Hamburg. Am Sonnabend dürfen sie endlich wieder öffnen – aber welche Perspektiven haben sie langfristig? Ist schon zu viel kaputt gegangen?
Hamburg macht sich locker. Für viele überraschend hat Bürgermeister Peter Tschentscher am Dienstag die Zügel gelockert. Noch am Sonntag bei Anne Will gab er den Kapitän des Teams „Vorsicht“ und stellte lediglich die Öffnung der Außengastronomie in Aussicht, keine 48 Stunden später wurden dann auch Geschäfte, Kultureinrichtungen und Sportvereine von den härtesten Corona-Regeln befreit. Kommt nun auch für die Branche, die seit November beziehungsweise Dezember in einem monatelangen Lockdown steckt, der Aufschwung?
Die Unternehmer blicken hoffnungsfroh, aber nicht euphorisch in die Zukunft. Anders als bei den Lockerungen vor einem Jahr steckt ihnen die Furcht in den Knochen, dass eine weitere Infektionswelle das Erreichte wieder zunichtemachen könnte. Durfte man die Pause im Frühjahr 2020 noch als längere Betriebsferien betrachten, sind nach Monaten des Stillstands Geschäftsbeziehungen zerbrochen, Kunden und Beschäftigte von der Fahne gegangen. Schlimmer noch – viele Unternehmer hadern grundsätzlich mit der Politik.
Lage der Gastronomie in Hamburgs Politik lange ignoriert
Patrick Rüther, der in Hamburg mit seiner Tellerrand Consulting besondere Gaststätten wie das Überquell oder die Bullerei betreibt, sieht manche Entscheidungen der vergangenen Monate kritisch. Auf der einen Seite lobt er die finanziellen Hilfen des Staates. „Diese Hilfen haben der Branche geholfen zu überleben“, sagt er und verweist auf die November- und Dezemberhilfe, die Überbrückungshilfen und Zuschüsse zum Eigenkapital. Zugleich aber kritisiert Rüther die mangelnde Bereitschaft, an die Zukunft der Unternehmer zu denken. Viele ihrer Kosten liefen weiter, von der Miete über die Krankenversicherung bis hin zum Leasingvertrag. „Unternehmer schaffen als Arbeitgeber die Voraussetzungen, dass andere Sozialversicherungsbeiträge entrichten“, sagt Rüther.
Er kritisiert eine politische Perspektivlosigkeit, eine „mangelnde Lust, über kreative Lösungen nachzudenken.“ Bei den Ministerpräsidentenkonferenzen habe die Lage der Gastronomie nicht einmal eine Rolle gespielt. Rüther hat die vergangenen Monate als Zeit erlebt, in der es viel darum ging, Angst zu verbreiten und Freude zu nehmen. „Alles, was Spaß macht, konnte plötzlich verboten werden. Das deprimiert mich.“
„Pauschale Antworten helfen nicht mehr weiter"
Insgesamt vermisst er eine Anerkennung für die Branche, die sich im vergangenen Jahr immer wieder auf neue Corona-Verordnungen eingestellt hat – und dann doch schließen musste: „Wir haben geliefert, aber es war nie genug.“ Es sei nie dargelegt worden, dass Gastronomie gefährlich ist. „Ich hätte mir gewünscht, dass wir mehr testen und herausfinden, wo man sich ansteckt. Pauschale Antworten helfen nicht mehr weiter – seit über einem Jahr werden aber auf der Basis von Vermutungen Entscheidungen mit großer Tragweite geschlossen.“ Dabei seien Corona-Regeln im Restaurant einfacher und konsequenter einzuhalten als bei privaten Treffen.
„Wir vermissen als Branche eine grundsätzliche Wertschätzung“, sagt Rüther. Viele übersehen, wie wichtig Kneipen und Restaurants nicht nur für die Wirtschaft sind, sondern auch für die Nachbarschaften und die Lebensqualität vor Ort.“
Start in die Freiheit nicht ganz einfach
Immerhin: Nun stehen bundesweit die Zeichen auf Öffnung. Mitte April wagte sich Schleswig-Holstein mit seinem Modellversuch aus der Deckung, inzwischen folgen immer mehr Bundesländer. Im Ausland, etwa der Schweiz, hat man noch früher auf Öffnungen gesetzt. In Hamburg regiert die Vorsicht.
Und der Start in die neue, alte Freiheit nach sechseinhalb Monaten dürfte nicht ganz einfach werden: „Es wird schwieriger, sich selbst und die Mitarbeiter nach bald sieben Monaten wieder auf 100 oder 120 Prozent zu bringen, um wieder voll durchzuarbeiten“, sagt Rüther. „Die Menschen sind nicht faul geworden, aber aus dem Rhythmus – und mache sind ganz in andere Branchen abgewandert. Durch die derzeitige Lage sei das Arbeitskräfteangebot noch sehr gut: „Wenn wir Bewerber suchen, melden sich derzeit mehr als vor Corona“, sagt Rüther. Prognosen sagen aber, dass es eng wird, wenn wieder alle gastronomischen Betriebe auf Volllast gehen.
