Hamburg. Der renommierte Wissenschaftler Gerhard Scheuch spricht über Corona-Mythen. Es gebe aber auch unterschätze Gefahren.

Der Aerosol-Forscher Gerhard Scheuch kennt sich aus in der Welt der kleinsten Teilchen – und Viren sind es, die die Welt seit Monaten in Atem halten. Der Ex-Präsident der Internationalen Gesellschaft für Aerosolforschung spricht über übertriebene Ängste, unterschätzte Gefahren – und warum er trotzdem Optimist ist.

Hamburger Abendblatt: Der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda erklärte Ende Oktober: „Gehen Sie in die Oper oder in die Elbphilharmonie – da sind Sie sicherer als zu Hause“. Kurz darauf hat Hamburg alle Kultureinrichtungen geschlossen – bis heute. Wer irrt?

Gerhard Scheuch: Brosda hat völlig recht gehabt. Alle unsere Untersuchungen zeigen, dass das Infektionsrisiko in großen Räumen sehr gering ist. Das gilt übrigens auch für Restaurants: Dort waren die Menschen im Herbst sicherer als zu Hause, dort gab es Lüftungsanlagen, man hat Abstand gehalten, Masken getragen und für die Nachverfolgung Namen erfasst. Zu Hause entfällt das alles. Die Zahlen des Robert-Koch-Instituts bestätigen: Die meisten Infektionen finden im privaten Umfeld statt.

Lesen Sie auch:

Deshalb gelten hierzulande seit Monaten Kontaktbeschränkungen ...

Scheuch: Auf den Intensivstationen liegen nun sehr viele Menschen, die in schwierigen Verhältnissen wohnen. Wer zu acht in einer Zweizimmerwohnung lebt, hat ein ganz anderes Risiko zu erkranken. Da kann man sich nicht wie im Einfamilienhaus aus dem Weg gehen. Deshalb sind Wohnheime und Alten- wie Pflegeheime Hotspots geworden. Sie hätten wir besser schützen müssen. Als Aerosolforscher hatten wir schon im vergangenen Jahr den Einbau von Luftfiltern gefordert.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Auch soziale Brennpunkte sind besonders betroffen.

Scheuch: Ja, auch das ist kein Wunder. Wenn ich in einem 27-stöckigen Hochhaus lebe, werden die Fahrstühle zur Ansteckungsquelle Nummer 1. Dem können sie kaum entkommen. Es dauert extrem lang, bis eine Aerosolwolke einen Fahrstuhl verlässt. Wir vergessen immer diese kleinen Räume und dass es eben nicht darauf ankommt, einen Virusträger persönlich zu treffen. Aerosole sind tückisch. Man kann sich im Büro infizieren, wenn vorher jemand anders dort gearbeitet oder geputzt hat. Auf der anderen Seite: In der Oper, im Theater oder an der frischen Luft ist man sicher. Das Musical-Theater der „König der Löwen“ etwa hat ein Raumvolumen von 27.000 Kubikmetern, was soll denn da passieren?

Wenn neben mir ein Infizierter sitzt, wahrscheinlich eine Menge …

Scheuch: Er muss ihnen mindestens ins Gesicht husten. Ich weiß sonst nicht, wie die direkte Kontaktinfektion funktionieren soll. Viren haben keine Beine, sie müssen an ihre Schleimhäute, besser noch in die Lunge. Ich bin Aerosolforscher und da glaube ich: Die aerogene Übertragung, also das Einatmen, ist die Hauptübertragung. Da helfen uns nur große Räume – und das Freie.

Also hoffen Sie auf den Frühling?

