Hamburg. Peter Tschentscher hatte die Grünen bei der Bürgerschaftswahl auf Distanz gehalten. Das will die Union nun bei der Bundestagswahl versuchen.

„Von Tschentscher lernen, heißt siegen lernen.“ So krass würden es die Christdemokraten natürlich nicht ausdrücken wollen, das zeigte dann doch zu viel Bewunderung für den politischen Gegner, der der Erste Bürgermeister für die CDU-Opposition nun einmal ist. Aber ein bisschen ist es schon so.

Wer die strategische Ausgangslage der Parteien für die Bundestagswahl am Ende dieser Woche mit der dramatischen, ja beinahe selbstzerstörerischen Entscheidungsfindung für einen Kanzlerkandidaten (Union) und einem ziemlich harmonischen Pendant (Grüne) sortiert, dem fällt eine Parallele zur Bürgerschaftswahl vor gut einem Jahr auf. Damals stellten die Grünen mit Katharina Fegebank erstmals eine Bürgermeisterkandidatin auf – wie sie jetzt mit Annalena Baerbock zum ersten Mal Anspruch auf das Kanzleramt anmelden.

Lange lagen die Grünen damals in Umfragen gleichauf mit der SPD oder sogar vorn, und erst in den letzten Wochen vor der Wahl am 23. Februar 2020 konnten Tschentscher und die SPD die Stimmung zu ihren Gunsten drehen. Dabei gelang es insbesondere dem Bürgermeister, weit in bürgerlich-konservative Wählerschichten vorzudringen.

Die CDU sieht die Grünen als Hauptgegner bei der Wahl

„Wer eine grüne Bürgermeisterin verhindern will, muss SPD wählen“, lautete Tschen­tschers Botschaft, die im CDU-nahen Wählerspektrum offensichtlich aufmerksam gehört wurde. Die Christdemokraten, die angesichts des sich zuspitzenden Zweikampfs zwischen SPD und Grünen keine eigene Machtperspektive bieten konnten, sackten bei der Wahl auf den historischen Tiefststand von 11,2 Prozent ab.

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Der Lerneffekt aus dem Wahldebakel war bei der Union in dieser Woche abzulesen. Kaum hatte sich der CDU-Landesvorsitzende und Bundestagsabgeordnete Christoph Ploß von der geradezu schicksalhaften nächtlichen Sitzung des CDU-Bundesvorstands am Montag einigermaßen erholt, gab er unerschütterlich schon die Marschrichtung für die zerstrittene Union vor.

„Die Bundestagswahl wird ein harter Zweikampf zwischen der CDU und den Grünen. Mein Ziel ist es, alle bürgerlichen SPD-Wähler in Hamburg bei der Bundestagswahl für die CDU Hamburg zu gewinnen. Denn das Wahlprogramm der Grünen ist wie eine Wassermelone: außen etwas grün, innen tiefrot“, schrieb Ploß auf Twitter. In dieser Logik wäre eine Stimme für die SPD eine „verschenkte Stimme“, wie die für die CDU bei der Bürgerschaftswahl.

Ploß hat die bürgerlichen Angstmacher aus dem Wahlprogramm der Grünen schon parat

Nun ist zwar noch fraglich, ob diese Strategie gerade in Hamburg zieht, wo Rot-Grün bekanntlich mit einer komfortablen Zweidrittelmehrheit regiert, aber Ploß hat die bürgerlichen Angstmacher aus dem Wahlprogramm der Grünen schon parat: die Einführung der Vermögenssteuer, Steuererhöhungen, die mögliche Reduzierung privater Flugreisen oder die Einführung von Quoten in unterschiedlichen Bereichen.

Eine Parallele zwischen der Hamburg-Wahl 2020 und der Bundestagswahl am 26. September 2021 ist zumindest auf der Bundesebene nicht von der Hand zu weisen. Auch wenn die SPD mit Vizekanzler und Ex-Bürgermeister Olaf Scholz einen Kanzlerkandidaten aufgestellt hat, der über hohe persönliche Zustimmungswerte verfügt, liegt die Partei in den Umfragen mit deutlichem Abstand hinter CDU und Grünen. Das war auch schon der Fall, bevor sich Armin Laschet und Annalena Baerbock als Kanzlerkandidaten durchgesetzt hatten.

Grüner: „Das Modell SPD hat keine Konjunktur“

„Die Gefahr ist da, dass sich alles auf Grüne und CDU konzentriert, aber der Wahlkampf fängt erst an“, sagt ein führender Hamburger SPD-Mann. Die Sozialdemokraten sprechen sich mit der Tatsache Mut zu, dass die Wählerstimmung volatil, also schwankend sind. „Der Austausch zwischen den Lagern ist enorm groß geworden. Viele Wähler orientieren sich von Wahl zu Wahl neu: mal SPD, mal CDU, mal Grüne“, sagt der SPD-Stratege. Soll heißen: Noch ist nichts verloren. Vielleicht zieht Scholz als der erfahrenste und professionellere Kanzlerkandidat ja doch noch. Dass sich die Partei in den Umfragen bislang aus dem Keller nicht einmal ansatzweise nach oben bewegt, sehen die Genossen natürlich auch.