Hamburger Wirte warten erstmal ab
Die kommenden Monate sieht Rüther verhalten positiv: „Ich hoffe, dass es boomt. Wenn es so losgeht wie im letzten Sommer, wird es positiv.“ Wichtig sei, dass die Beschränkungen überschaubar bleiben, keine Sperrstunde kommt und bald auch die Innengastronomie öffnen darf. Der Betrieb rechnet sich für die meisten Wirte erst, wenn sie gerade in diesem nassen Hamburger Frühjahr komplett öffnen können. Es ist oft sogar billiger zu schließen als mit sehr begrenzten Plätzen aufzumachen.
Aus diesem Grund warten viele Wirte noch ab und verlängern die Leidenszeit. Absehbar ist, dass ein wichtiger Umsatzbringer noch über Monate ausfällt – die Touristen werden vorerst noch nicht nach Hamburg kommen, Hotels sind weiterhin nur für Geschäftsreisende geöffnet, Kulturveranstaltungen wie Musicals öffnen erst später, Attraktionen wie das Wunderland nur mit gedrosselten Kapazitäten. Gerade vermeldete das Statistikamt Nord einen Einbruch der Gästezahlen im März 2021 um weitere zwei Drittel – dabei war schon der März 2020 ein Corona-Monat. Auch Hamburgs Bürgermeister macht den Gastronomen kurzfristig wenig Hoffnung: Die Innengastronomie stehe bei weiteren Öffnungsschritten auf einer hinteren Position, sagte er nun.
Hamburgs Einzelhandel hat gelitten
Besser sieht die Lage für den Einzelhandel aus – nach einer Leidenszeit von mehr als fünf Monaten. Er darf ab Pfingstsonnabend öffnen. Aber für viele Händler kommt dieser Schritt zu spät: Der Handelsverband warnt, dass jedes vierte Geschäft in Deutschland vor dem Aus steht, 120.000 Läden seien akut bedroht. Schlimmer noch: Ein Teil der Umsätze könnte für ewig ins Netz abgeflossen sein.
2020 verbuchte der Onlinehandel einen Zuwachs von rund einem Viertel auf 73 Milliarden Euro, im laufenden Jahr sollen es sogar 85 Milliarden werden. Und 70 Prozent der Deutschen wollen auch in Zukunft mehr im Netz kaufen. Auch hier gilt: Galt der Lockdown im Frühjahr 2020 nur als Ausflug in neue Gefilde, ist nach fünf Monaten Lockdown der Wechsel ins Netz eine vielleicht dauerhafte Verhaltensänderung.
Jeder dritte Händler in Hamburg fürchtet nun das Aus
Und Hamburg ist besonders betroffen – hier war der Lockdown länger und härter als in anderen Bundesländern. Hier fürchtet jeder dritte Händler das Aus. „Die Hamburger Regelung war eine Zumutung“, sagt die Geschäftsführerin beim Einzelhandelsverband Nord, Brigitte Nolte. „Das hat Schleswig-Holstein vernünftiger geregelt.“ Click and Collect sei für ein Bettenfachgeschäft oder einen Juwelier abwegig. „Da kann man nicht an der Tür bedienen.“
Christian Bode, Inhaber des familiengeführten Handelsunternehmens Schuh Bode, zeigt die Verheerungen der Pandemie. Die Corona-Krise hat ein Drittel des Familienvermögens, das fünf Generationen seit der Gründung des ersten Geschäftes 1876 in Rothenburgsort erwirtschaftet haben, aufgezehrt. Trotzdem sagt der Arbeitgeber von 200 Mitarbeitern, dass er „gut drauf“ sei. Durch die Öffnungen sei nun ein Licht am Ende des Tunnels zu sehen.
Niederschmetternde Bilanz bei Click and Collect
Besonders wichtig ist ihm, dass der Senat auf eine Testpflicht für Kunden verzichtet hat. Als Unternehmer mit 25 Filialen weiß er um die Wichtigkeit der Vorgaben und hat den Flickenteppich der Länder am eigenen Leib erfahren. Berlin etwa lässt nur negativ Getestete beziehungsweise Geimpfte und Genesene in die Läden. „Dieses Berliner Modell des Click and Meet rechnet sich nicht, weil viele Händler dann gar nicht erst öffnen. Da bleiben die Umsätze bei rund 20 Prozent im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit“, sagt Bode. Ähnlich niederschmetternd fällt die Bilanz beim Click and Collect aus, das bis Freitag galt. Hier durften die Kunden nur vorab bestellte Ware abholen. Was bei Büchern funktionieren mag, ist bei Kleidern oder Schuhen, die anprobiert werden müssen, kaum umsetzbar.
Deutlich kunden- und unternehmerfreundlicher ist das System Click and Meet ohne Testpflicht: „Dann kommen die Kunden, wenn sie Schuhe benötigen“, sagt Bode. 80 Prozent der Termine würden spontan an der Ladentür verabredet, so seien Umsätze von 50 bis 60 Prozent möglich. „In Schleswig-Holstein ist kein Landkreis mehr in der Notbremse. Dort läuft das besser verständliche Prinzip Klopf und Komm sehr gut.“ Mit der Hamburger Politik hingegen hadert er – obwohl die Bundesnotbremse Click and Collect erst ab einer Inzidenz von 100 vorschreibe, galt sie in Hamburg noch bei Inzidenzen unter 50.
