Hamburg. Bäume und Parks prägen das Stadtbild. Aber der Wohnungsbau führt zu immer mehr Versiegelung. Nun steht eine Grundsatzentscheidung an.
Es gibt einen Namen, auf den sie in der Hamburger Umweltbehörde derzeit mit einer mittelschweren Allergie reagieren: Sandro Kappe. Denn der 35-Jährige, der ihn trägt, treibt die Mitarbeiter des grünen Senators Jens Kerstan nahezu in den Wahnsinn, seit er 2020 für die CDU in die Bürgerschaft eingezogen ist und den Bereich Umweltpolitik übernommen hat.
Jeden Monat stellt der Bramfelder Abgeordnete Dutzende Kleine Anfragen zu Baumfällungen, Grünpflege oder Gewässern. Mit seiner politischen Hyperaktivität habe Kappe bisweilen ganze Abteilungen lahmgelegt, heißt es entnervt aus dem bunten Behördenbau an der S-Bahn-Station Wilhelmsburg.
Hamburger Senat in Erklärungsnot
Das Engagement des rührigen CDU-Manns trifft den Senat dabei vermutlich gleich doppelt. Erstens machen die Anfragen viel Arbeit – denn sie müssen nach Rechtslage stets binnen acht Tagen beantwortet werden. Und zweitens zwingt Kappe die Kerstan-Behörde immer wieder zu Antworten, die nicht optimal in das PR-Konzept der „Grünen Metropole am Wasser“ passen.
So hat er gezeigt, dass es um den Baumbestand längst nicht mehr so gut steht, wie der Senat bisweilen glauben machen will – und dass mitnichten alle Fällungen einheitlich dokumentiert und alle Bäume ersetzt werden, die Wohnungsbau oder Radwegen weichen müssen. Er zwang die Stadt auch zum Eingeständnis, dass es weniger Geld für Grünpflege gibt als benötigt – und dass die Regierenden gar nicht so genau wissen, wie stark die Versiegelung der Stadt in den vergangenen Jahren zugenommen hat, wie sehr also das Grün dem Grau weichen musste.
Noch ist Hamburg die grüne Vorzeigestadt
Mit seinem Fragenbombardement weist Kappe indirekt immer wieder auf den zentralen Zielkonflikt der Stadtentwicklungspolitik hin, um dessen Auflösung gerade in diesen Tagen auch in Senat und Bezirken hart gerungen wird: Einerseits ist Hamburg auch aufgrund seines grünen Charakters eine so lebenswerte Stadt, und das soll auch so bleiben. Andererseits aber wächst die Bevölkerung seit Jahren – und für mehr Menschen braucht man mehr Wohnungen, Schulen, Verkehrs- und Gewerbeflächen oder Feuerwachen. Und für die benötigt man Platz und muss angesichts feststehender Landesgrenzen bisweilen eben auch Grünflächen oder Bäume opfern.
Noch leben die Hamburger in einer knallgrünen Vorzeigestadt: in einer Metropole, in der der Programmierer beim Abendspaziergang unter den majestätischen Linden des Hirschparks Bits und Bytes vergisst, die Ingenieurin im Niendorfer Gehege in der Mittagspause das Verhalten der Rehe erforscht und Menschen aus aller Welt und jeden Alters auf den weiten Wiesen des Stadtparks gegeneinander Fußball spielen.
Zehn Prozent von Hamburgs Landesfläche unter Naturschutz
Wo im Eppendorfer Moor, dem größten innerstädtischen Moor des Kontinents, bunte Libellen zum Quaken der Frösche in der Sonne tanzen und sich auf dem Rasen des Alstervorlands Studenten mit Blick auf die Segler beim Frühlingsnickerchen von der frühen Vorlesung erholen – während einen Hauch weiter westlich distinguierte Damen kurz mit dem Labrador innehalten, um aus der sauber gestutzten Natur des Jenischparks heraus die auf der Elbe vorbeiziehenden Containerriesen in Augenschein zu nehmen. In welcher anderen Metropole kann man sich an jeder dritten Ecke so fühlen, als habe man sich schon vor Stunden auf eine Landpartie begeben und sei der Stadt längst um viele Meilen entflohen?
