Hamburg. Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider spricht mit dem Hamburger Uni-Präsident Dieter Lenzen über die Themen unserer Zeit.

In „Wie jetzt?“, einem Gemeinschaftsprojekt von Hamburger Abendblatt und Universität Hamburg, unterhalten sich Chefredakteur Lars Haider und Uni-Präsident Dieter Lenzen über Fragen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Diesmal geht es um erschlichene Doktortitel und Politiker, die wegen Mängeln in ihren Dissertationen zurücktreten.

Lars Haider: Früher habe ich immer gedacht, dass es doch ein Traum sein müsste, einen Doktortitel führen zu dürfen. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Siehe Franziska Giffey, die sich nach dem ganzen Hin und Her über ihre Dissertation am Ende gezwungen sah, von ihrem Amt als Bundesfamilienministerin zurückzutreten.

Dieter Lenzen: Für mich ist grundsätzlich klar: Erkenntnisse, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Rahmen einer Dissertation zutage fördern, müssen stimmen, sie dürfen nicht von einem anderen einfach abgeschrieben werden. Nun hatten wir es zuletzt mit politischen Einzelfällen zu tun, die das Ansehen des Doktortitels beschädigt haben und die entsprechend zu Recht geahndet worden sind. Wir müssen uns auch vor Augen führen, dass der Doktortitel in Deutschland Bestandteil des Namens ist. Ich heiße eigentlich nicht Lenzen, sondern Dr. Lenzen. Wer fälschlicherweise einen Doktortitel führt, verstößt damit gegen geltendes Recht.

Das ist das eine. Das andere ist, ob eine Politikerin immer gleich von einem Amt zurücktreten muss, weil sie befürchten muss, dass ihr ein Doktortitel aberkannt werden könnte.

Lenzen: Das ist eine Frage, die nichts mit Wissenschaft, sondern mit dem politischen System zu tun. Ist dieses System, oder die jeweilige Partei des Betroffenen, der Auffassung, dass die Person durch die Aberkennung eines Doktortitels so beschädigt ist, dass sie ihr Amt nicht mehr ausüben kann? Kann man von dem, was sie oder er bei der Dissertation falsch gemacht hat, Rückschlüsse auf das allgemeine politische Verhalten ziehen? Ist ihr eventuell die eigene Karriere wichtiger als Genauigkeit und Wahrhaftigkeit? Ich finde: Wenn man weiß, dass man Mist gebaut hat, muss man daraus die Konsequenz ziehen, und von sich aus um eine Aberkennung des Doktortitels bitten.

Wie hat der Doktortitel eigentlich überhaupt eine solche Bedeutung in unserer Gesellschaft erlangt?

Lenzen: Der Doktortitel war Bestandteil des Ersatzes des Adelstitels. Im 18. Jahrhundert brauchte man einen Adelstitel, um in der Gesellschaft etwas zu sagen zu haben. Das ist bereits im 19. Jahrhundert erodiert, weil es erworbene Adelstitel gab und eben den Doktortitel, der im Grunde auch der Ausweis eines Adels ist, nämlich des Bildungsbürgertums. Wenn Sie so wollen, ist das erworbener Adel, deshalb war der Doktortitel damals so wichtig. Das hat sich viele Jahrzehnte gehalten, und ist erst in der jüngeren Vergangenheit wegen der Plagiatsaffären in Verruf geraten. Dabei brauchen wir auch heute eine große Zahl von Menschen, die promovieren, und deren Lohn unter anderem darin besteht, den Doktortitel führen zu dürfen. Umgekehrt müssen wir all denen, die versuchen, dafür eine Abkürzung zu nehmen, das Handwerk legen, um den Wert einer Promotion nicht zu schmälern.

Nun spielt der Adel heutzutage so gut wie keine Rolle mehr und entsprechend hat auch die Bedeutung des Doktortitels abgenommen.

Lenzen: Es kommt darauf an, in welchem Milieu man sich bewegt. Es ist immer noch so, dass Unternehmen in Führungspositionen gern Menschen beschäftigen, die einen Doktortitel haben. Und es ist empirisch bewiesen, dass ein solcher Titel in einem vergleichbaren Job etwa zehn Prozent mehr Gehalt bedeutet. Soll heißen: Es lohnt sich tatsächlich, wenn sich jemand mal zwei Jahre hinsetzt und mit einem wissenschaftlichen Thema intensiv auseinandersetzt. Das gehört auch zur Prüfung einer Persönlichkeit, und deshalb sollte man das nicht gering schätzen.

