Hamburg. Zehn Jahre war Maike Röttger Geschäftsführerin von Plan International Deutschland in Hamburg. Bewegende Begegnungen.

Es gibt diese „Ende-der-Welt-Orte“. Sie sind dort, wo Überleben mehr zählt als Leben. Wo der Horizont nur so weit ist, wie das Auge reicht, und Perspektiven oft ein Traum bleiben müssen. In den vergangenen zehn Jahren als Geschäftsführerin der Kinderrechtsorganisation Plan International Deutschland bin ich häufig an diesen Orten nach abenteuerlichen Reisen angekommen. Oft hat meine Vorstellungskraft dafür, wie und unter welchen Umständen Menschen ihre Leben gestalten, nicht ausgereicht.

Als ich vor zehn Jahren vom Hamburger Abendblatt zu Plan International wechselte, dachte ich, dass ich als langjährige politische Journalistin die großen Problemstellungen der Welt kenne. Doch ich hatte mich geirrt. Das Ausmaß an Diskriminierung von Frauen und Mädchen und die Auswirkung auf die Gesellschaften waren mir nicht bewusst. Armut ist dort, wo Mädchen und Frauen keine Macht haben. Wohlstand und Veränderung aber entsteht, wenn sie ihre Stimme erheben können und Einfluss haben. Das ist weltweit das Ziel der Arbeit von Plan International. Wenn ich jetzt meine Arbeit dort beende, bleibt es meine tiefe Überzeugung, dass die Kraft der Mädchen und Frauen die Welt langfristig zu einer besseren verändern wird.

Neugierig voneinander gelernt

Ich habe überall wo ich war, mit den Mädchen und Frauen darüber gesprochen. Mit großer Offenheit haben sie mich an ihrem Leben teilhaben lassen, und ich habe meines mit ihnen geteilt. Wir haben immer neugierig voneinander gelernt – und vor allem auch viel mit­einander gelacht. Zehn ihrer Geschichten aus den vergangenen zehn Jahren von fünf Kontinenten möchte ich hier erzählen. Doch zuvor müssen noch einige Fakten sprechen.

Weltweit gingen auch schon vor den coronabedingten Schließungen 130 Millionen Mädchen nicht zur Schule, Millionen von Mädchen und Frauen werden jedes Jahr minderjährig verheiratet, 200 Millionen Mädchen und Frauen sind an den Genitalien verstümmelt. Am häufigsten sterben 15- bis 21-Jährige in den Entwicklungsländern an den Komplikationen von zu früher Schwangerschaft und Geburt. Weltweit ist nicht einmal ein Viertel der Abgeordneten in den nationalen Parlamenten weiblich. Wollen wir nachhaltig Hunger und Armut bekämpfen?

Meinen wir es ernst mit den nachhaltigen Entwicklungszielen der Agenda 2030 der Vereinten Nationen? Dann brauchen wir mehr Mädchen- und Frauenbeteiligung. Doch trotz mancher Fortschritte machen es tief verwurzelte gesellschaftliche, religiöse und kulturelle Vorstellungen so vielen Frauen unmöglich, selbstbestimmt zu leben. Und das nur aus einem Grund: Sie sind weiblich.

Wie anders wäre es, wenn sie selbst entscheiden, die Schule zu vollenden, sich frei zu bewegen, eigenes Geld zu verdienen und so viele Kinder, wie sie möchten, zu bekommen. Ich habe erlebt, welche Energie und Kraft Mädchen entfalten, wenn sie diese Chancen haben. Eine Energie, die nicht nur ihr eigenes Leben, sondern das ihrer Familien und Gesellschaften verändert. Es lässt sich auch in Zahlen der Weltbank ausdrücken. Für jedes Jahr, das ein Mädchen mehr zur weiterführenden Schule geht, wird sie später bis zu 20 Prozent mehr Einkommen in ihre Familie investieren. Ihre Kinder werden gebildeter und gesünder aufwachsen.

