellt -, dann ist es am besten, wenn wir alles so lassen, wie es ist. Denn unsere Erfahrung ist: Das hat funktioniert, warum sollten wir daran etwas ändern?
Leider ist es nun mal so, dass sich um uns herum alles ändert, und darauf müssen wir reagieren, ob wir wollen oder nicht. Wir müssen uns, gerade angesichts globaler Probleme, wie sie das Coronavirus und vor allem die Klimakrise sind, umstellen. Die Flexibilitätserwartung gegenüber jedem Einzelnen steigt genauso wie gegenüber der Gesellschaft als ganzer. Und damit steigen übrigens auch die Erwartungen an die Politik. Das heißt: Konservative Politik zu machen ist heute sehr schwierig, wenn sie darauf bestehen sollte, vorsichtshalber nichts zu ändern, damit alles gut bleibt. Das funktioniert nicht mehr.