Hamburg. Der neue FDP-Landeschef fordert einen vorübergehenden Verzicht auf Steuerprüfungen in von Corona stark betroffenen Branchen.

Der 37 Jahre alte Diplom-Volkswirt Michael Kruse ist der neue starke Mann der Hamburger FDP – seit drei Wochen Landesvorsitzender und Spitzenkandidat für die Bundestagswahl am 26. September. Auf Platz zwei der Landesliste folgt die frühere Vorsitzende der Jungen Liberalen, Ria Schröder.

Hamburger Abendblatt: Die FDP ist eine Partei, die die interne Macht gern auf mehrere Köpfe verteilt. Sie sind jetzt Landesvorsitzender und Spitzenkandidat für die Bundestagswahl zugleich. Eine Hypothek?

Michael Kruse: Nein. Es ist vielmehr ein Ausdruck des Vertrauens, das die Partei in meine Arbeit hat. Unsere Mitglieder trauen mir die Aufgabe zu. Darin drückt sich auch der Wunsch aus, geschlossen in den Bundestagswahlkampf zu gehen.

Wie wollen Sie den Landesverband gut führen, wenn Sie gleichzeitig als Bundestagsabgeordneter Ihren politischen Schwerpunkt in Berlin haben sollten?

Kruse: Ich halte das für gut machbar. Die Fähigkeit, eine Organisation zu führen, hängt nicht mehr daran, dass man bei Gesprächen immer zusammen in einem Raum sitzt, sondern daran, dass man sich gut koordiniert. Ich habe ein tolles Team an meiner Seite, und wir sind als Digitalpartei optimal aufgestellt und weiter in diesem Prozess als andere Parteien. Auch wenn ich in den 21 Sitzungswochen unter der Woche in Berlin bin, werde ich in Hamburg weiterhin Impulse setzen.

An Ihrer Vorgängerin Katja Suding gab es zuletzt die Kritik, dass ihr dieser Spagat nicht gut gelungen sei. Sehen Sie die Gefahr?

Kruse: Ich sehe die große Herausforderung, dass Hamburg und Berlin zwei wichtige Rollen sind, aber ich sehe eben auch große Chancen. Ich möchte Hamburger Interessen in Berlin vertreten und damit für Hamburg Punkte machen und hier sichtbar werden. Ein Beispiel: Unser Bundestagswahlprogramm beinhaltet eine umfangreiche Passage zur maritimen Wirtschaft, die von der Hamburger Delegation erarbeitet worden ist. Darin bekennen wir uns dazu, dass der Ausbau der Infrastruktur eine staatliche Aufgabe ist. Auch das Sedimentmanagement der Elbe lässt sich verbessern: Wenn Hamburg sich mit dem Bund abstimmt, kann die Hansestadt im Jahr 30 Millionen Euro sparen.

Mit Blick auf die Digitalisierung …

Kruse: … engagiert sich die Hamburger FDP dafür, ein neues Digitalministerium in Deutschland so stark aufzustellen, dass es die anderen Ministerien dazu bewegen kann, die Digitalisierung voranzutreiben. Von Ria Schröder kommt die Initiative zur Einrichtung einer Bundeszentrale für digitale Bildung. Diese soll die immensen Probleme beim digitalen Unterricht angehen, Erfolgsrezepte sammeln und beim Erfahrungsaustausch zwischen den Bundesländern helfen, um die bestmöglichen Wege in der digitalen Bildung zu unterstützen.

Man könnte meinen, dazu gibt es die Kultusministerkonferenz.

Kruse: Die KMK hat im vergangenen Jahr nicht den Eindruck vermittelt, dass digitale Bildung das Allerwichtigste sei. Studien zufolge haben Schulkinder vor allem aus bildungsfernen Familien in der Pandemie von zu Hause aus viel zu wenig gelernt. Es kann eine neue Pandemie kommen – wir sollten vorbereitet sein, damit alle Kinder ihre Chancen nutzen können.

Die letzte Wahl verlief für die FDP nicht erfolgreich, sie scheiterte knapp an der Fünf-Prozent-Hürde. Woran hat es gelegen?

Kruse: Schon vor der Bürgerschaftswahl waren wir in den Umfragen zu weit abgerutscht. Wir hatten gute Umfragewerte noch im Sommer 2019, die sich aber nicht in Wahlerfolge haben ummünzen lassen. Wir hatten zunächst nicht so viel mediale Wahrnehmung, wie wir uns das gewünscht hatten. Anfang Februar 2020 hat sich alles konzentriert auf den Machtkampf zwischen Peter Tschen­tscher und Katharina Fegebank. Dann gab es mehr mediale Wahrnehmung, aber wegen der sehr negativen Ereignisse in Thüringen …

… wo der FDP-Politiker Thomas Kemmerich sich mit den Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten wählen ließ.

