Hamburg. AfD provoziert in der Bürgerschaft und sorgt für Sitzungsunterbrechung. SPD, Grüne und CDU unterstützen einheitliche Regeln.
Provokationen sind auch ein Mittel, um eine Debatte zu prägen: Wer inhaltlich nicht durchdringt, reizt halt den politischen Gegner bis zur Weißglut – das bringt zumindest Aufmerksamkeit. Dass die AfD dieses Stilmittel meisterlich beherrscht, ist bekannt – das hat ihre Fraktion in der Bürgerschaft am Mittwoch in zwei Corona-Debatten erneut gezeigt, in denen es vor allem um das neue Infektionsschutzgesetz des Bundes ging.
Da echauffierte sich ihr Abgeordneter Krzysztof Walczak mit Blick auf die Ausgangssperren über ein „völlig irre gewordenes Merkel-Kabinett“. Die „letzten Enklaven der Freiheit“ würden „ausradiert“, meinte er – als würden Theater und Hotels vom Staat bombardiert und nicht zum Schutz der Bevölkerung geschlossen. Die große Mehrheit des Hauses ertrug diese und weitere Zuspitzungen einigermaßen geduldig. Doch schließlich platzte doch noch einem der Kragen - als nämlich AfD-Politiker Thomas Reich befand, Ausgangssperren habe es „nicht einmal während des Zweitens Weltkrieges“ gegeben.
Eklat im Hamburger Rathaus um die Bundes-Notbremse
„Das ist ungeheuerlich, die Gegenwart schlimmer zu machen als den Nationalsozialismus“, rief der Grünen-Abgeordnete Peter Zamory unter Zwischenrufen der AfD. Die Behauptung sei empörend, weil es im Nationalsozialismus Ausgangssperren für jüdische Bürger gab. „Das ignorieren sie“, so Zamory. „Das zeigt, wes Geistes Kind sie sind.“ Die AfD ließ daraufhin den Ältestenrat des Parlaments einberufen und die Sitzung unterbrechen – was sie an Zamorys Aussagen störte, blieb unklar.
Es war der Schlusspunkt einer Debatte, die auch ohne verbale Entgleisungen reichlich kritische Zwischentöne enthielt. Denn auch SPD, Grüne, CDU und Linkspartei verfielen ob des neuen Gesetzes, mit dem der Bund die Länder zur Einhaltung der schon Anfang März vereinbarten „Notbremse“-Regeln verpflichtet, keinesfalls in Jubel. Die große Mehrheit hielt es aber für geboten. Bundeseinheitliche Regeln seien allein wegen des „Flickenteppichs in den Ländern“ notwendig, sagte die stellvertretende SPD-Fraktionschefin Ksenja Bekeris und betonte, dass sich für Hamburg im Prinzip nichts ändere: „Wir werden bei unseren strengen Regeln bleiben.“
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Die am Nachmittag zeitlich parallel vom Bundestag beschlossene Bundes-Notbremse sieht vor, dass in Gebieten mit mehr als 100 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen von 22 Uhr bis 5 Uhr eine Ausgangssperre gelten muss. In Hamburg gilt diese aber bereits ab 21 Uhr. Diese Maßnahme zeige auch Wirkung, meinte Bekeris und verwies darauf, dass die Inzidenz gegen den Bundestrend seit Anfang April von mehr als 160 auf 130 gesunken sei.
Grüne verteidigen Corona-Beschränkungen
Auch die Regel, wonach bei einer Inzidenz zwischen 100 und 150 Geschäfte Kunden nach vorheriger Terminbuchung empfangen dürfen („Click & Meet“) gilt in Hamburg derzeit nicht – und es ist noch offen, ob der Senat das ermöglichen wird. Denn das Bundesgesetz setzt nur Mindeststandards – schärfere Regeln einzuführen oder beizubehalten, ist den Ländern weiterhin möglich.
Kritisch sehe sie hingegen, dass Schulen aber bei einer Inzidenz von 165 (statt bislang 200) den Präsenzunterricht wieder einstellen sollen, sagte Bekeris. Als Lehrerin wisse sie, wie wichtig auch das soziale Umfeld in den Schulen für die Kinder sei. Daher sei es ihr „wichtig, dass wir die Schulen offen halten“.
Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Jennifer Jasberg machte an dem Beispiel deutlich, wie sehr auch die Politik um den richtigen Kurs ringe. „Uns erreichen flehende Bitten, die Schulen um jeden Preis geöffnet zu halten. Und gleichzeitig in eben so hoher Zahl das mahnende Auffordern, jene sofort zu schließen“, sagte Jasberg und bekannte: „Wir werden in dieser Situation nie alle zufriedenstellen können.“ Die derzeit in Hamburg geltenden Corona-Beschränkungen verteidigte die Grünen-Chefin: „Das exponentielle Wachstum haben wir damit gebremst.“ Mit einem Sieben-Tage-Wert von 130 sei Hamburg allerdings immer noch „weit entfernt“ von Öffnungen. Bundeseinheitliche Regelungen seien ein „wichtiger Schritt“.
Linke nimmt Ausgangsbeschränkungen aufs Korn
Dem pflichtete Anke Frieling von der CDU-Fraktion bei. „Bis die Impfkampagne genügend Menschen erreicht, sind wir leider gezwungen, weiter einschneidende Maßnahmen in Hamburg und ganz Deutschland zu ergreifen.“ Es gehe darum, Menschenleben zu retten, sagte Frieling und appellierte an die anderen Fraktionen: „Lassen sie uns weiter zusammenstehen.“ Ihr Fraktionskollege Stephan Gamm räumte ein, dass er „nicht ganz glücklich“ mit allen Inhalten des Gesetzes sei, dennoch gelte: „Die Menschen erwarten eine einheitliche Regelung und keinen Flickenteppich.“
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Die Linkspartei lehnte die Bundes-Notbremse zwar nicht rundweg ab, nahm aber die Ausgangsbeschränkungen aufs Korn: Diese seien nicht verhältnismäßig und entbehrten einer wissenschaftlichen Grundlage, sagte ihr Abgeordneter Deniz Celik – und nahm den Bürgermeister ins Visier. Zu Beginn der vergangenen Woche, als die Inzidenz noch stieg, habe Peter Tschentscher (SPD) erklärt, eine zuverlässige Aussage über die Wirksamkeit sei erst nach 14 Tagen möglich.
„Kaum fallen die Zahlen ein paar Tage später, nutzt der Bürgermeister die Gunst der Stunde und sagt, die Ausgangssperren hätten sich bewährt – das ist alles andere als eine seriöse und glaubwürdige Politik“, sagte Celik. Er forderte erneut, dass der Senat in Stadtteilen wie der Veddel und Wilhelmsburg mit vergleichsweise hoher Inzidenz mehr für den Schutz der Menschen tun müsse. Dringend nötig seien mehrsprachige Aufklärung, „Gesundheitslotsen“ und dezentrale Impfungen für diese Stadtteile, sagte Celik.
Ausgangssperre: Leonhard sieht auch im Freien Ansteckungsrisiko
Die FDP-Abgeordnete Anna von Treuenfels-Frowein kritisierte, der Senat verlängere Ausgangsbeschränkungen, obwohl dies aus Sicht von Epidemiologen nicht zu rechtfertigen sei. Denn die Ansteckung finde „nachweislich in geschlossenen Räumen statt“. „Rot-Grün ignoriert diese Erkenntnisse, und stattdessen reklamieren sie einen eher geringen Rückzug der Inzidenzwerte für ihre Politik“, sagte Treuenfels-Frowein.
Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) hielt dem entgegen, dass doch niemand bestreite, dass das Ansteckungsrisiko in geschlossenen Räumen besonders hoch sei. Doch die Ausgangsbeschränkungen dienten ja auch und vor allem dazu, die Mobilität am Abend einzuschränken und schon die Wege zu solchen Treffen unterbinden zu können. „Dass das in einem gewissen Rahmen gelingt, das lassen die Zahlen erhoffen.“ Bundesweit werde gerade auf Hamburg geschaut und analysiert, wie wirksam Ausgangsbeschränkungen sein können.
Diese Corona-Impfstoffe sind in Deutschland zugelassen
- Biontech/Pfizer: Der erste weltweit zugelassene Impfstoff gegen das Coronavirus wurde maßgeblich in Deutschland entwickelt. Der mRNA-Impfstoff, der unter dem Namen Comirnaty vertrieben wird, entwickelt den vollen Impfschutz nach zwei Dosen und ist für Menschen ab zwölf Jahren zugelassen. Laut Bundesgesundheitsministerium (BMG) hat er eine Wirksamkeit von etwa 90 Prozent – das heißt, die Wahrscheinlichkeit, schwer an Covid-19 zu erkranken, sinkt bei Geimpften um den genannten Wert. Ebenfalls von Biontech stammt der erste für Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren zugelassene Impfstoff in Deutschland.