Für Elena (l.) und Margeherita sind in Kolumbien 2013 Krieg und Katastrophe
noch Alltag. Inzwischen hat sich die Lage etwas gebessert.
Für Elena (l.) und Margeherita sind in Kolumbien 2013 Krieg und Katastrophe noch Alltag. Inzwischen hat sich die Lage etwas gebessert. © Plan International

Kolumbien 2013: Wo Krieg und Katastrophe Alltag sind

Der Ort, in dem Margherita lebt, ist nicht nur geografisch am anderen Ende der Welt. Er ist es auch für mein mitteleuropäisches Denken, Fühlen und Leben. Diese Siedlung im Dschungel von Kolumbien direkt am tosenden Pazifik ist über keine Straße zu erreichen. Eine Landepiste, auf der Propeller-Flugzeuge bei gutem Wetter landen und Schnellboote, die über meterhohe Wellen nach stundenlanger Fahrt einen Ort mit Straßenanbindung erreichen, sind der Kontakt zur Außenwelt.

Die Region Chocó an der Pazifikküste von Kolumbien gehört zu den ärmsten der Welt. Fast 80 Prozent der Menschen leben hier in Armut. Es sind Afro-Kolumbianer und Indigene, die Bevölkerungsgruppen, die ohnehin am Rand der Gesellschaft leben. Bürgerkrieg, Tsunami-Gefahr, Erdbeben, Überschwemmungen, Erdrutsche, hier versammelt sich alles. Oft haben die Menschen mehrfach in ihrem Leben alles verloren. Sich an Besitz zu gewöhnen, erlauben sie sich selber nicht.

„Das ist hier so. Wir werden hier hineingeboren“, sagt die 16 Jahre alte Margherita. Wenn der Regen tagelang auf die Wellblechdächer trommelt, die Gewitter grollen und sich die Wege in reißende Ströme verwandeln, dann weiß Margherita, dass es in den Bergen Erdrutsche geben wird und die wenigen Wege nicht mehr sicher sind. Und mir wird es klar, als sich plötzlich der Urwald um mich herum in einen grauen Regenschleier verwandelt. Der Strom fällt aus und das Ganze fühlt sich plötzlich nicht nur sehr nass, sondern auch sehr einsam an. Der Hinweis eines Kollegen, dies könne jetzt einige Tage so anhalten, versuche ich zu überhören.

Was für ein Privileg – egal wann –, das Flugzeug wieder in eine ruhigere Welt besteigen zu können. Margherita kennt das nicht. Doch sie gehört zu den Motoren der Veränderung in diesem Ort. Über drohende Katastrophen haben die Menschen inzwischen einiges gelernt. Man sieht ihr an, wie stolz sie auf ihr Wissen ist. Gemeinsam mit ihrer zwölf Jahre alten Freundin Eliana nimmt Margherita an einem Katastrophenvorsorge-Projekt von Plan International teil.

Die beiden Mädchen betreiben ihr eigenes Radioprogramm, in dem sie eine Stunde lang über die Gefahren der Naturkatas­trophen berichten. Wie kündigt sich ein Tsunami an? In welche Richtung müssen sich die Menschen retten? Direkt zu den Sammelplätzen, die jetzt ausgeschildert sind. „Meine Freundinnen fragen immer, wann ich mehr Musik in meinen Programmen spiele“, sagt Margherita, „aber mir sind diese Themen wichtiger, denn die Gefahr ist immer da.“

Die 34-jährige Melody, ein ehemaliges Patenkind von Plan International, gemeinsam mit einer Gruppe Schülerinnen.
Die 34-jährige Melody, ein ehemaliges Patenkind von Plan International, gemeinsam mit einer Gruppe Schülerinnen. © Plan International | Plan International

Simbabwe 2014: Wie saubere Toiletten und Bildung zusammenhängen

Melody ist eine stolze Frau. Man sieht es an ihrem strahlenden Lächeln, und man hört es an ihrer Stimme, wenn sie ihre Geschichte erzählt. Die 34-jährige Mutter einer Tochter arbeitet in einem privaten Krankenhaus in Harare als Intensivkrankenschwester und leitet eine Abteilung. Doch ihre Kindheit hat sie in Simbabwe auf dem Land verbracht. Dort, wo die Menschen in den Rundhütten auf dem Fußboden neben dem Vieh schlafen, wo es keine Toiletten, keinen Strom oder einen Wasseranschluss gibt.

