Hamburg. Dr. Frank Jürgensen gründete Hamburgs erste Angehörigenambulanz. Termin binnen zehn Tagen bei akuter Not.

Die Frau, die ihren Mann nach einem schweren Schlaganfall zu Hause pflegt. Die berufstätige Mutter, die sich „ganz nebenbei“ auch noch um ihre dementen Eltern kümmert. Oder das Paar, das sein krankes Kind liebevoll umsorgt: Sie alle gehören zu „Deutschlands größtem privaten Pflegedienst“, wie Dr. Frank Jürgensen voller Hochachtung sagt.

Denn rund drei Millionen Menschen werden derzeit von ihren Angehörigen zu Hause gepflegt – eine Mammutaufgabe, unter deren Last die Pflegenden nicht selten zusammenbrechen.

Wenn die Energie schwindet

„Meist völlig ohne Vorbereitung übernehmen Angehörige aus Pflichtbewusstsein die Pflege und gehen nach dem Start gleich volles Tempo“, sagt der Mediziner in einer neuen Podcast-Folge der „Digitalen Sprechstunde“, die unter anderem auf abendblatt.de kostenlos zu hören ist.

„Doch aus dem vermeintlichen Sprint wird ein Marathon, der Untergrund wird zunehmend härter, man spürt plötzlich Gegenwind, fühlt sich allein und merkt, dass die Energie schwindet“, so der Arzt, der im Jahr 2019 Hamburgs erste Angehörigenambulanz gegründet hat, die zur Asklepios Klinik Nord/Ochsenzoll gehört.

Im Klinikalltag bleibt kaum Zeit für Nöte der Angehörigen

Ihm sei im Laufe seiner Karriere aufgefallen, dass gerade im klinischen Alltag kaum Zeit für die Erwartungen, Hoffnungen und Nöte der Angehörigen bleibe. „Viele sind enttäuscht, dass sie keine Hilfe erfahren. Da dachte ich mir, dass es für die akuten Sorgen der Pflegenden dringend einen Raum geben müsste“, so der Mediziner, der für das von ihm ins Leben gerufene Projekt im vergangenen Jahr mit dem Asklepios-Award in der Kategorie „Soziale Verantwortung“ ausgezeichnet wurde.

Irgendwann fühlen sich manche Pflegende erschöpft, gereizt, schlafen schlecht. „Viele haben das Gefühl, in einem Hamsterrad gefangen und fremdgesteuert zu sein“, sagt der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Hinzu kämen dann jedoch oft Schuldgefühle.

Sich Hilfe zu holen, sei lange Zeit gesellschaftlich verpönt gewesen

„Nach dem Motto: Ich muss doch stark sein für denjenigen, den ich pflege. Meine Eltern waren immer für mich da, da muss ich doch jetzt auch für sie da sein. Oder: Wir waren 45 Jahre verheiratet, da ist es doch meine Pflicht, mich jetzt zu kümmern.“ Sich Hilfe zu holen, das sei dabei lange Zeit gesellschaftlich verpönt gewesen. „Ich vergleiche Pflege oft mit Leistungssport, weil die Anforderungen ähnlich hoch sind“, sagt der verheiratete Vater von drei Kindern.

Heutzutage sei es beispielsweise „völlig normal“, dass jede gute Bundesliga-Mannschaft einen „Mental Coach“ habe, noch in den 80er-Jahren sei das jedoch undenkbar gewesen. „Und deshalb darf es auch nicht stigmatisierend sein, wenn man als pflegender Angehöriger offen zugibt, dass einem alles zu viel wird.“

Selbstfürsorge wiederfinden

Nun gebe es nicht „den“ pflegenden Angehörigen per se, die Sorgen und Nöte seien durchaus unterschiedlich. „Eines steht aber doch bei vielen Pflegenden im Fokus: Es geht darum, die Selbstfürsorge wiederzufinden, das Steuer des eigenen Lebens wieder in die Hand zu nehmen“, sagt der Arzt, der mit seinem Team nicht nur Angehörige von Patienten, die bei Asklepios behandelt werden, betreut, wie er betont: „Wir sind ein Angebot für alle Hamburger.“

Im Gespräch erinnere er pflegende Angehörige gern an die Durchsage im Flugzeug. „Wir kennen das alle: Im Falle eine Druckabfalls soll man zuerst sich selbst mit einer Atemmaske versorgen, ehe man anderen Passagieren hilft. Klingt einfach, ist aber im Alltag nicht so leicht umzusetzen. Dabei ist der Kern klar: Nur wenn es einem selbst gut geht, kann man auch gut für andere sorgen.“

Manchen reicht bereits ein Ansprechpartner

Binnen einer Woche, maximal zehn Tagen, bekomme man in der Angehörigenambulanz einen Termin. „Das ist schon unser Anspruch, denn wenn Leute sich überwinden und sich melden, dann ist die Not akut. Da nützt es nichts, wenn wir sagen würden: Schauen wir mal in sechs Wochen“, so der gebürtige Göttinger, der während seines Studiums bei verschiedenen Hausärzten hospitierte. „Das hat mich geprägt, weil ich bei Hausbesuchen eben auch mitbekommen habe, wie die Situation für Kranke und deren Familien zu Hause ist.“

Wie schnell pflegenden Angehörigen, die sich überlastet fühlen, geholfen werden könne, sei ebenfalls sehr individuell. „Wir haben Menschen erlebt, die schon dankbar waren, jetzt einen Ansprechpartner zu haben“, sagt Dr. Frank Jürgensen, der begeisterter Wassersportler ist und mit seiner Familie gern an der Schlei entspannt.

Entscheidungen bewusster treffen

„Wenn es aber darum geht, mehr Kontrolle über das eigene Leben zu haben, Entscheidungen bewusster zu treffen, dann ist das schon eher eine Sache von mehreren Wochen.“ Von der Politik wünscht sich der Mediziner, dass die Pflege von Angehörigen stärker wertgeschätzt wird.

„So wie es Kinderkrankentage gibt, sollten Arbeitnehmer auf freie Tage für die Pflege nehmen können.“ Mehrheitlich seien es Frauen, die neben Beruf und Kindererziehung die Pflegeaufgaben übernähmen: „Da ist dann logischerweise irgendwann die Grenze der Belastbarkeit erreicht.“