Hamburg. Die Zentrale in Rotherbaum war mächtig wie eine Ordensburg. Nun wurde an der Schlützerstraße der letzte Postdienst geschlossen.

Der Anrufer dreht mit Schwung den Kurbel­induktor an seinem Fernsprechapparat. Die Rotation schickt Wechselstrom zur Zentrale. Der Impuls deaktiviert einen Elektromagneten an einem Klappenschrank, eine metallische Klappe löst sich, und ihr Fall macht das „Fräulein vom Amt“ auf den Verbindungswunsch aufmerksam.

Der nun folgende Beispieldialog ist in der Dienstanweisung der Reichs­telegraphenverwaltung vorgeschrieben: „Hier Amt, was beliebt?“ – „Wünsche mit Nummer 44 zu sprechen.“ – „Schon besetzt, werde melden, wenn frei.“

Telefonzentrale mit Hauptfront im wilhelminischen Stil

Das kaiserzeitliche Hightech mit Kurbel und Klappenschrank passt perfekt ins architektonische Ambiente: Das Gebäude Schlüterstraße in Rotherbaum, von 1902 bis 1907 von der Reichspost als Zentralfernsprechamt für Hamburg errichtet, steht in stadtbildprägender Behördenwürde für einen traditionsgestützten Aufbruch in die moderne Zeit.

Telefonistinnen bei der Arbeit im Jahr 1907
Telefonistinnen bei der Arbeit im Jahr 1907 © Bildarchiv Hamburg 1860 bis 1955 | Bildarchiv Hamburg 1860 bis 1955

Die symmetrisch gegliederte Hauptfront im wilhelminischen Stil ist mit 138 Metern breiter als die Fassade des Rathauses. „Mächtig wie eine Ordensburg, das Backsteinmauerwerk durch Sandstein neugotisch gegliedert, inszeniert das Amt die neue Kommunikationstechnik und die kaiserliche Reichspost“, schwärmt etwa der Kunsthistoriker Hermann Hipp in seinem klassischen Kulturführer durch die Freie und Hansestadt.

Künftig im Dienst der Geistes- und Sozialwissenschaften

Jetzt, 112 Jahre nach der Fertigstellung, wartet ein weiterer Wandel auf das ehrfurchtgebietende Bauwerk: Nach den Vorstellungen von Senat und Universität soll die Kommunikationskathedrale künftig mit Büro, Seminarräumen und Laboren neuen Zwecken der Geistes- und Sozialwissenschaften dienen.

Umbau und Umwidmung wollen die hohen Ansprüche des Architekten bewahren: Der Geheime Baurat Paul Otto Richard Schuppan hatte zuvor das Posthaus auf Helgoland errichtet, die Oberpostdirektion am Gorch-Fock-Wall erweitert und das Hauptpostamt am Hühnerposten markant ins Stadtbild gestellt. Fast gleichzeitig entstanden um die Alster weitere Highlights der Stadtarchitektur: das majestätische Völkerkundemuseum an der Rothenbaumchaussee, das kuppelgedeckte Vorlesungsgebäude der Universität an der Edmund-Siemers-Allee und die Hauptsynagoge am Bornplatz. Am anderen Ostufer thronen bis heute Hauptbahnhof und Kunsthalle in republikanischer Souveränität über dem ehemaligen Stadtwall.

Uni-Präsident Dieter Lenzen mit Senatorin Katharina Fegebank bei der Pressekonferenz zum Campus Schlüterstraße.
Uni-Präsident Dieter Lenzen mit Senatorin Katharina Fegebank bei der Pressekonferenz zum Campus Schlüterstraße. © THORSTEN AHLF / FUNKE FOTO SERVICES | Thorsten Ahlf

Wie diese Leuchttürme der modernen Stadtentwicklung wirkt das Fernsprechamt über Hamburg hinaus. Ihm sind die Telefonanschlüsse in Altona, Wandsbek und Schiffbek angeschlossen, die mit Hamburg eine wirtschaftliche Einheit bilden. Deshalb ist der Standort so gewählt, dass alle Gebiete im Umkreis von höchstens fünf Kilometern liegen. Und bald wird die Freie und Hansestadt von hier aus in Sekunden mit der ganzen Welt verbunden sein.

Den Bauplatz kaufte die Reichspostverwaltung 1901 von der Stadt für 857.000 Mark. Die 11.430 Quadratmeter kosten je knapp 75 Goldmark. Heute wären das etwa 523 Euro. Aktuell ist in der Gegend mindestens das Zehnfache zu zahlen. Die Investition zeugt von wirtschaftspolitischer Weitsicht, denn am Anfang ist das Telefon noch ein Instrument für wenige Interessenten. Die ersten Ortsnetze, die seit 1881 in Hamburg, Berlin, Breslau, Frankfurt am Main, Köln, Mannheim und München entstehen, zählen jeweils nur ein paar Hundert Teilnehmer.