„Ich weiß, wie es sich anfühlt, barfuß zur Schule zu gehen“, sagt sie und fügt hinzu: „Ohne die Unterstützung von Plan International wäre ich heute noch dort und hätte vermutlich 15 Kinder.“ Doch ihr Leben als Patenkind in den Projekten ist dadurch anders verlaufen. Melody gehört einem Alumni-Netzwerk von mehreren Tausend ehemaligen Plan-Patenkinder in Simbabwe an, die den „Alight Zimbabwe Trust“ (AZT) gegründet haben. „Wir geben das, was wir durch Plan gelernt und erfahren haben, an die Gemeinden zurück“, sagt Melody.

Die Alumnis sind heute die leuchtenden Beispiele, wenn sie in den Schulen und Versammlungen sprechen. „Ich bin Krankenschwester“, sagt Melody, und die Schülerinnen der Epsworth Secondary School in Harare reißen die Augen auf und klatschen spontan in die Hände. Sie wollen Rechtsanwältin, Ärztin, Pilotin, Buchhalterin werden. Ihre Träume sind groß, doch die Wirklichkeit ist anders. Armut, Krankheiten, Arbeitslosigkeit, schlechte Schulbildung – weniger als 70 Prozent der Schülerinnen und Schüler beenden überhaupt die Grundschule.

„Stell dir vor, du besuchst eine Schule ohne Toiletten oder Trinkwasser“, schildert mir Melody eindringlich die Situation an den Schulen. „Stell dir vor, es gibt nur eine Toilette für alle Schülerinnen und Schüler. Dort stinkt es, es gibt kein Toilettenpapier, und die Tür lässt sich nicht abschließen. Stell dir vor, du gehst dorthin, wenn du krank bist durch Malaria oder Durchfall. Stell dir vor, du gehst dorthin, während du deine monatliche Periode hast, und diese ist auch noch extrem schmerzhaft.“

Ich sehe, fühle und rieche es. Natürlich halten das die Mädchen nicht aus. Während ihrer Menstruation bleiben sie zu Hause, denn die meisten können sich Binden oder Tampons nicht leisten. Sie verpassen wichtige Prüfungen und brechen die Schule ab. Ich freue mich noch immer über jede festliche Einweihung von getrennten Schultoiletten, an der ich teilgenommen habe. Deswegen gehen jetzt mehr Mädchen in die Schule.

Nepal 2015: Schule schützt vor Verschleppung

In einem 3000 Meter hoch gelegenen nepalesischen Bergdorf ist die Luft dünn und die Sonne stechend. Den Frauen, die dort an der Ausgabestelle für Reis, Zeltplanen, Öl, Mais, Hygieneartikel und Wasserbehälter anstehen, ist die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Sie sind oft bis zu einer Stunde durch die steilen Berge gelaufen, um ihren Familien das Überleben für die nächsten Monate zu sichern. Ihre ohnehin schon kargen Vorräte wurden unter den Trümmern ihrer Häuser bei zwei großen Erdbeben wenige Wochen zuvor begraben.

Insgesamt starben im Frühjahr 2018 fast 9000 Menschen. Pratigya ist erst 17 Jahre alt und hat beide Beben allein mit ihrem 13 Jahre alten Bruder in dem Bergdorf in der Region Dolakha überstanden. Ihre Eltern wohnen und arbeiten in Kathmandu, alle Verantwortung für das Leben ihres Bruders und ihr eigenes lag in ihrer Hand. Die letzten Wochen seit den Beben hat sie damit verbracht, das Haus aufzubauen und die Ernte einzuholen. „Heute konnte ich wieder in die Schule gehen“, erzählt sie mir und strahlt. Dass sie zunächst in einem provisorischen Gebäude aus Holz untergebracht ist, ist ihr egal.

Die Linien in ihrem Heft sind akkurat beschrieben, sie will lernen und in den nächsten Wochen ihre Prüfung nach der 10. Klasse bestehen. Die Wiedereröffnung der Schulen gibt den Kindern ein wenig Sicherheit zurück. Die Gefahr, dass sie nie wieder zur Schule gehen, steigt in Notsituationen mit jedem Tag. Schule bietet ihnen einen Schutzraum vor Ausbeutung und Verschleppung. Die Uno schätzt, dass ohnehin jährlich bis zu 15.000 Mädchen und junge Frauen aus Nepal verschleppt werden. Sie enden als Haushaltshilfen oder Prostituierte in den Nachbarländern.