Kruse: Das hat uns am Ende das Genick gebrochen.

An der FDP-Spitzenkandidatin Anna von Treuenfels-Frowein hat es nicht gelegen?

Kruse: Nein.

Einsatz für Freiheitsrechte, Wirtschaft, Digitalisierung – reichen diese Schwerpunkte für die FDP aus, um ihre zwei Bundestagsmandate zu verteidigen und wieder in Fraktionsstärke in die Bürgerschaft einzuziehen?

Kruse: Für die Bundestagswahl sind das unsere zentralen Anliegen. Auf Hamburger Ebene spielen aber weitere Themen eine Rolle. Im Zuge der Bürgerschaftswahl hatten die Hamburger Verkehr und Stadtentwicklung als die wichtigsten Themenfelder benannt. Auf diesen Gebieten wurde uns zu wenig Kompetenz beigemessen. Deshalb wollen wir hier in den kommenden Jahren Schwerpunkte setzen. Was die Wirtschaft angeht: Branchen, die besonders stark unter den Lockdowns in der Pandemie gelitten haben, spielen in Hamburg eine wichtige Rolle: Tourismus und Handel sind hart getroffen, die Gastronomie liegt am Boden. Es gibt viele wichtige Bereiche, in denen wir dafür sorgen wollen, dass die Wirtschaft wieder auf die Beine kommt.

Aber der Senat unterstützt dies doch schon mit Überbrückungshilfen.

Kruse: Ich will nicht sagen, dass der Senat nichts tut. Aber wenn Sie mit den Betroffenen sprechen, stellen sie fest: Alle vier Wochen wird ein neues Hilfsprogramm aufgelegt, aber die Hilfsprogramme sind nicht aufeinander abgestimmt. Ein konkreter Fall: Eine Gastwirtin berichtete mir, sie wollte eigentlich Miete erlassen bekommen von ihrem städtischen Vermieter, verzichtete aber darauf, weil sie dann eine andere Corona-Hilfe von der Stadt nicht bekommen hätte. Perspektivisch ist noch etwas anderes wichtig.

Nämlich?

Kruse: Die Menschen wollen nach 14 Monaten Pandemie endlich wieder normal ihrem Job nachgehen, etwa in der Gastronomie. Für Planungssicherheit zu sorgen, ist Aufgabe des Senats. Er muss einen Sommer der Chancen begründen. Wir sollten die Unternehmen einfach mal eine Zeit lang in Ruhe wirtschaften lassen. Ich kenne Firmen, die Steuerprüfungen von der Steuerverwaltung bekommen, weil sie 2020 drastische Umsatzeinbrüche hatten. Etliche Firmen und Selbstständige, die in der Pandemie in Not geraten sind, sehen sich auch mit Prüfungen zur Sozialversicherung konfrontiert. Mein Vorschlag: In den von der Corona-Maßnahmen besonders betroffenen Branchen lassen wir die Unternehmen anderthalb Jahre lang ohne Prüfungen ihre Arbeit machen und geben ihnen so den Freiraum, den sie brauchen.

Sie haben gesagt, die FDP müsse auch in Stadtteilen wie Billstedt, wo ihr „bisher nicht die Herzen zufliegen“, Wählerstimmen gewinnen. Wie soll das gelingen?

Kruse: Wir kommen in diesen Stadtteilen mit unseren Botschaften sehr gut an, müssen dort aber mehr kommunizieren. Bei einer Podiumsdiskussion vor einigen Jahren in Dulsberg habe ich zu Jugendlichen gesagt: Wir wollen, dass ihr Chefs eures eigenen Lebens werdet, dass ihr die Chancen dazu bekommt. Hinterher kamen etliche zu mir und fragten: Wie kann ich das denn schaffen? Es gibt Kinder in Hamburg, die diese Botschaft noch nie gehört haben. Wir als FDP wollen Selbstvertrauen vermitteln. Wir haben unseren Landesvorstand heterogener aufgestellt. Dazu gehört etwa Hadi Al-Wehaily, der aus Billstedt kommt, ein junges Talent. Über Persönlichkeiten mit migrantischen Lebensläufen wollen wir in die Stadtteile hineinwirken.

Die FDP hat die Ausgangssperre und andere Grundrechts-Einschränkungen wegen der Corona-Pandemie massiv kritisiert. Irritiert Sie die Nähe zur AfD bei solchen Positionen?

Kruse: Wir setzen uns dafür ein, dass Freiheitsrechte nur insoweit eingeschränkt werden, wie es unbedingt notwendig und sinnvoll in Pandemiezeiten ist. Es ist etwa nicht gefährlich, wenn ich um 21.30 Uhr spazieren gehe. Der Staat darf nicht Pauschalmaßnahmen ergreifen in der Hoffnung, dass irgendetwas wirkt. Der Staat muss passgenaue Maßnahmen auswählen und gut begründen. Wir sind eine Partei, die die Bürgerrechte sehr ernst nimmt. Das tun wir auch dann, wenn Parteien, deren Haltung wir ablehnen, zufällig auf der gleichen Position sind.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Welche Machtoption hat die FDP im Bund?

