Hamburg. Beratungsprojekt für sozial schwache Familien entlastet die Ärzte. Weswegen die meisten Kunden kommen.

Der vor gut drei Jahren in Billstedt gegründete Gesundheitskiosk für die Beratung vor allem sozial schwacher Familien kann zu einem deutschlandweiten Modell werden. Das von der Stadt Hamburg und fünf Krankenkassen geförderte Projekt hat dazu beigetragen, dass an einem sozialen Brennpunkt erste Erfolge für bislang vom Gesundheitswesen abgehängte Gruppen erreicht wurden.

Nach der Begleitstudie des Hamburg Center for Health Economics, die dem Abendblatt vorliegt, werden in Billstedt/Horn gleichzeitig die Patienten besser aufgeklärt und versorgt sowie die Ärzte entlastet.

Das trägt laut Studie auch dazu bei, dass die Behandlungskosten nicht weiter steigen, weil das Wissen um die „richtige“ Versorgung medizinischer Probleme wächst. Unter anderem zeigt sich das in den Ausgaben für Arzneimittel.

Wer arm ist, ist häufiger und länger krank

Wer arm ist, ist häufiger und länger krank – das ist mehr als ein Klischee. In Billstedt und Horn liegt das Durchschnittseinkommen um mehr als 40 Prozent unter dem Hamburger Niveau. Hier wohnen mehr Arbeitslose, Migranten und Alleinerziehende – und vier von zehn Kindern unter 15 Jahren leben in Familien, die staatliche Leistungen zum Lebensunterhalt beziehen.

Vor allem die Sprachbarrieren sorgen dafür, dass bislang die Patienten direkt einen Facharzt oder gleich die Krankenhäuser aufsuchten, anstatt zu einem Hausarzt zu gehen oder sich wie im Gesundheitskiosk durch das Dickicht von medizinischen Angeboten lotsen zu lassen.

Unter- und Fehlversorgung der Menschen in sozial schwachen Stadtteilen

In ihrer Studie schreiben Prof. Dr. Jonas Schreyögg und Prof. Dr. Eva-Maria Wild: „Sozial schwache Stadtteile haben oft weniger ambulante Versorgungsangebote, welche sich zudem häufig nicht ausreichend an den Bedürfnissen sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen orientieren. Die Folgen sind zum einen stark beanspruchte Notaufnahmen, zum anderen eine Unter- und Fehlversorgung der Menschen in diesen Stadtteilen.“

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Die wissenschaftliche Untersuchung schließt mehrere Befragungen sowie eine Auswertung von anonymisierten Krankenkassendaten ein. Der Gesundheitskiosk, in dem Fachleute auch auf Türkisch, Polnisch, Dari und Farsi die Kunden kostenlos beraten, habe nachweislich dazu beigetragen, unnötige Krankenhausaufenthalte um 19 Prozent zu senken. Er könne „Vorbild für andere deprivierte großstädtische Regionen in Deutschland sein“, schreiben die Professoren.

40 Prozent lassen sich zum Thema Übergewicht beraten

Barmer-Chef Frank Liedtke.
Barmer-Chef Frank Liedtke. © Roland Magunia

Auffällig ist, dass sich 40 Prozent der Besucher zum Thema Übergewicht haben beraten lassen. Fast vier von fünf Nutzern der Beratungen und Kurse sind Frauen im Durchschnittsalter von 59 (Beratung) und 65 Jahren (Kurse). Nur etwa jeder Zehnte (11 Prozent), der zur Beratung kommt, arbeitet Vollzeit. Die anderen Kunden sind in Rente (54 Prozent), arbeitslos (15 Prozent) oder generell nicht erwerbstätig (10 Prozent).

Die Autoren der Studie empfehlen, das Projekt Gesundheitskiosk „in die Regelversorgung zu überführen“. Das ist der Ritterschlag, denn das hieße auch: dauerhafte Finanzierung.

Beratung ist zum Teil Sozialarbeit

Die Barmer Krankenkasse sieht im Bilstedter Gesundheitskiosk einen Erfolg, wenn er dazu beitrage, „zum Beispiel die Befunde und Empfehlungen eines Arztes in Ruhe verständlich erklären zu lassen oder für Therapietreue auch bei Arzneimitteln zu sorgen“, wie Barmer-Landeschef Frank Liedtke dem Abendblatt sagte. Viele Menschen in abgehängten Stadtteilen verstünden die Botschaften von Medizinern und Apothekern oft nicht.

Dennoch müsse man fragen, welche Leistungen des Gesundheitskiosks denn von den Kassen getragen werden sollten. Die Beratung sei zum Teil Sozialarbeit, für die die Kassen nicht zuständig seien. Auch die AOK Rheinland/Hamburg sieht als eine der Unterstützerkassen das Potenzial, die Versorgung zu verbessern, wie Vorstand Matthias Mohrmann sagte. Die AOK hatte durch „falsche Wege“ ihrer Versicherten in Billstedt laut Studie erhebliche Mehrkosten.

Der Gesundheitskiosk hat inzwischen zwei weitere Standorte

Der rot-grüne Senat hat in seinem Koalitionsvertrag festgelegt, dass es künftig „Stadtteilgesundheitszentren“ geben solle. Hier sollten „Gesundheitslotsen und Fallmanager“ ihre Arbeit aufnehmen.

Das exakt ist das Brot-und-Butter-Geschäft der Billstedter Einrichtung. Der Gesundheitskiosk war an der Möllner Landstraße gestartet und hat inzwischen zwei weitere Standorte in der Praxisklinik Mümmelmannsberg und in Horn, Am Gojenboom. Rund 12.000 Menschen haben sich seit der Gründung im September 2017 beraten lassen.