Osttimor 2016: Mein Patenkind Florinda und die Wasserleitung

Veränderung kann manchmal so einfach gelingen und hat nur diese wenigen Worte: sauberes Wasser. Das kleine abgelegene Dorf an der Nordküste von Osttimor liegt etwa drei Kilometer von der Wasserquelle entfernt. Als mir der Vorsteher des Wasserkomitees der Gemeinde stolz erklärt, wie sie gemeinsam mit Spezialisten das Rohrsystem entwickelt haben, das nun die einzelnen Familien mit einem direkten Wasseranschluss versorgt, habe ich Bilder aus Äthiopien im Kopf. Dort habe ich am Eindrücklichsten erlebt, was es bedeutet, wenn diese Wasserrohre fehlen. Sie werden ersetzt durch die Mädchen. Ihre Aufgabe ist es, täglich Wasser zu holen.

Schwere Kanister oder Gefäße tragen sie auf den Schultern oder auf dem Kopf und bringen in stundenlangen Märschen das Wasser aus dem Tal in die Berge. Schritt für Schritt bahnte sich diese Mädchen-Karawane täglich den schweren Weg. Die begleitenden Männer tragen nichts. So wird es in diesem Dorf in Osttimor auch gewesen sein. Nun aber haben die Bewohner nicht nur selbst Verantwortung übernommen und die Wasserversorgung mitgestaltet.

Die Familien bauen jetzt auch Gemüse an, die Kinder wachsen gesünder auf, haben keinen Durchfall, und das Einkommen durch den Gemüseverkauf investieren die Eltern wieder in die Bildung der Kinder. Die Mädchen gehen zur neu ausgestatteten Schule nebenan anstatt Wasser zu holen. Und das Schönste ist: Dazu gehört auch mein Patenkind Florinda, die ohne Scheu sofort mit den mitgebrachten Stiften ihre ersten Worte schreibt.

Jhazmina ist 21 Jahre alt – und Bürgermeisterin von La Playita, einem Dorf im
Westen von Ecuador, das schwer von einem Erdbeben getroffen wurde.
Jhazmina ist 21 Jahre alt – und Bürgermeisterin von La Playita, einem Dorf im Westen von Ecuador, das schwer von einem Erdbeben getroffen wurde. © Anika Büssemeier/Plan International | Anika Büssemeier/Plan International

Ecuador 2018/2019: Jhazmina – eine junge Frau wird Bürgermeisterin

Es ist eine fröhliche Runde von Frauen, die in der staubigen Hitze in einem kleinen Dorf an der Küste Ecuadors zusammensitzt. Hier prallt – wie so oft – die bezaubernde Schönheit der Landschaft mit dem türkisblauen Meer und hellen Sandstränden auf die hässlichen Seiten von Armut. Bretterhütten, Müll, keine Sanitäranlagen, Hunger, Gewalt. Und hier treffen die Lebenswirklichkeiten von unserer kleinen Gruppe, aus Managerinnen, Journalistin und Fotografin aus Deutschland auf die Frauen dieses Dorfes. Sie haben fünf, sieben oder mehr Kinder, die sie oft in so jungem Alter geboren haben, dass sie selbst nicht mehr zur Schule gehen konnten. Die Gewalt von Männern gegen Frauen und Kinder ist allgegenwärtig, die Last des Alltags an der Überlebensgrenze lässt wenig Raum, ihren Kindern ihre Liebe zu zeigen.

Was denken sie, wenn wir erzählen, dass wir keine oder nur ein oder zwei Kinder haben und diese auch erst geboren wurden, als wir schon 30 Jahre und älter waren? Sie lachen ungläubig. Ist das möglich? Unsere Augen sind alle auf Jhazmina gerichtet. Die erst 21-Jährige ist der Mittelpunkt unserer Runde. Sie hat diese natürliche Gabe zu führen und allen Frauen in dieser Runde eine Stimme zu geben. Ihre größte Bewunderin scheint ihre Mutter zu sein, selbst erst 37 Jahre alt, ihr jüngstes Kind ist jünger als Jhazminas Sohn.