Zehn Prozent der Hamburger Landesfläche stehen unter Naturschutz – mehr als in jedem anderen Bundesland. Rund 19 Prozent sind Landschaftsschutzgebiete. Die Zahl der Straßenbäume ist laut Senat mit 132 pro 1000 Einwohner höher als in allen anderen deutschen Metropolen. Insgesamt gibt es 224.000 Bäume an Hamburgs Straßen, geschätzt 600.000 in Grünanlagen und eine Million auf Privatgrund. Hinzukommen 5363 Hektar Forste mit mehr als sechs Millionen Bäumen, 2640 Hektar an Parkflächen, der weltgrößte Parkfriedhof Ohlsdorf und begrünte Ufer der acht Prozent Wasserflächen.
Bauboom könnte Grünflächen verdrängen
Zwei aus Parks gebildete Ringe ziehen sich durch die Stadt und schaffen mit zwölf Landschaftsachsen Hamburgs „grünes Netz“ (siehe Grafik). Hinzukommen rund 33.500 Kleingartenparzellen, die zwar in der Regel als Siedlungsflächen gelten, aber doch einen wichtigen Beitrag zum grünen Charakter der Stadt leisten, wie der Präsident des Bundesverbandes der Gartenfreunde, Dirk Sielmann, betont.
Aber so sehr die Menschen diese Mischung aus kultivierter Urbanität und Natur zu schätzen wissen: Was wird mit der Stadt geschehen, wenn immer mehr Menschen sie auch deswegen zu lieben und zu bevölkern beginnen? Naturschützer fürchten: Ohne klare Regelungen gebe es angesichts des Baus 10.000 neuer Wohnungen pro Jahr und wachsender Gewerbeflächen keine Garantie, dass Hamburgs grüner Charakter erhalten bleibe. Die Elbmetropole drohe immer grauer zu werden, wenn man ohne Einschränkungen pro Jahrzehnt eine weitere Großstadt in sie hineinbaue. Schon jetzt nage der Wohnungsbau an allen Ecken und Enden an den Grünflächen.
„Vertrag für Hamburgs Stadtgrün“
Um die widerstreitenden Ziele unter einen Hut zu bringen, sollen Senat, Bezirke und städtische Unternehmen jetzt einen „Vertrag für Hamburgs Stadtgrün“ unterzeichnen. Dieser ist ein Eckpunkt der Einigung zwischen der Bürgerschaft und der 2018 gestarteten Volksinitiative „Hamburgs Grün erhalten“, mit der der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) die weitere Bebauung von Grünflächen weitgehend unterbinden wollte.
In dem vor fast genau zwei Jahren am 8. Mai 2019 geschlossenen Kompromiss wurde nicht nur der Anteil von Natur- und Landschaftsschutzgebieten an der Landesfläche für die Zukunft fixiert. Es wurde auch festgeschrieben, dass Flächen des „grünen Netzes“ innerhalb des „2. Grünen Rings“, die bis Mai 2016 nicht bebaut oder „planungsbefangen“ waren, auch künftig nicht für Bauvorhaben genutzt werden dürfen. Falls dies in seltenen Ausnahmen doch geschehe, müsse als vollwertige Kompensation Grün an anderer Stelle geschaffen werden.
Aufwertung der unter Naturschutz stehenden Flächen
Der 2. Grüne Ring verläuft im Abstand von acht bis zehn Kilometern zum Hamburger Rathaus vom Jenischpark im Westen über Altonaer Volkspark, Niendorfer Gehege, Friedhof Ohlsdorf, Trabrennbahn Farmsen, Öjendorfer Park und Boberger Niederung bis zum Wasserpark Dove Elbe im Osten. Südlich der Elbe setzt er sich über Vier- und Marschlande, Neuländer See, Harburger Stadtpark, Meyers Park und über die Süderelbmarsch fort und endet am Rüschpark gegenüber dem Jenischpark.
Mit der für eine wachsende Stadt fast schon revolutionär wirkenden Einigung erklärte die Bürgerschaft 2019 weite Teile des städtischen Grüns „prinzipiell zu sakrosankten Flächen“, wie man es in der Umweltbehörde formuliert. Weitere wesentliche Punkte der Einigung: Die Hälfte der unter Naturschutz stehenden Fläche wird binnen zehn Jahren aufgewertet; die Grünpflege wird verbessert und Hamburg statt alle acht nun alle fünf Jahre kartiert; zehn Ranger sollen die Naturschutzgebiete überwachen. Und: Die Stadt soll im „Vertrag für Hamburgs Stadtgrün“ die Umsetzung aller Vereinbarungen unter den Behörden und mit Bezirken und städtischen Unternehmen festschreiben.