Das „Fräulein vom Amt“ waren zunächst Herren

An den Klappenschränken sitzen anfangs ausschließlich technikaffine Herren. Das „Fräulein vom Amt“ setzt sich erst durch, als klar wird, dass die hellen Frauenstimmen dank ihrer höheren Frequenzen besser zu verstehen sind als das männliche Gebrömm. 1887 können Hamburger auch mit Berlin, 1888 mit Dresden, 1894 mit Frankfurt am Main und 1900 mit Paris telefonieren.

Verstärkerämter verbessern die Sprach- und Trägerfrequenzsignale in den durchweg oberirdischen Fernleitungen. Der superstrenge Winter von 1909 knickt durch Schnee, Sturm und Eis so viele Masten, dass sich das Telefonnetz in unterirdische Weitverkehrskabel flüchtet.

„Fernmeldeamt 1 Hamburg“ war das größte der Welt

Das „Fernmeldeamt 1 Hamburg“ ist das größte der Welt: Nicht London, nicht New York und auch nicht Berlin können ihm damals den Rang ablaufen. Außerdem ziehen das Postamt „Hamburg 13“ und 1910 dann auch noch die Vermittlungsämter I und Ia für den Ortsverkehr ein.

Noch mehr Hightech bringt Norddeutschlands erster Radiosender in den Prachtbau: Am 2. Mai 1924 geht im dritten Stock der Nordische Rundfunk ­(NORAG) auf Sendung. Maschinen- und Akkumulatorenraum liegen im zweiten Obergeschoss, der Aufnahmeraum ist in einem Seitenflügel untergebracht. Erst sieben Jahre später siedeln die Radiomacher in das neue Funkhaus an der Ro­thenbaumchaussee um.

Weitgehend durch Bomben zerstört

1943 zerstören Bomben große Teile des städtebaulichen Schmuckstücks. Nach dem Krieg fügen britische Besatzer Abhöranlagen ein, um Nazis aufzuspüren. Im Kalten Krieg werden die Überwachungsmaßnahmen auf Spione, Agenten und politische Sympathisanten des Ostblocks weitergeführt.

Die nötigen Eingriffe in das deutsche Post- und Fernmeldegeheimnis werden von den Alliierten Anfang der 50er-Jahre nach den Verhandlungen über die Souveränität der Bundesrepublik gesetzlich verankert. In zwei Räumen hören Geheimdienstmitarbeiter Tag und Nacht zu, was sich Nazis und Kommunisten am Telefon zu erzählen haben.

2003 verzichtet die Stadt auf den Kauf des Gebäudes

2003 verkauft die Deutsche Telekom das Gebäude an eine Fondsgesellschaft des Bankhauses Wölbern: Die Stadt möchte die damals geforderten 60 Millionen Euro nicht bezahlen, denn unter Bürgermeister Ole von Beust (CDU) geht es eher um Privatisierungen zur Entlastung öffentlicher Kassen. Seit 2016 gehört das imposante Bauwerk dem Frankfurter Immobilienunternehmen Peakside Capital Advisors.

Die Value-add-Fonds der Firma kaufen Immobilien in guten Lagen mit Managementbedarf an. „Das Geld kommt von institutionellen europä­ischen Investoren, darunter auch deutsche Pensionskassen“, teilen die Manager mit. „Nach Repositionierung und Vermietung werden die Objekte weiterverkauft.“ Bislang zählen 17 Immobilien für mehr als 150 Mio. Euro zum Portefeuille. Die Renditen liegen teils über 50 Prozent.

Letzte Postfiliale schloss am 13. April

Im Mai 2019 wird bekannt, dass die Stadt den markanten Prachtbau von 2023 an für 30 Jahre mieten will, um ihn für den Fachbereich Psychologie, den Forschungsschwerpunkt „Unterstanding Written Artefakts“ und mehrere Kollegforschergruppen zu nutzen. Die Gesamtkosten sollen sich auf 440 Millionen Euro belaufen.

Die letzte Service-Einheit, eine Postbank-Filiale, schloss am 13. April. Wenn alles klappt, untersuchen an der Schlüterstraße künftig Forscher „die Entwicklung und Funktionen von Schriftartefakten in Manuskriptkulturen weltweit“, von den Anfängen im alten Mesopotamien bis ins digitale Zeitalter. Dann wird der einstige Redetempel zu einer vielsprachigen Schrift-Stelle.