Als das Dorf nach dem schweren Erdbeben 2016 zerstört und die Menschen traumatisiert waren, traf Jhazmina auf die Plan-Mitarbeiterin Soraya, die ihre Kraft zum Leuchten brachte. Sie engagierte Jhazmina zur Betreuung der Kinder im Kinderschutz­zentrum. Mutig wurde sie zu Macherin. „Ich musste zu jedem Haus gehen und die Frauen überzeugen, mit ihren Kindern zu uns in die Kinderschutzräume zu kommen“, sagte sie. „Ich wollte, dass wir nicht länger schweigen, sondern eine Gemeinschaft werden.“ Das sind sie jetzt – und Jhazmina ist ihre Bürgermeisterin. Seitdem gibt es wieder Strom und erstmals einen Dorfladen, den die Frauen als Kooperative betreiben. „Jetzt passen auch die Männer auf unsere Kinder auf“, sagen sie und lachen.

Maike Röttger besuchte auch die Frauen von Maiduguri in Nigeria, einem weiteren Projektgebiet von Plan International.
Maike Röttger besuchte auch die Frauen von Maiduguri in Nigeria, einem weiteren Projektgebiet von Plan International. © Plan International | Plan International

Nigeria 2019: Lesen lernen gegen den Terror

Einen schrecklicheren Ort, um als Mädchen und Frau zu leben, kann ich mir nicht vorstellen. Gwoza im Nordosten Nigerias an der Grenze zu Kamerun. Hier hatte die Terrorgruppe Boko Haram, deren erklärtes Ziel es ist, die Bildung von Mädchen und Frauen zu bekämpfen, 2014 die Hauptstadt des Kalifats ausgerufen. Als ich dort fünf Jahre später mit dem UN-Hubschrauber lande, sehe ich in die Kanonenrohre von zwei Panzern. Leben im Ausnahmezustand.

Die Terrorangriffe und das Vorgehen des Militärs haben eine ganze Region um das Tschadseebecken unzugänglich gemacht und das Leben von mehr als 17 Millionen Menschen zerstört. Doch sobald eine Stadt befriedet wird, kehren die Menschen hoffnungsvoll zurück, und neues Leben entsteht zwischen Ruinen und ausgebombten Fahrzeugen. In einem hellblau gestrichenen Haus warten in dem einzigen Raum etwa 50 Frauen auf mich. In diesem sehr islamisch geprägten Teil Nigerias haben sie die Schleier, die sie über ihren bunten Gewändern tragen, unter dem Kinn zusammengenäht. Sie sitzen auf dem Boden in diesem geschützten Raum, den nur Frauen betreten dürfen. Hier teilen sie ihre Erlebnisse und machen Pläne für die Zukunft. Die meisten sind Analphabetinnen – jetzt sind sie stolz, dass sie hier lesen und schreiben lernen. Genau das, was Boko Haram mit Waffen bekämpft. Deren Kämpfer, so heißt es, leben noch immer hinter der nächsten Bergkette.

Nigeria 2019: junge Frauen bei „Lesen lernen gegen den
Terror“ im Safe House in Gwoza.
Nigeria 2019: junge Frauen bei „Lesen lernen gegen den Terror“ im Safe House in Gwoza. © Plan International | Plan International

Maimuna ist 17. Ihr leuchtend orangefarbener Schleier zeigt, dass sie sich nicht mehr verstecken will. Endlich könne sie wieder in die Schule gehen, sagt sie - nach vier Jahren auf der Flucht. Sie musste mit den Terroristen zusammenleben. Fatima, ebenfalls 17 Jahre, floh 2014 aus Gwoza. Als sie zurückkehrte, musste sie einen Kämpfer heiraten. Die wenigen Sätze der Mädchen lassen die Abgründe erahnen, aus denen sie sich herausgearbeitet haben. Eine andere, Fatima – Mutter von drei Töchtern und fünf Jungs – ballt unter ihrem lindgrünen Schleier die Hand zur Faust, als sie ihren größten Wunsch für die Zukunft ausspricht: „Mädchen müssen zur Schule gehen. Sie dürfen nicht mehr nur als Objekt zum Heiraten gesehen werden.“

Maria ist Teilnehmende des Safer Cities Projektes in San Pedro de Carabayllo in Peru. Sie und ihr Freund Gonzalo haben
durch das Projekt viel über gleichberechtigte Beziehungen gelernt.
Maria ist Teilnehmende des Safer Cities Projektes in San Pedro de Carabayllo in Peru. Sie und ihr Freund Gonzalo haben durch das Projekt viel über gleichberechtigte Beziehungen gelernt. ©