Bezirke hadern mit Einigung zum Schutz des Grüns
Wenngleich einige Punkte bereits umgesetzt werden, hakte es zuletzt an der wesentlichsten Stelle: Bis Anfang dieser Woche konnten sich die Beteiligten noch nicht auf den Vertrag einigen. Dabei ist er Voraussetzung dafür, dass die Absprachen von Behörden, Bezirken, Hamburg Wasser, Port Authority oder den Landesbetrieben Immobilienmanagement und Grundvermögen (LIG) oder Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG) umgesetzt werden.
Dass das Ringen um die Details fast zwei Jahre dauerte, hat wohl vor allem einen Grund: Die Bezirke fürchten, in ihrem Baurecht beschränkt zu werden – auch der Stadtentwicklungsbehörde graut vor massiven Einschränkungen für den Wohnungsbau. Konkret geht es auch um die Frage, welche Grundstücke des Grünen Netzes als „planungsbefangen“ gelten – also noch ohne Kompensation bebaut werden dürfen. Eine Liste von 40 solcher Grundstücke, der der Nabu 2019 zähneknirschend zugestimmt hatte, würden manche Beteiligte wohl gerne erweitern. Das aber lehnen die Naturschützer ab.
Der vom Nabu zuletzt erhöhte Druck scheint jedoch Wirkung zu zeigen
„Der Bürgermeister hat persönlich versprochen, die Vereinbarung voll umsetzen zu wollen“, betonte der Hamburger Nabu-Vorsitzende Malte Siegert. „Obwohl finanzielle Mittel und personelle Ausstattung zur Umsetzung deutlich gestiegen sind, fehlt nach wie vor der ‚Vertrag für Hamburgs Stadtgrün‘. Er scheint im Gerangel zwischen den beteiligten Behörden, Bezirken und stadteigenen Firmen wie Hamburg Wasser oder dem Landesbetrieb Immobilien und Gewässer festzustecken.“ Den Nabu interessierten aber keine „parteipolitischen Zickereien“, sondern „die Einhaltung gemachter Zusagen im Rahmen der Volksinitiative“, so Siegert. „Vielleicht muss der Bürgermeister, der die Bedeutung des Grüns immer wieder betont, nach zwei Jahren ein Machtwort sprechen.“
Zwar sagt das niemand offen, es liegt aber auf der Hand: Sollte die Stadt ihre Zusagen nicht halten, dürften die Naturschützer SPD und Grünen den Wortbruch auf Kosten der Stadtnatur im Bundestagswahlkampf wieder und wieder aufs Brot schmieren. Und sie könnten eine neue Volksinitiative starten. Der vom Nabu zuletzt erhöhte Druck scheint jedoch Wirkung zu zeigen. Ein hochrangig besetztes Treffen aller beteiligten Stellen, das zunächst für Mai geplant war, wurde kurzfristig auf den vergangenen Mittwochabend vorgezogen. Vorher hieß es, man sei guten Mutes, die letzten strittigen Fragen zu lösen, um den Vertrag zeitnah durch den Senat zu bringen. (Das Ergebnis lag bei Redaktionsschluss dieses Textes noch nicht vor.)
Zu wenig aktuelle Daten zur Entwicklung von Grünflächen
Bei all dem ist allerdings ein Kernproblem der gesamten Debatte noch immer ungelöst: Es gibt viel zu wenig aktuelle und vergleichbare Daten zur Entwicklung von Grünflächen und Versiegelung in Hamburg. Schon nach dem Start der Nabu-Volksinitiative hatte sich gezeigt, wie schlecht die Datengrundlage ist. Weil das Kartenmaterial oft alt oder Zahlen nicht vergleichbar sind, lassen sich kaum exakte Aussagen darüber treffen, ob und wie stark der Anteil des Grüns in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eigentlich geschrumpft ist.