- Astrazeneca: Der Vektorimpfstoff des britischen Pharmaunternehmens wird unter dem Namen Vaxzevria vertrieben. Aufgrund von seltenen schweren Nebenwirkungen empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko), den Impfstoff nur für Patienten zu verwenden, die älter als 60 Jahre sind. Offiziell zugelassen ist der Impfstoff aber für Menschen ab 18 Jahren. Vaxzevria weist laut BMG nach zwei Impfdosen eine Wirksamkeit von bis zu 90 Prozent in Bezug auf schwere Erkrankungen auf.
- Moderna: Der von dem US-Unternehmen entwickelte mRNA-Impfstoff mit dem Vertriebsnamen Spikevax ist für alle ab 12 Jahren zugelassen, die Stiko empfiehlt aufgrund eines erhöhten Risikos schwerer Nebenwirkungen aber, ihn auf die Altersgruppe der über 30-Jährigen zu beschränken. Der Moderna-Impfstoff hat laut BMG eine Wirksamkeit von bis zu 90 Prozent in Bezug auf schwere Erkrankungen, wenn der volle Impfschutz nach zwei Impfdosen erreicht worden ist.
- Johnson&Johnson: Das US-Unternehmen hat einen Vektorimpfstoff entwickelt, der bereits nach einer Impfdosis Schutz vor dem Coronavirus entwickelt. Er wird unter dem Namen Covid-19 Vaccine Janssen vertrieben. Das Präparat hat laut BMG eine Wirksamkeit von bis zu 70 Prozent bezogen auf schwere Erkrankungen – zudem ist die Zahl der Impfdurchbrüche im Vergleich zu den anderen Impfstoffen erhöht, daher empfiehlt die Stiko für mit Johnson&Johnson Geimpfte schon nach vier Wochen eine zusätzliche Impfdosis mit Comirnaty oder Spikevax, um den vollständigen Impfschutz zu gewährleisten.
- Novavax: Das US-Unternehmen hat den Impfstoff Nuvaxovid entwickelt. der mitunter zu den sogenannten Totimpfstoffen gezählt wird. Er enthält das Spike-Protein des Covid-19-Erregers Sars-CoV-2. Dabei handelt es sich aber genau genommen nicht um abgetötete Virusbestandteile, die direkt aus dem Coronavirus gewonnen werden. Das Protein wird stattdessen künstlich hergestellt. Das menschliche Immunsystem bildet nach der Impfung Antikörper gegen das Protein. Der Impfstoff wird vermutlich ab Ende Februar in Deutschland eingesetzt und soll laut BMG in bis zu 90 Prozent der Fälle vor Erkrankung schützen.
- Weitere Impfstoffe sind in der Entwicklung: Weltweit befinden sich diverse Vakzine in verschiedenen Phasen der Zulassung. Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA prüft derzeit das umstrittene russische Präparat Sputnik V sowie die Impfstoffe der Hersteller Sinovac, Sanofi und Valneva. Der deutsche Hersteller CureVac hat seinen Impfstoff vorerst aus dem Zulassungsverfahren zurückgezogen.
Außerdem empfehle sie, die Studien von Aerosolforschern genau zu lesen – dann werde klar, dass es auch im Freien ein Ansteckungsrisiko gebe, wenn viele Menschen nah beieinander stünden oder sich umarmten, so Leonhard: „Es ist so schade, wenn jeder immer für die Begründung seiner Politik die Überschrift wählt, die ihm gerade gut passt – und das dann auch noch als wissenschaftliche Erkenntnis verkauft. Das ist echt bitter.“
Wie die Linkspartei zu fordern, man müsse die Pandemiebekämpfung nur auf bestimmte Stadtteile konzentrieren, sei „die falsche Schlussfolgerung“, sagte Leonhard und nannte dafür ein Beispiel: Jüngst habe es sieben Infektionen in einem Paketverteilzentrum gegeben. Da die Betroffenen aus Harburg und Billstedt kamen, seien diese Fälle nach dem Wohnortprinzip diesen Stadtteilen zugerechnet worden – obwohl das Paketzentrum in einem anderen Stadtteil stehe.
Ohne AfD oder FDP direkt zu nennen, verwies die Senatorin auf die enorme Belastung der Beschäftigten im Gesundheitswesen: „Wenn das die Kämpfer für die Freiheit und gegen die Eindämmungsverordnung mal berücksichtigen würden, wäre schon viel gewonnen.“