Peru 2020: Mädchen gestalten sichere Städte

Lomas de Carabayllo ist eine arme Region im Norden Limas. Eine heiße, staubige, graue Wüstengegend. In dem Ort, den wir besuchen, ist alles von einer dicken Staubschicht überzogen. An der Längsseite des Platzes in der Dorfmitte stehen zwei Polizeiwagen mit zerstochenen Reifen, fast so, als hätten Recht und Gesetz den Ort hier vor Langem verlassen. Eine Befragung zum Thema Sicherheit in diesem Stadtteil ergab, dass sich über 90 Prozent der Mädchen in öffentlichen Verkehrsmitteln und auf Straßen unsicher fühlten und fast jedes Mädchen bereits sexuelle Übergriffe erlebt hatte.

„Seit ich klein bin, wünsche ich mir, dass ich ohne Angst auf die Straße gehen kann. Dass ich keinen Gedanken daran verschwenden muss, dass mich jemand blöd anquatscht, festhält oder begrapscht“, sagt die 15 Jahre alte Maria. Einmal pro Woche kommt sie nach der Schule im „Lujuxi“-Jugendclub im Rahmen eines Plan-Programms zu sicheren Städten (Safer Cities) mit anderen Jugendlichen zusammen, um genau das zu erreichen. Sie zeichnen Karten von ihrem Stadtteil und machen als unsicher erlebte Plätze sichtbar.

Ein verlassener Park, ein Kiosk, eine enge dunkle Gasse ohne Fluchtmöglichkeit, eine ungeschützte Bushaltestelle – das sind Orte der Angst. Die Behörden haben sogar schon auf die Hinweise der Jugendlichen positiv reagiert. Doch das allein reicht nicht. „Der Machismo ist unser größtes Problem“, sagt Maria. „Das Verhalten der Männer macht uns Angst, wir können uns hier nicht frei bewegen. Wenn ich nachmittags aus der Schule komme, muss ich an ihnen vorbei. Wir laufen freiwillig Umwege, manche Mädchen gehen aus Angst gar nicht zur Schule.“

Auch vier Jungen sind Teil der Gruppe. Ich frage Gonzalo, was seine Freunde sagen, dass er in der Gruppe mitmacht. „Sie sagten, Anmache sei doch völlig normal, so sei das nun mal hier in Peru. Das machten doch alle.“ Doch Gonzalo sieht das anders: „Bevor ich andere verändere, muss ich bei mir selbst anfangen“, sagt der Freund von Maria.

Hamburg: Awaz – Kinder schützen in Syrien und Deutschland

Als Awaz 2016 mit ihren Eltern und zwei Brüdern in der Erstaufnahme-Unterkunft an der Kieler Straße ankommt, fühlt sich ihre Zukunft vor ihren Augen „schwarz“ an. Die heute 26-Jährige muss sich zurechtfinden in einer Unterkunft mit 600 eng aufeinander lebenden Geflüchteten unterschiedlicher Nationen. Die Jura-Studentin spricht noch kein Deutsch, hat keine Aufenthaltserlaubnis und sucht nach dem „Startpunkt, an dem mir jemand sagt, von hier aus musst du weitergehen“.

Ihre Familie war über die Balkanroute aus dem zerstörten syrischen Homs geflohen. Schon dort hatte sich Awaz für die Rechte und den Schutz der Kinder engagiert und für UN-Organisationen und den Roten Halbmond gearbeitet. „Das ist mein Thema“, sagt sie. „Doch dort fehlt uns so eine Unterstützung wie von Plan.“ Als sie in Hamburg meine Kolleginnen und Kollegen vom Kinderschutzteam in der Unterkunft traf, war das einer ihrer Startpunkte.

Wir von Plan International hatten nach eingehender Analyse beschlossen, unsere Erfahrung aus Flüchtlingsunterkünften in der ganzen Welt erstmals auch zum Schutz der Kinder in Deutschland einzusetzen. Wir baten unsere spezialisierten Kolleginnen und Kollegen aus Kolumbien, Bangkok und London um Unterstützung und stellten fest: Die Probleme Geflüchteter sind überall auf der Welt gleich. Die Kinder müssen geschützt und die Geflüchteten beteiligt werden.