Wie zuletzt in der Corona-Krise reibt man sich verdutzt die Augen bei der Erkenntnis, wie schlecht Deutschland in Sachen Datenerhebung aufgestellt ist. Während Google jeden Hamburger Garten für seine Karten schon vor Jahren aus dem All fotografiert und dabei jedes einzelne Planschbecken mit abgebildet hat, wissen Hamburgs Stadtplaner gar nicht genau, wovon sie sprechen, wenn sie über den Grünerhalt diskutieren.
Wenig belastbare Daten zur Entwicklung der Versiegelung
Das führte zu Beginn der Nabu-Volksinitiative 2018 zu einem grotesken Streit über die Faktenlage. Der Nabu behauptete, es würden 200 Hektar Grün pro Jahr für Wohnungen und Verkehr geopfert – was 400 Fußballfeldern entspreche. Die „Zeit“ rechnete dagegen vor, dass diese Behauptung wenig mit der Realität zu tun habe – aber viel mit veralteten Daten und einer Umstellung der Statistik.
Die Stadt räumt heute selbst ein, wie schlecht sie bei diesem Thema aufgestellt ist. „Die Schwachstelle der Versiegelungskarte ist das Alter ihrer Datengrundlagen“, heißt es in einer Senatsmitteilung vom Dezember 2019. „Das Ausmaß der Versiegelung wird aus der Biotopkartierung hergeleitet, deren Daten zwischen zwei und zwölf Jahren alt sind. Trotz Fortschritten in der Auswertungsmethodik ist die Differenziertheit der Versiegelungskarte vor dem Hintergrund der Möglichkeiten der Satellitentechnik nicht mehr zeitgemäß.“ Um endlich eine vernünftige Diskussionsgrundlage zu bekommen, soll die Stadt künftig alle fünf Jahre kartiert werden – und zudem „Sachstand und Veränderungen der Bodenversiegelung auf der Basis satellitengestützter Daten“ erfassen. Ergebnisse dieses neuen „Monitorings zur Entwicklung von Hamburgs Natur und Grün“ sollen erstmals bis 30. Juni 2024 und danach alle fünf Jahre vom Senat vorgelegt werden. So steht es auch in der Einigung von Bürgerschaft und Nabu aus dem Mai 2019.
Schon jetzt aber gibt es Probleme. Die Nutzung von Satellitenbildern sei nicht ohne Weiteres möglich, heißt es mittlerweile von zuständigen Beamten. Da gebe es komplizierte bürokratische Regelungen, Hamburg müsse über den Bund und die EU gehen – und die Soft- und Hardwareanforderungen für die Auswertung seien dabei enorm. Bis 2024 werde man die Probleme wohl nicht lösen. Deswegen denke man darüber nach, zunächst aktuelle Luftbilder zu verwenden – also statt Bilder von Satelliten lieber von Flugzeugen gemachte Fotos zu nutzen und diese zusammenzuschneiden.
Hamburgs Grünanteil schrumpft
Immerhin gibt es schon heute wenigstens ein paar belastbare Daten zur jüngeren Entwicklung. Und die zeigen – wenig überraschend –, dass Hamburgs Grünanteil schrumpft. So resümierte das im Auftrag der Umweltbehörde erstellte Gutachten „Bodenversiegelung in Hamburg 2017“ einen „Trend zur Abnahme der gering versiegelten Flächen und zur entsprechenden Zunahme der Flächen mit hohem Versiegelungsgrad“. Der Anteil der versiegelten Flächen an der Gesamtfläche der Stadt sei zwischen 2012 und 2017 von 36 auf 39 Prozent gestiegen – in fünf Jahren um rund 2100 Hektar.
Weitere Daten liefert die Beteiligung von Naturschutzverbänden bei Großprojekten. Der Nabu hat ausgewertet, wie viel Grün bei den Bebauungsplanverfahren verloren ging, an denen er selbst zwischen 2011 und 2016 beteiligt gewesen ist. Dabei seien 113 Grünflächen mit 246 Hektar verschwunden und 2883 Bäume gefällt worden, so der Nabu. Nicht berücksichtigt seien Verluste bei kleineren Verfahren, an denen die Verbände nicht beteiligt werden. Der reale Verlust sei also weit größer – auch wenn er derzeit nicht seriös berechnet werden könne.