Doktortitel sind ja nicht nur ein Ausweis von Klugheit, sondern, Sie sagen es, von Fleiß und harter Arbeit. Bei den meisten Plagiatsfällen entschuldigten die Betroffenen ihr Verhalten damit, dass sie neben der Doktorarbeit auch noch andere Aufgaben gehabt und entsprechend nicht viel Zeit gehabt hätten. Die Moral: Man kann einen Doktortitel nicht nebenbei machen.

Lenzen: Das ist vollkommen richtig, zumindest bei den Promotionen außerhalb der Medizin, die ist ein Sonderfall. Einen Doktortitel kann man nicht nebenbei machen, sonst ist er wertlos. 

Trotzdem finde ich es zumindest bedenklich, dass Doktortitel mit so vielen Jahren Verzögerung infrage gestellt und gegebenenfalls wieder aberkannt werden. Schließlich sind die Doktorarbeiten ja alle einmal ausführlich von Experten, von Professorinnen und Professoren, geprüft worden.

Lenzen: Die Frage, ob der Ausweis eines disziplinierten, selbstorganisierten Arbeitens zu Recht getragen wird, kennt keine Verjährungsfrist.  Wenn ein Doktortitel unter falschen Voraussetzungen erlangt worden ist, muss er aberkannt werden. Das ist alternativlos.

Was heißt das konkret für die Universität Hamburg? Haben Sie nach Auftreten dieser Fälle alle Dissertationen der jüngeren Vergangenheit überprüft?

Lenzen: Nein, das ist illusorisch. Es gibt gelegentlich Anzeigen, denen wir nachgehen müssen, auch wenn auf diesem Weg nicht selten alte Rechnungen zwischen Wissenschaftlern beglichen werden sollen. Wir haben durchaus auch Doktortitel aberkannt. Im Nachhinein sich alle Dissertationen anzusehen, ist ausgeschlossen. In den Sozial- und Geisteswissenschaften, in denen eine Dissertation in der Regel mit der Veröffentlichung eines Buches endet, wäre das vielleicht mit der vor einigen Jahren entwickelten Plagiatssoftware möglich. In den Naturwissenschaften nutzt eine solche Software überhaupt nichts, weil sie die Versuche nachvollziehen, das heißt noch einmal machen müssten. Das wäre sehr teuer.

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Was heißt das alles für Menschen, die jetzt an einer Doktorarbeit schreiben, und für die, die diese Arbeit betreuen? Muss hier jedes Mal die Plagiatssoftware zum Einsatz kommen? 

Bei den Wissenschaften, in denen das möglich ist, haben wir entschieden, es genauso zu machen. Entweder muss der Doktorand mit der Abgabe seiner Arbeit eine Bescheinigung vorlegen, dass die Software bei ihm nichts zu beanstanden hat, oder die Arbeit wird von den Doktorvätern und -müttern selbst einer solchen Prüfung unterzogen. Ich möchte aber auf zwei viel wichtigere Punkte hinweisen.

Erstens: Jemand, der promovieren will, muss sich prüfen, warum ihm das wichtig ist. Ist es die Leidenschaft, etwas zu erkennen, was andere noch nicht herausgefunden haben, wie wir es gerade im Bereich der Corona-Forschung erleben? Oder ist es nur der Wunsch, einen Titel zu führen?

Zweitens: Wer als Betreuer seinen Doktoranden nur einmal im halben Jahr sieht, vernachlässigt ihn und kann im Zweifel nicht verhindern, dass der Betreute zu einem Thema forscht, was es vielleicht so schon gegeben hat. Entscheidend ist, dass die Personen, die promovieren, von erfahrenen Wissenschaftlern geführt werden, weil sie natürlich nicht alles wissen können. Man mag sich fragen, warum das nicht immer so ist, und landet dann schnell bei bestimmten Hochschullehrern, die bei Doktoranden sehr beliebt sind, und deshalb für den Einzelnen gegebenenfalls dann nicht genügend Zeit haben.