Hamburg. Die pflegebedürftigen Menschen mussten aus der Residenz Groß Flottbek im Eiltempo ausziehen. Nun suchen sie nach Antworten.

Es ist eine Geschichte, die fassungslos macht: Mitten in der Corona-Zeit wurden 34 alte beziehungsweise pflegebedürftige Menschen aus der Seniorenresidenz Groß Flottbek am Müllenhoffweg buchstäblich auf die Straße gesetzt. Und: Da die endgültige Kündigung für Ende März erst im Januar ausgesprochen wurde, mussten die Auszüge und die Suche nach einer neuen Bleibe Hals über Kopf erfolgen. Die Folge war unsäglicher Stress für die Betroffenen und ihre Angehörigen.

„Hier haben sich Dramen abgespielt“, sagt Sabine Witte, deren betagte und demenzkranke Mutter in dem Heim untergebracht war und die zusätzlich ehrenamtlich noch zwei weitere Bewohner betreut. „Ich habe selbst gesehen, wie ein Mann mit Weinkrämpfen in einen Krankentransporter geschoben wurde“ berichtet Witte. „Es war so schlimm, dass ihn der Fahrer erst gar nicht transportieren wollte.“

Schock für Bewohner: Seniorenresidenz kündigt plötzlich

Hans-Jürgen Weidler, von einem schweren Schlaganfall gezeichnet, aber geistig topfit, hatte gerade erst einen Vertrag für eine Kurzzeitpflege unterschrieben. „Ich lebe seit 1963 in Groß Flottbek, hier wohnen meine Freunde und Bekannten“, sagt der 81-Jährige. „ Ich wollte unbedingt in der Gegend wohnen bleiben und hatte mich in der Residenz wohlgefühlt. Dann dieser Schock.“ Weidlers Betreuerin Kristina Niehenke schüttelt verärgert den Kopf: „Schlimm, wie man mit uns umgesprungen ist.“

Treffen mit Witte, Weidler und anderen Betroffenen vor der seit Ende März geschlossenen Residenz am Mül­lenhoffweg. Die beiden miteinander verbundenen Villen wirken verödet und renovierungsbedürftig. Die sympathische Gruppe plaudert wie bei einem Familientreffen, aber alle sind immer noch traurig, wütend und ratlos. Geschichten und Gerüchte machen die Runde, und über allem steht die Frage, wie es so weit kommen konnte. Zum Hintergrund.

Lesen Sie auch:

Träger Convivo hatte monatelang mit Pächter verhandelt

Dem plötzlichen Auszug war eine monatelange Hängepartie vorausgegangen, die letztlich in einem großen Knall endete. Träger der Seniorenresidenz Groß Flottbek war das Unternehmen Convivo mit Sitz in Bremen, das bundesweit erfolgreich Senioreneinrichtungen betreibt. Wie Britta Lühring von der Abteilung Marketing und Vermarktung mitteilt, habe Convivo das Pachtverhältnis bereits im Mai 2020 ordnungsgemäß gegenüber der Eigentümerin des Hauses zu Ende März 2021 gekündigt.

Da dann von deren Seite Interesse an einer Neuregelung signalisiert worden sei, habe sich Convivo auf ein „strukturiertes Transaktionsvorhaben“ eingelassen. Im Klartext: Man verhandelte weiter über eine Möglichkeit, den Weg doch noch irgendwie gemeinsam fortzusetzen. Die Verhandlungen zogen sich dann durch das gesamte Jahr 2020.