Stadt verspricht oft Ausgleich, liefert diesen aber dann nicht
Hinzu kommt, dass die Stadt zwar in vielen Fällen einen Ausgleich verspricht, wenn mal wieder ein Stück Natur für den notwendigen Bau von Wohnungen oder neue Gewerbegebiete geopfert werden muss – diesen aber dann oft nicht in vollem Umfang liefert. So kam ein für die Umweltbehörde erstelltes Gutachten Anfang 2019 zu dem Schluss, dass in den analysierten Verfahren nur „55 Prozent der Ausgleichsflächen, den vorgeschriebenen Kompensationsmaßnahmen entsprechend, vollständig umgesetzt wurden“. Als eine Ursache machten die Gutachter aus, dass in B-Plänen oft nicht festgeschrieben werde, in welchem Zeitraum der Ausgleich zu schaffen sei.
Besonders viel Aufmerksamkeit erregt bei den Hamburgern das Thema Bäume: Schon eine gefällte Birke vor ihrer Tür bringt viele Menschen in dieser grünen Stadt in Rage, egal ob sie für Radwege, Wohnungen oder neue Bürgersteige weichen muss. Und hier greift auch CDU-Mann Kappe den Senat energisch an. Er moniert vor allem Schwächen der Statistik.
Baumbestand in Grünanlagen erfassten nur drei Hamburger Bezirke
Bei den Straßenbäumen arbeite der Senat je nach politischem Ziel mit zwei Statistiken, behauptet Kappe. Den Baumbestand in Grünanlagen erfassten mit Wandsbek, Hamburg-Nord und Harburg nur drei der Hamburger Bezirke – mit zuletzt unschönen Ergebnissen. Von 2015 bis 2019, so gibt es der Senat auf eine der vielen Kappe-Anfragen an, habe es in den Grünanlagen dieser Bezirke 4261 Fällungen, aber nur 2202 Nachpflanzungen gegeben. Auch Fällungen auf Privatgrund würden derzeit nur in vier Bezirken dokumentiert, so Kappe. Mit einem Bürgerschaftsantrag will der CDU-Mann durchsetzen, dass die Stadt alle Fällungen und Nachpflanzungen in einem Kataster erfasst.
„Wir brauchen endlich valide Zahlen zu gefällten und nachgepflanzten Bäumen und versiegelten Flächen“, so Kappe. Dabei gehe es auch darum, den Finanzbedarf für die Grünpflege zu ermitteln. In diesem Bereich steht nämlich derzeit zu wenig Geld zur Verfügung, wie Bezirke klagen. Auch der Senat räumte kürzlich ein Defizit ein. Das kann laut Kappe bisweilen groteske Folgen haben: Weil das Geld für die Grünpflege fehle, werde bei der Sanierung von Fuß- oder Radwegen ein früherer Grünstreifen schon mal nebenbei zubetoniert – Asphalt müsse schließlich nicht gewässert und gemäht werden, das spare Geld.
Hamburgs Grünanlagen sind „gut gepflegt“
Umweltbehördensprecher Jan Dube hält eine Statistik zu jedem einzelnen Baum für unsinnig. „An Straßen macht ein Baumkataster Sinn. Hier stehen einzelne Bäume. In Parks ist das kein sinnvolles Instrument“, so Dube. „Dort stehen Bäume häufig in Gruppen, säen sich oft von selbst aus, und eine Fällung ist in vielen Fällen eine Pflegemaßnahme, etwa wenn junge Bäume zu dicht stehen, um überleben zu können. Eine Zählung nach Pflanzungen und Fällungen hat hier nur eine bescheidene Aussagekraft.“ Hamburgs Grünanlagen seien „gut gepflegt“, so der Kerstan-Sprecher. „Straßenbäume wachsen zwischen Fußwegen, Leitungen und Fahrbahnen unter oft schwierigen Bedingungen. Hinzukamen zuletzt Stürme, Hitze, Schädlinge und Trockenstress. Dennoch ist es uns gelungen, den Schwund zu stoppen.“ Für Privatgrund gelte die Baumschutzverordnung, nach der jeder gefällte Baum ersetzt oder eine Abgabe gezahlt werden müsse.
Andererseits heißt es hinter vorgehaltener Hand selbst aus der Umweltbehörde: Insgesamt sei doch jedem klar, dass man nicht 10.000 Wohnungen pro Jahr und viele neue Rad- und Fußwege bauen und dabei jeden Baum erhalten könne. Man müsse auch die Relationen im Auge behalten, sagen selbst diejenigen, deren Herz schon qua Beruf für die Natur schlägt: „Selbst wenn über die Jahre 2000 Straßenbäumen für Radwege verschwinden, sind das gerade mal 0,03 Prozent aller geschätzt 7,8 Millionen Bäume der Stadt.“ Wer da von „Kahlschlag“ rede, überziehe maßlos.
