Hamburg. Sein ganzes Leben ist purer Rock ’n’ Roll. Salm hat viele Fans – doch die sitzen nun wegen Corona schon länger auf dem Trockenen.

Dieser Mann ließ es lustvoll krachen, nicht nur auf der Bassgitarre. Er gab der Hamburger Musikszene einen Namen – und ein Zuhause. Er führte ein Leben am Limit, war meist mittenmang und weit oben, kannte aber auch fürchterliche Tiefen. Kaum einer im Norden verstand es besser als Uli Salm, Fünfe gerade sein zu lassen. Als Bassist, Musikproduzent und Gastronom kennt er Sternstunden und Abstürze nur zu gut.

Zwar ist mit nunmehr 72 Jahren Erfahrung alles ein bisschen ruhiger geworden, allerdings kein Stück langweiliger oder gar spießiger. Aktuell lebt Salm mit seiner Ehefrau Susi, einer Rocksängerin, in einem Haus im Grünen inmitten der Nordheide. Vier Hunde, drei von ihnen aus Tierheimen, das 33 Jahre alte Pony Boni sowie die aus Mallorca gerettete Stute Lola leisten ihnen Gesellschaft. Und im ausgebauten Keller sind 450 Bassgitarren gepflegt untergebracht.

Und wo trifft man sich mit einer Persönlichkeit, deren Leidenschaft für Rockmusik sich wie ein roter Faden durch eine aufregende Lebensgeschichte zieht? Im Szenelokal Zwick am Millerntor, das ebenso wie die Mutterkneipe am Mittelweg den Titel „Home of Rock ’n’ Roll“ trägt. Salms Team besteht aus 45 Mitarbeitern aus 13 Nationen. Nach monatelanger Zwangspause hofft man, alsbald aus der Kurzarbeit an den Zapfhahn hinter die Theke, in die Küche oder auf die Bühne zurückkehren zu können. Die Situation ist reichlich verzwickt: Ohne zwei Corona-Kredite in sechsstelliger Höhe im vergangenen Jahr hätte der Unternehmer seinen Betrieb kaum aufrechterhalten können.

Eine abenteuerliche, unbeschwerte, feuchtfröhliche Zeit

Uli Salm nippt an seiner Colaflasche, wirft eine Handvoll Kartoffelchips ein und deutet auf die Wände seines Musikrestaurants. Frei von Sperrstunden tanzen hier normalerweise die Puppen bis in den Morgen. Die Musikkneipe, in der man traditionell gut essen kann, gilt als Heimstätte kultivierter Schluckspechte und durchtrainierter Nachteulen mit Faible für Partys mit Note. 120 Gitarren, eine ansehnlicher als die andere, schmücken die urgemütliche, durch dunkles Holz geprägte Pinte. Poster, Plattencover und Promifotos erinnern an legendäre Momente.

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Als Mitbegründer der Hamburger Szene, die sich in den 1970er-Jahren in Pöseldorf und Eppendorf etablierte und aus einem illustren Zirkel jazzbegeisterter Spaßvögel bestand, erlebte Salm als junger Mann eine abenteuerliche, unbeschwerte, feuchtfröhliche Zeit. Er war Bassist bei der Skiffle-Rock-Gruppe Leinemann, benannt nach seinem Kumpel und früheren „Roadie“ Helmut-Herbert Leinemann, und rief die Band Rudolf Rock & die Schocker ins Leben.

Bei Tourneen durchs Land ging’s hochtourig rund. Eine verrockte Version des Schlagers „Herzilein“ verkaufte sich fast 300.000-mal und bescherte Uli Salm den finanziellen Grundstock für einen dauerhaften Trip in die Gastronomie: 1991 erwarb er die Kneipe Zwick am Mittelweg 121. Es war kein Nachteil, dass Ulis Vater Besitzer des Hauses war. Der vermögende Kartoffelgroßhändler aus Uelzen hatte etwas Wertbeständiges als Geldanlage gesucht. Diese Rechnung ging auf.

Mit 14 Jahren erhielt er zu Weihnachten eine Bass­gitarre

Nach einem kurzen Rundgang durchs Lokal mit dem Charakter eines Rock-Museums nehmen wir auf Barhockern vis-à-vis der Fensterfront Platz. Wenige Schritte backbords befindet sich das Stadion des FC St. Pauli. Uli Salm greift erneut zur Cola. Dann blickt er zurück auf eine bewegende Ära: 1948 als Bruder von zwei älteren Schwestern geboren, wuchs Uli in Uelzen behütet auf. Selbstständigkeit und kaufmännisches Denken waren Fundamente der Familie. Im großen Stil und ertragreich wurden Kartoffeln gehandelt.

Da dem Jungen der von den Eltern verordnete Geigenunterricht überhaupt nicht behagte, schlug er andere, lautere Töne an. Mit 14 Jahren erhielt er zu Weihnachten eine Bass­gitarre. Von nun an machte Musik Spaß. Zuvor hatte Uli mit einem aus dem Schulorchester entliehenen Kontrabass in der Band seines Freundes Ulf gefetzt. Eine Veranstaltungstafel im Zwick am Millerntor erinnert an diese bewegten Zeiten. 20 Pfennig Eintritt für Mitschüler. Nur der Deutschlehrer durfte gratis kommen. Und er kam.

Alles, was in der Szene Rang und Namen hatte

Nach dem Abitur 1966 in Uelzen lockte die pulsierende Hansestadt im Nordwesten. Der nunmehr 19-jährige Uli bezog die umgebaute Remise des Zwick-Hauses. Zeitzeugen haben einen quicklebendigen Teenager mit gewinnendem Naturell im Gedächtnis – der zudem als großzügig galt und eine bestens bestückte Hausbar hegte. Eine Session jagte die nächste.