Convivo wird von den Bewohnern in Schutz genommen

„Im weiteren Verlauf hat sich die Verpächterin dann entschieden, auch andere potenzielle Partnerinnen und Partner und Interessierte anzusprechen“, so Lühring. Erst spät habe sich abgezeichnet, dass keine Einigung zustande kommen würde. Lühring: „Letztlich haben wir Mitte Dezember 2020 im Interesse der Bewohnerinnen und Bewohner handeln müssen und begonnen, den Betrieb abzuwickeln.“ Benno Fischer, bei Convivo für Vertragsgestaltung zuständig, wird deutlicher: „Irgendwann mussten wir die Reißleine ziehen. Das alles war auch für uns maßlos enttäuschend.“

Dass Kündigung und Umzüge dann sehr kurzfristig ablaufen mussten, bestätigt Britta Lühring. „Wir bedauern das und hätten uns für die Bewohnerinnen und Bewohner und auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine bessere Situation gewünscht.“

Bekannt gegeben wurden die Kündigungen am 14. Januar – mit der Maßgabe, dass das Haus bis zum 31. März frei zu sein habe. Immerhin bot Convivo allen Bewohnerinnen und Bewohnern, darunter zehn an Demenz Erkrankten, sofortige Übernahmen in andere konzerneigene Häuser an. Überhaupt wird das Unternehmen von den Geschädigten nicht angeschuldigt, sondern eher in Schutz genommen.

Umzüge erfolgten unter großem Zeitdruck

Doch nicht alle durchgespielten Möglichkeiten passten, weil beispielsweise die Entfernungen für die Angehörigen beziehungsweise Betreuer zu groß war. Unter großem Zeitdruck mussten die Umzüge erfolgen, Besichtigungen der neuen Umgebung waren in der Regel wegen der Corona-Vorschriften gar nicht möglich.

Als Folge sind die Mitglieder der einstigen Gemeinschaft jetzt in alle Winde verstreut – einige leben in Stellingen, andere in Kappeln, wieder andere in Bad Segeberg. „Das war mal hier wie eine große Familie“, sagt Melanie Elvers, die fast acht Jahre in der sozialen Betreuung im Haus gearbeitet hat und nun gekündigt ist. „Davon ist nichts mehr geblieben.“

Herzzerreißende Szenen müssen sich an den Umzugstagen abgespielt haben. „Ich bin sicher, dass in diesem Haus noch nie so viele Tränen geweint wurden wie in diesen zehn Wochen“, sagt Sabine Witte. „Viele waren wirklich verzweifelt“, berichtet Dietlind Röhrl, neun Jahre beliebte „Küchenfee“ im Haus.

Bezirksamt Altona vertröstete die Bewohner

„Für einen Bewohner war es sogar der Wechsel nach 20 Jahren.“ Und Andrea Schmid aus der Verwaltung sagt: „Viele haben hier einfach sehr gerne gewohnt, und nun kam dieser zwangsweise Umzug ins Ungewisse.“ Hätte die Wohn-Pflege-Aufsicht (umgangssprachlich: Heimaufsicht) des Bezirks nicht einschreiten müssen? Laut Sabine Witte hätten mehrere Betreuer beim Bezirksamt Altona Alarm geschlagen, seien aber nur vertröstet worden. Nachfrage beim Amt.

„Die Wohn-Pflege-Aufsicht des Bezirksamts hatte Kenntnis von der Kündigung der Seniorenresidenz“, sagt Sprecher Mike Schlink, es habe jedoch seitens der Aufsicht keine Handhabe bestanden, die Schließung zu verhindern. „Drei Angehörige beziehungsweise Betreuer, die die Schließung gerne verhindert hätten, wurden von einem Mitarbeiter der Sozialbehörde und einer Mitarbeiterin des Bezirksamts über die Rechtslage informiert“, so Schlink.

Seniorenresidenz kündigt Bewohnern: Stadt in der Verantwortung?

„Unabhängig davon musste die Aufsicht nicht weiter tätig werden, da sich die Einrichtungsleitung bereits aktiv darum gekümmert hat, dass alle Bewohnerinnen und Bewohner anderweitig untergebracht werden.“ Zum Teil hätten sich Bewohnerinnen und Bewohner auch schon frühzeitig um eine alternative Unterbringung gekümmert.

In der Tat hatten Andrea Schmid und einige Kolleginnen bereits auf eigene Faust im Interesse der Bewohnerinnen und Bewohner bei anderen Einrichtungen herumtelefoniert. „Aber entbindet das die Stadt davon, sich einzuschalten?“, fragt Sabine Witte. „Das kann’s ja wohl nicht sein.“