Drei Instrumente könnten helfen
Das mag stimmen – und doch ist es auch vielen nicht in der Naturlobby engagierten Bürgern wichtig, sich gegen einen Trend zu stemmen, der Hamburg langfristig grauer machen könnte. Immerhin gibt es nun drei wesentliche Instrumente, die dabei helfen könnten. Erstens dürfte die Einigung mit der Nabu-Initiative Wirkung entfalten und Hamburgs Grün nicht nur wirksam schützen – sondern es auch qualitativ aufwerten, wie es die Bürgerschaft zugesagt hat. Dafür allerdings müssten die Verantwortlichen endlich den „Vertrag für das Stadtgrün“ unter Dach und Fach bringen.
Ein zweiter Hebel ist der sogenannte Naturcent. Dieser wurde 2016 eingeführt und sorgt dafür, dass es bei der Bebauung von Grünflächen zusätzliches Geld im Haushalt für die Pflege von Parks und Naturschutzgebieten gibt. Die Zahlung bemisst sich an der erhöhten Grundsteuer nach Bebauung.
Drittes Instrument könnte das 2017 gestartete Naturschutzgroßprojekt „Natürlich Hamburg!“ sein. Ziele des durch Bundesmittel geförderten Projekts sind „der Schutz von Natur und Landschaft in der urbanen Stadt und die Entwicklung einer vielfältigen, grünen Infrastruktur“. Schutz des Artenreichtums und „Naturerleben“ stehen dabei im Mittelpunkt.
Naturschützer fordern Ende der Einfamilienhäuser
„Hamburg ist eine außerordentlich grüne Metropole, das ist ein riesiges Plus für die Lebensqualität – und soll das auch bleiben“, verspricht Umweltsenator Kerstan. Seit 2015 sei der Baumschwund „deutlich abgebremst und das Defizit zwischen Fällungen und Pflanzungen an den Straßen fast auf null“ gesenkt worden. „Dies zu erreichen war ein Kraftakt, und der Erhalt des Bestands bleibt eine Herausforderung. Stürme, Hitze, Trockenheit und Baumkrankheiten, Straßenbau und wachsende Stadt bedeuten Stress und gefährden viele der 224.000 Straßenbäume“, so der Senator. „Der Schutz und die Pflege kosten Anstrengung und auch Geld. Wir werden alles tun, um die Bäume als lebenswichtige Ressource unserer Stadt zu schützen und zu erhalten.“ Für die Zukunft setzt Kerstan auch auf die Vereinbarung mit der Nabu-Volksinitiative, die eine „Garantie für die Qualität des Grüns“ sei.
Die Naturschutzverbände allerdings halten auch viel grundsätzlichere Veränderungen für nötig, wenn Hamburg seinen grünen Charakter erhalten will. „Der über die Dekaden aufgelaufene Grünverlust durch Bebauung, Verkehrsinfrastruktur oder Gewerbe ist gewaltig und nimmt die mehrfache Größe der Außenalster ein“, sagt Nabu-Chef Siegert. „Obwohl klar ist, dass diese unwiederbringlichen Verluste schlecht für das Stadtklima, die städtische Artenvielfalt und auch für die Erholung der Menschen sind, schreiten sie mit großen Schritten weiter voran. Selbst da, wo wie in den Mooren wertvolle Kohlenstoffsenken zerstört werden.
Das passiert vor allem beim Hamburger Teil der Autobahnen von A 26 Ost und West oder der immer noch nicht aufgegebenen Daimlererweiterung in teils intakte, artenreiche Moorflächen.“ Hamburg leiste sich zudem „in von uns kritisierten Planungen zu Wohnungsbaugebieten wie Fischbeker Rethen oder Oberbillwerder nach wie vor flächenfressende Einzelhäuser“, so Siegert. „In einer Zeit, in der politisch über die Optimierung von Fläche gesprochen wird, wirkt so ein Ansatz völlig aus der Zeit gefallen.“ Eine radikalere Wende fordert der Nabu-Chef auch beim Verkehr. „Parkte man alle in Hamburg zugelassenen 800.000 Autos auf im Schnitt elf Quadratmeter großen Parkplätzen, bedeckten diese die sechsfache Fläche der Außenalster“, so Siegert. „Dabei stehen die Pkw 95 Prozent des Tages nutzlos herum.“ Viele Verkehrsflächen könnten laut Nabu-Chef in Freizeit- und Grünflächen oder Wohnareale umgewandelt werden, wenn insgesamt weniger Auto gefahren werde.