„Das Modell SPD hat keine Konjunktur. Zur SPD guckt niemand“, sagt ein prominenter Grüner mit Blick auf die Lage im Bund. Die Strategie der Grünen, die der unterlegene Kanzlerkandidat Robert Habeck vor drei Jahren ausgerufen hatte, sei bislang offensichtlich aufgegangen: der SPD die Rolle als führende linke Kraft streitig zu machen.

SPD: „Das positive Momentum ist eindeutig bei den Grünen“

„Das positive Momentum ist eindeutig bei den Grünen“, heißt es auch auf SPD-Seite. Als ob die guten Umfragen nicht schon für genug beste Stimmung bei den Grünen gesorgt hätten, die weitgehend reibungslos verlaufene Entscheidung für Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin und damit gegen Robert Habeck tat ein Übriges.

Und dann war da noch die Forsa-Umfrage in dieser Woche, die die Grünen mit 28 Prozent plötzlich deutlich vor der Union mit 21 Prozent sah. Allerdings folgten dann weitere Meinungsbefragungen, die das Verhältnis wieder umkehrten. Trotzdem: Das alles sind Gründe, warum die Grünen die Auseinandersetzung mit der Union vergleichsweise gelassen sehen.

Union ist auf ihren Kernfeldern geschwächt

Alle künftigen Wahlkämpfer treibt die Frage um, welche Themen Konjunktur haben werden, wenn die Bekämpfung der Corona-Pandemie nicht mehr alles andere beiseitedrückt. „Klimaschutz und der wirtschaftliche Wiederaufbau“, heißt es bei den Grünen, die sich dafür gut gerüstet sehen.

SPD und Grüne sind sich einig, dass die Union auf ihren Kernfeldern sehr geschwächt ist: Die „schwarze Null“ ist vorerst Geschichte, Steuererhöhungen sind angesichts der Pandemiefolgen wohl kaum vermeidbar, und dann steht auch noch Angela Merkel nicht mehr zur Wahl.

Und was ist mit den enttäuschten Unterstützern des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, der sich gegen Laschet nicht durchgesetzt hat? Dass die Söder-Anhänger unter den Wählern zu Rot oder Grün wechseln, ist extrem unwahrscheinlich, aber sie könnten die Mobilisierungsfähigkeit der Union schwächen.

Vor vier Jahren holte die SPD fünf der sechs Direktmandate

Die Hamburger CDU und allen voran Landeschef Ploß haben ein ähnliches Problem: Ploß und etliche andere Elb-Christdemokraten hatten sich klar für Söder ausgesprochen und müssen nun mit dem Kanzlerkandidaten Laschet Wahlkampf machen, den sie nicht wollten. Muss wohl irgendwie gehen.

„Ich erwarte jetzt von CDU und CSU, dass wir gemeinsam als Team in den Wahlkampf gehen. Wir können es uns im Wahlkampf nicht leisten, persönliche Scharmützel auszutragen“, sagte Ploß am Mittwoch im Abendblatt-Interview schon einmal vorsorglich an die Adresse seiner Parteifreunde. Immerhin: Laschet „stärkt den Zusammenhalt und verbindet eine starke Industriepolitik mit dem Erreichen der Klimaschutzziele“, so Ploß.

Nun weicht die politische Stimmung in Hamburg erheblich von der im Bund ab. Hier ist die SPD immer noch der Platzhirsch. Vor vier Jahren gewannen die Sozialdemokraten fünf der sechs Direktmandate bei der Bundestagswahl. Dieser Erfolg überdeckte aber die Tatsache, dass die SPD bei den Zweitstimmen seit Langem erstmals wieder von der CDU überflügelt wurde: Die SPD kam nur auf 23,5 Prozent, die CDU hingegen auf 27,2 Prozent. Die Grünen landeten bei 13,9, die Linke folgte mit 12,2, die FDP mit 10,8 und die AfD mit 7,8 Prozent.

Negativer Bundestrend

Diesmal dürfte es für die SPD deutlich enger werden, da schlägt der negative Bundestrend dann doch durch. Die Internet-Plattform „election.de“, die die Chancen der Direktkandidaten in den 299 Wahlkreisen fortlaufend ermittelt, sieht aktuell die Grünen in vier der sechs Hamburger Wahlkreise vorn: in Altona, Eimsbüttel, Nord/Alstertal und Mitte. Der jeweilige Vorsprung ist gegenüber der Vorwoche deutlich gewachsen. Nur in Wandsbek und Harburg/Bergedorf dominiert noch die SPD.

Die CDU würde laut „election.de“ leer ausgehen. Vor vier Jahren hatte Ploß im Wahlkreis Nord/Alstertal das Direktmandat errungen. Die CDU hat zudem das Problem, dass sie aufgrund der Wahlrechtsreform des Bundestages voraussichtlich nur drei statt wie bislang vier Listenmandate erringen wird.