Kruse: Vor vier Jahren sind wir aus der außerparlamentarischen Opposition gekommen und waren dann in Sondierungsgesprächen mit Personen, bei denen Vertrauen in eine gemeinsame Zusammenarbeit gegenseitig nicht gegeben war. Jetzt sind wir in einer anderen Situation. Die Menschen sind sehr müde von der artikulierten Alternativlosigkeit einer Großen Koalition, die nur die Gegenwart verwaltet. Die wahrscheinlichste Option ist derzeit eine Jamaika-Koalition. Für uns ist es wichtig, dass wir so stark werden, dass ohne uns eine vernünftige Koalition aus der Mitte heraus nicht gebildet werden kann.

Das ist die klassische Rolle der FDP als Mehrheitsbeschafferin.

Kruse: In einer Situation, in der die klassischen Volksparteien aufhören, eine starke Bindungswirkung zu haben, ergibt sich für alle Parteien der Mitte – Union, SPD, Grüne und FDP -, dass man nicht vorschnell irgendwelche Bündnisse ausschließt, sondern durch faires Verhalten im Wahlkampf dafür sorgt, dass man mit den Konkurrenten auch nach der Wahl eine Basis für mögliche Zusammenarbeit hat. Die Vertrauensbasis insbesondere zwischen FDP und Grünen war 2017 nicht gegeben. Das ist heute anders, weil sich die Partei immer mehr zum Realo-Kurs hin orientiert und mit Annalena Baer­bock und Robert Habeck zwei Realos zu Vorsitzenden gewählt hat.

Müssen wir Sie so verstehen, dass der Eintritt der FDP in eine von einer Bundeskanzlerin Annalena Baerbock geführte Bundesregierung für Sie vorstellbar ist?

Kruse: Ich äußere mich heute nicht dazu, wer neuer Kanzler oder neue Kanzlerin wird. Für mich ist nur wichtig: Wir schließen als FDP keine Koalition mit einer der genannten Parteien aus.

Ist die Tür für ein Bündnis mit SPD und Grünen in Wahrheit schon zugeschlagen nach dem klaren Nein der FDP zu Steuererhöhungen?

Kruse: Nein, die Tür ist nicht zugeschlagen, aber ich würde mir bei der SPD mehr eine Linie wünschen, die der Hamburger SPD folgt als den beiden Bundesvorsitzenden.

Kanzlerkandidat der SPD ist Ex-Bürgermeister Olaf Scholz, der die Hamburger SPD im letzten Jahrzehnt stark geprägt hat.

Kruse: Ja, das ist so. Ich betrachte mit etwas Verwunderung, dass die politische Linie von Herrn Scholz auf Bundesebene eine ganz andere ist als damals in Hamburg. Ein guter Ratschlag für ihn wäre, wieder stärker den Kurs zu vertreten, mit dem er Hamburg regiert hat und hinter dem er stehen kann. Das sehr linke Programm der SPD, das er neuerdings – nicht wirklich überzeugend – vertritt, ist nicht geeignet, große Gruppen von Menschen vor allem in der Mitte anzusprechen.

2017 holte die FDP bei der Bundestagswahl 10,8 Prozent der Zweitstimmen in Hamburg. Welches Ziel haben Sie 2021?

Kruse: Wir wollen zwei Bundestagsmandate erhalten. Nach einer Mini-Wahlreform müssen es diesmal etwas mehr als die 10,8 Prozent, etwa elf Prozent, sein. Wir wollen deutlich zweistellig werden.

Auch in Hamburg ist die FDP offenbar vor allem interessant für Männer – der Anteil der Frauen an ihren 1667 Mitgliedern liegt bei nur 19 Prozent. Wie wollen Sie das ändern?

Kruse: Wir sind nicht für eine Quote. Das neue Parteipräsidium ist mit drei Frauen und drei Männern paritätisch besetzt, ebenso die aussichtsreichen Bundestags-Kandidaturen, was mir wichtig ist. Das zeigt, dass Frauen in der FDP gut in Führungspositionen kommen können. Wenn wir als Partei die eine Lösung schon gefunden hätten, dann hätten wir sie schon umgesetzt. Wir haben in den vergangenen acht Jahren weibliche Parteispitzen gehabt, das hat an der Zusammensetzung der Mitgliedschaft nichts geändert. Wir werden die schon bestehende AG „Female Agenda“ verlängern, um die Attraktivität unserer Partei für Frauen weiter zu steigern.