Scheuch: Ja, das Frühjahr wird uns enorm helfen – so wie im vergangenen Jahr. Deshalb sinken schon jetzt die Zahlen. Das hat mit der Notbremse wenig zu tun: Auch die Zahl der Intensivpatienten sank bereits, bevor die Notbremse wirken konnte. Das hat einen einfachen Grund: Die Menschen reagieren, bevor Maßnahmen in Kraft treten: Das Verhalten des Einzelnen ist der Treiber der Infektion. Ich wohne in einem kleinen Dorf. Als die Pandemie begann, wurde dort zunächst weitergefeiert – bis plötzlich vier Bewohner erkrankten. Danach waren die Straßen auf einen Schlag leer. Irgendwann ging das Feiern wieder los, bis zur nächsten Infektion. Das erklärt die Wellenbewegung. Diese Pandemie läuft chaotisch ab, sie lässt sich am ehesten mit einem Vogelschwarm vergleichen, in dem ein Vogel nur seine direkten Nachbarn im Blick hat. Unser Verhalten entscheidet, nicht die Politik. Deshalb lässt sich die Pandemie auch nicht seriös vorhersagen.

Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:

  • Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
  • Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
  • Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
  • Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
  • Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).

Gerade das wünscht man sich von der Wissenschaft …

Scheuch: Aber das kann sie nicht, wir können nur Hypothesen aufstellen, sie belegen oder widerlegen. Als Forscher muss man sich immer infrage stellen. Wir können uns der Wahrheit nur annähern. Das reicht vielen nicht. Da werden wir in dieser Pandemie gerade in eine schwierige Rolle gezwungen. Eigentlich wissen wir nur eins: Draußen kann man sich kaum anstecken. Also gehen wir raus!

Hamburg hat eine Maskenpflicht im Freien am Wochenende verhängt. Was halten Sie davon?

Scheuch: Das ist absurd. Das hält die Leute noch vom Joggen ab. Wir müssen Kontakte beschränken, aber das Wort Ausgangssperre suggeriert: Draußen ist es gefährlich! Menschen bekommen ein schlechtes Gewissen oder gar Angst, weil sie an der Elbe spazieren gehen. Das ist falsch. Statt „Ausgangssperre“ hätten wir besser von einem „absoluten nächtlichen Kontaktverbot“ gesprochen.

Egal, wie wir es nennen: Hamburgs Inzidenz hat sich in den vergangenen Wochen besser entwickelt als anderswo …

Scheuch: Das ist kein Beweis! Das kann auch am Wetter liegen. In der Schweiz gehen die Zahlen auch runter, obwohl dort sogar geöffnet wurde.

Was halten Sie von Kontaktbeschränkungen im Mannschaftssport im Freien. Können Sie die als Aerosolforscher nachvollziehen?

Scheuch: Nein, wir sollten Sport im Freien komplett und sofort erlauben. Alles was dazu führt, dass die Menschen an die frische Luft gehen, ist positiv. Es hilft, die Inzidenzen zu senken. Vielleicht steckt sich der ein oder andere dabei auch an, aber es werden viel weniger sein als zeitgleich in Innenräumen.

Warum hören wir eigentlich so wenig auf die Aerosolforscher?

Scheuch: Die Angst bestimmt die Debatte. Jede andere Meinung steht schnell unter Verdacht: Ich habe im letzten Frühjahr einen Shitstorm abbekommen, weil ich das Schließen der Spielplätze kritisiert habe – da war ich für manche sofort ein Corona-Leugner. Dabei wollen wir alle das Gleiche: die Inzidenzen senken. Ich möchte das aber wissenschaftlich fundiert machen, nicht mit dem Holzhammer. Wir müssen Innenräume sicher machen, da plädiere ich im Übrigen eher für Verschärfungen.

Wo denn?

Scheuch: In allen kleinen geschlossenen Räumen, auf Toiletten, in Fahrstühlen und im Pkw: In Schweden, das zeigen Daten, erkrankten Fahrlehrer, Taxifahrer und Busfahrer besonders häufig an Corona. Das Auto ist offenbar nicht sicher, da habe ich mich geirrt.

Dann war das Maskengebot des Hamburger Senats im Auto richtig …

Scheuch: Ja, absolut! Ich möchte ohnehin die Politik einmal verteidigen: Sie hat im vergangenen März richtig reagiert. Ich fürchte nur, dass sie sich nun immer mehr von Angst leiten lässt. Die Herausforderung ist aber, die Maßnahmen zurückzunehmen – die Politik muss ins Risiko.

Gerhard Scheuch hat einen Podcast auf youtube