Manfred Braasch, Landesgeschäftsführer des Bundes für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND), fordert ein „Netto-null-Prinzip“ für Hamburg: Wenn Grünflächen bebaut würden, müsse andernorts in exakt gleichem Umfang neues Grün durch Entsiegelung entstehen. Und der BUND-Chef stellt auch den Wohnungsbau infrage. „Das Dogma, 10.000 neue Wohnungen jedes Jahr zu bauen, muss fallen“, so Braasch. „Dahinter steht ein nicht zu verantwortender Flächenverbrauch.“ Es reiche nicht, „mehr Geld in vorhandene Parks zu pumpen“, sagt Braasch. „Hamburg braucht eine Entsiegelungsoffensive insbesondere für Parkplätze und andere Verkehrsflächen.“
Am Ende wird es einen Kompromiss geben müssen
Keine Einzelhäuser mehr, Reduktion des Wohnungsbaus und radikale Einschränkungen für Pkw? Es scheint eher unwahrscheinlich, dass sich für solche Forderungen dieser Tage riesige Mehrheiten finden lassen – selbst bei den Bürgern einer so grün geprägten Stadt wie Hamburg. Schon gar nicht dürften die Naturschützer mit solchen Ideen derzeit bei der Bauwirtschaft, Mietervereinen oder in der Stadtentwicklungsbehörde auf Zustimmung stoßen. Dort verhandelt Stadtentwicklungssenatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD) dieser Tage nämlich gerade das neue „Bündnis für das Wohnen“. Mit diesem erstmals 2011 geschlossenen Abkommen haben Senat, Verbände der Wohnungswirtschaft, die städtische Saga und Mietervereine dafür gesorgt, dass jedes Jahr zunächst die Voraussetzungen für den Bau von 6000 und zuletzt sogar von 10.000 neuen Wohnungen geschaffen wurden. So ist es gelungen, den Mietenanstieg in Hamburg deutlich zu bremsen.
Aber, das ist die andere Seite in diesem Zielkonflikt zwischen Wachstum und Grünerhalt: Wohnungen und die Infrastruktur für immer mehr Menschen brauchen eben Platz. Am Ende wird es einen Kompromiss geben müssen – auch zwischen den Senatoren Kerstan und Stapelfeldt, die in dem Behördenneubau in Wilhelmsburg ja ohnedies Wand an Wand arbeiten: Stapelfeldt braucht Kerstans Unterschrift unter ihrem Bündnis für das Wohnen – und er braucht ihre für den „Vertrag für das Stadtgrün“.
Hamburger schätzen ihre Stadtnatur
Mehr Grünschutz wünschen sich wohl die meisten Hamburger. Auch in der Pandemie haben sie gerade gezeigt, wie sehr sie ihre Stadtnatur schätzen – nicht nur in Parks und auf der Alster. Statt an südliche Strände zu reisen, haben sich immer mehr Menschen mit einheimischen Tieren und Pflanzen befasst – darauf deuten auch die Rekordzugriffe auf die Internetseiten etwa des Nabu.
Überraschend ist das nicht. Schon Bertolt Brecht wusste, wie wertvoll auch Stadtmenschen die nahe Natur ist. „Ich würde gern mitunter aus dem Haus tretend ein paar Bäume sehen“, ließ er einst seinen legendären Herrn K. sagen. Das war zwar kein Kürzel für CDU-Grünpapst Kappe – sondern für Herrn Keuner. Aber auch dieser Herr K. wusste bereits, dass Stadt und Natur zusammengehören. „Warum fahren Sie, wenn Sie Bäume sehen wollen, nicht einfach manchmal ins Freie?“, lässt Brecht Herrn K. befragen. Und „Herr Keuner antwortete erstaunt: ,Ich habe gesagt, ich möchte sie sehen aus dem Hause tretend.‘“