Nach und nach fand sich in Salms privater Kemenate wie in der benachbarten Schankwirtschaft praktisch alles ein, was in der Szene Rang und Namen hatte: Udo Lindenberg und Marius Müller-Westernhagen, Achim Reichel und Vince Weber, Henning Venske und Lonzo, der „Teufelsgeiger“. Otto Waalkes war ebenfalls an Bord. Anfangs trat der Ostfriese für 100 D-Mark Gage im Vorprogramm auf. Erst später stieß der Schlagzeuger Hugo Egon Balder dazu. Der heutige Fernsehmoderator ist mit kleiner Quote am Zwick abseits der Reeperbahn beteiligt.

Mehr als 20 Semester lang Jura-Student gewesen

Dass die Quelle von Trank und Lebenslust auch nach Eppendorf schwappte, hatte eine süffige Ursache: Der Jazzschuppen Onkel Pö zog vom Mittelweg an den Lehmweg. Auf Rat seines Vaters, einen ehrbaren Beruf anzustreben, schrieb sich Sohn Uli im Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg ein. Die Semester kann er rückblickend nicht mehr zählen; mehr als 20 waren es alle Male. Letztlich hatte er die notwendigen Scheine, in-des kein Examen. „Dafür aber jede Menge Lebenserfahrung“, bilanziert er selbst.

Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:

  • Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
  • Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
  • Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
  • Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
  • Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).

Früh übte sich, was ein Lebenskünstler werden will. Gastauftritte mit Rudolf Rock & den Schockern, eine TV-Nummer nach der anderen, vor allem indes Partys in Serie formten ein Leben wie ein Jo-Jo. Im Sauseschritt ging es hin und her, auf und ab, immer schneller, kaum noch kontrollierbar. Uli Salm verlor den Halt. Er stürzte ab, tief hinein in das Elend alkoholischer Abhängigkeit. Einer geht noch, einer geht noch rein. Heidewitzka, Herr Kapitän.

Bis ein Sonntag im Sommer 1999 einen lichten Moment bescherte: „Ich zog die Notbremse.“ Von einem Tag auf den anderen schwor Uli Salm drei in dieser konzentrierten Mischung lebensbedrohlichen Lastern ab: Alkohol, Zigaretten, Beruhigungsmitteln. Zuspruch von Freunden half ebenso wie sechs Wochen in einer Suchtklinik in Brandenburg. „Ich wollte ins Leben zurück“, meint Salm rückblickend.

11. Juli 1999 als „zweiter Geburtstag“

Entsprechend begreift er das Datum 11. Juli 1999 als seinen „zweiten Geburtstag“. „Seitdem bin ich demütig“, sagt er, „und bedanke mich jeden Tag erneut.“ Er hat es angepackt, bevor es zu spät war. Vor allem schaffte er den Schritt ans rettende Ufer aus freien Stücken.

Sauste der Alltag zuvor in rasantem Tempo an ihm vorbei, begreift Salm seine Existenz heutzutage als Geschenk, als Glück. Erheblich trägt dazu Rocksängerin Susi bei. Beide heirateten 2008 und leben seitdem in Harmonie – nicht nur musikalisch. Oft steht das Paar gemeinsam auf der Bühne und rockt los.

Die Kultkneipe Zwick im Sommer 2020
Die Kultkneipe Zwick im Sommer 2020 © Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Was für ein Segen, dass Alkohol keine Rolle mehr spielt. So bleiben Kraft und Konzentration für soziale Projekte und unternehmerische Wagnisse. Dass nicht alles klappt, ist Bestandteil des Gastronomiegeschäfts. So mussten die Zwick-Filialen in Lüneburg sowie an der Max-Brauer-Allee nach fünf kostspieligen Jahren ebenso geschlossen werden wie ein gleichnamiges Partyschiff auf der Elbe. Pläne eigenständiger Zwick-Betriebe in anderen Städten wurden ad acta gelegt – wer nicht wagt, der nicht gewinnt.

Umso schwerer wiegt Corona, auch wirtschaftlich

Umso schwerer wiegt Corona, auch wirtschaftlich. Ein Vorfall mit erheblich mehr Gastbetrieb als während der Pandemie erlaubt brachte dem Barmann 500 Euro Geldbuße. Ein Widerspruch läuft. Am Standort Mittelweg war das Lokal brechend voll gewesen. Aus Salms Sicht handelte es sich um eine „Panne“.

Dank zugesagter staatlicher Unterstützung könne man sich ansonsten „finanziell einigermaßen über Wasser halten“. Nicht nur Uli Salm sehnt legendäre Zeiten herbei, wenn es in seinen Live-Clubs endlich wieder voller Lebensfreude brummt. Sobald es gestattet ist, möchte er sein neues Ausflugslokal Moin am Elbe-Radwanderweg in ­Stiepelse in der Gemeinde Amt Neuhaus eröffnen. Auf zu neuen Ufern.

Ein Silberdollar als Talisman

Dieses Credo gilt nicht minder für Initiativen wie einen Verein zur Förderung von Musik- und Kulturschaffenden oder wie einen Song für den „Mut-mach-Hasen Nobbi“ zur seelischen Unterstützung krebskranker Kinder. Bleibt Muße, spazieren Susi und Uli durch die Heide oder steuern mit dem Wohnmobil Stationen in Deutschland an.

Auf die Frage nach einem Talisman nestelt er einen Silberdollar aus dem Portemonnaie. Letztlich jedoch, sinniert der Musiker, müsse man sein Leben selbst in die Hand nehmen und das Glück beim Schopfe greifen.

So wie er es getan hat vor nunmehr bald 22 Jahren.