„An uns wird ein Exempel statuiert“
„Ich habe für die Hamburger Politik kein Verständnis mehr“, sagt Bode. „Warum verständigt man sich auf eine Bundesnotbremse, wenn Hamburg nach eigenem Gutdünken verschärft? Das ist eine gewisse Willkür.“ Er verweist darauf, dass Supermärkte und Drogerien in der Krise ihr Non-Food-Angebot ausgeweitet haben, während die Fachgeschäfte schließen mussten. „Es geht nur noch um 20 Prozent der Läden – und die sollen verantwortlich sein für das Infektionsgeschehen? An uns wird ein Exempel statuiert.“
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Tatsächlich fehlen bis heute die Beweise, dass Einkaufen gefährlich ist. So hat die TU Berlin verglichen, wie hoch das Risiko einer Ansteckung in Innenräumen ist. Während der Wert beim Einkaufen im Supermarkt auf 1 taxiert wird, liegt er in Läden bei einer Regulierung von zehn Quadratmetern pro Person bei gerade einmal 1,1. Fährt man drei Stunden in einer halb besetzten Bahn, steigt der Wert auf 1,5, in einer voll besetzten Oberschule sogar auf 11,5.
Inhaber von Schuh Bode schrieb Brief an Politiker
Im Februar hat Bode in einen langen, persönlichen Brief drei Abgeordnete des Wahlkreises Herzogtum Lauenburg/Stormarn angeschrieben, in dem er mehrere Läden besitzt. Das Echo fiel sehr unterschiedlich aus. Der CDU-Abgeordnete Norbert Brackmann rief schnell zurück und bot Hilfe an, die SPD-Abgeordnete Nina Scheer antwortete per Post, der grüne Abgeordnete Konstantin von Notz reagierte nicht einmal. Bode lobt die Hilfen der Politik: Das Unternehmen beantragte Überbrückungshilfe 3 und hat bereits Zahlungen erhalten.
„Das hat sehr gut geklappt. Solche Hilfen gab es für den ersten Lockdown nicht, deshalb hat das Jahr 2020 deutliche Lücken gerissen.“ Dank der Hilfen werde das laufende Jahr besser. Trotzdem blickt er mit gemischten Gefühlen in die Zukunft. „Wir müssen die Schuhe ein halbes Jahr vorher bestellen, das sind auch Modeprodukte. Es geht mittlerweile um die dritte Saison“, sagt Bode.
„Wir geben nicht auf. Ich bin angriffslustig"
Mit den neuen Vorgaben durch den Senat könne das Geschäft wieder anspringen. Allerdings rechnet Bode nicht mit einer raschen Rückkehr zu alten Umsätzen: „Einkaufen ist ein Gesamterlebnis, bei dem beispielsweise auch der Kaffee zwischendurch oder der Theaterbesuch danach dazugehören. Das aber kommt erst wieder zurück, wenn alle Beschränkungen fallen.“
Für das traditionsreiche Schuhhaus ist er gleichwohl optimistisch: „Wir geben nicht auf. Ich bin angriffslustig. Die Großeltern haben den Krieg überstanden, wir haben schon manches erlebt.“ So zuversichtlich ist er für die Branche insgesamt aber nicht: „Viele werden auf der Strecke bleiben. Der Prozess geht ja schon länger. Wenn die Hilfen nicht bald fließen, wird es für viele eng“, sagt er. „Dass die Umsätze nicht gleich durch die Decke gehen werden, ist klar“, sagt auch Geschäftsführerin Brigitte Nolte.
Ein Kunde pro zehn Quadratmeter in Hamburgs Läden
Aus anderen Bundesländern wisse man, dass die Kunden nicht gleich mit der Öffnung in einen Konsumrausch verfallen. Der Einzelhandelsverband Nord rechnet zunächst nicht mit einem großen Ansturm und überfüllten Geschäften. Allerdings können sich durchaus bei manchen Läden Schlangen bilden: „Das haben wir gerade bei Geschäften gesehen, die sich an Teenager richten.“
Mit der großzügigen Regelung von einem Kunden pro zehn Quadratmeter Verkaufsfläche können die Hamburger Händler leben. Auch die Kontaktnachverfolgung mit der Luca-App dürfte kein Problem sein. „Die Freude ist groß“, sagt Engler. Sie spüre einen verhaltenen Optimismus.
Hamburger Senat schließt Testpflicht nicht aus
Doch damit könne es schnell vorbei sein: Der Senat hat eine Schnelltestpflicht nicht ausgeschlossen, sollte die Sieben-Tage-Inzidenz nicht stabil unter 50 liegen. „Wir hoffen, dass der Senat das nicht gleich wahr macht und sich nicht allein an den Inzidenzen orientiert“, sagte Nolte. „Eine Testpflicht ist wirtschaftlich nicht tragbar.“ Für viele wäre sie womöglich der Todesstoß.