Dafür bildeten wir unter anderem eine Jugend-Gruppe, die Youth
Advocates, aus, zu denen bis heute Awaz gehört. Gemeinsam auch mit anderen jungen Geflüchteten befragt Awaz die Kinder und deren Eltern – oft zum ersten Mal überhaupt – zu ihrem Leben in der Unterkunft, erstellt eine Analyse, wo die Kinder in den Unterkünften gefährdet sind. Awaz beteiligt sich an der Ausarbeitung zu bundesweiten Mindeststandards zum Schutz Geflüchteter, entwickelt Kampagnen, sensibilisiert Politikerinnen und Politiker für die schwierigen Zustände für Kinder in den Unterkünften. Heute studiert Awaz Gesundheitswissenschaften und arbeitete lange beim TSG Sportverein Bergedorf als Integrationsbeauftragte.

Mit den Youth Advocates berät Awaz noch immer Plan International zum Kinderschutz. Das gibt ihr das Gefühl, dass „sie viel bewegen kann“. Auch wenn sie immer mal wieder hört, sie sei doch eine Frau und auch zu jung dafür. Aber sie ist sich sicher: „Ich möchte auch in Zukunft immer etwas verändern.“

Libanon 2019: Aufklärung für Mütter

Der Ausdruck auf den Gesichtern der jungen syrischen Frauen schwankt zwischen Erstaunen und Entsetzen. Ich sitze im Norden des Libanon in einem kleinen Raum eines Privathauses mit etwa 20 geflüchteten Frauen und darf bei ihrem Aufklärungskursus zuhören. Es geht darum, was mit dem weiblichen Körper bei Schwangerschaft und Geburt passiert. Obwohl die 15- bis 21-jährigen schon alle verheiratet und überwiegend auch Mütter sind, verfolgen sie die Worte der Kursleiterin ungläubig.

Sexuelle Aufklärung kennen sie bisher nicht. Das ist in ihrer Welt auch nicht vorgesehen. Es ist vielmehr so, dass sie so schnell wie möglich nach der Hochzeit schwanger werden müssen, sonst nimmt sich der Ehemann eine weitere Frau. Sie erzählen mir, dass sie das Haus nur mit Erlaubnis ihres Mannes verlassen dürfen. Keine von ihnen geht mehr zur Schule.

Doch sie fragen sich auch, wer die vielen Kinder der Familien ernähren kann, wo sie zur Schule gehen können und wie deren Perspektiven aussehen, wenn sie absehbar nicht nach Syrien zurückkehren können. Nur dort etwa könnten die Kinder überhaupt eine Geburtenregistrierung erhalten. Bis dahin sind die Kinder ohne Identität. Von den 1,5 Millionen syrischen Geflüchteten im Libanon leben mindestens die Hälfte unter der Armutsgrenze.

„Ich habe jetzt mit meinem Mann besprochen, dass ich unter diesen Umständen kein weiteres Kind bekommen möchte“, sagt die Mutter eines Sohnes. Sie ist sehr klar in ihrer Überzeugung. Die anderen Frauen sehen sie bewundernd an. Was hat ihr Mann gesagt? „Wir haben vereinbart, dass er sich eine zweite Frau nehmen kann.“

Diese junge Frau hat ihre Chance ergriffen, doch um sie zu verwirklichen, zahlt sie einen Preis dafür. Sie hält das aus. Die Atmosphäre in dem Raum ist so angespannt, dass ich mich nicht traue, sie nach ihrem Namen zu fragen. Als ich das Haus verlasse, warten vor der Tür die Männer in ihren Autos auf ihre Frauen. Es fühlt sich mehr wie bewachen an. Mir schnürt es fast die Luft ab.

Kanada: Junge Frauen fordern Macht

Das Konferenzzentrum im kanadischen Vancouver vibriert im Juni 2019 förmlich unter der Energie und Kraft von mehr als 8000 Teilnehmenden aus 169 Ländern – fast ausschließlich Frauen. Women Deliver versammelt alle drei Jahre die Einflussreichen und die Ungesehenen, um den Rechten der Frauen und Mädchen Gehör zu verschaffen.

Jung und alt, Frauen und Männer, globaler Süden und Norden, Nichtregierungsorganisationen, Politik und Gesellschaft diskutieren und ringen um die Chancen für Gleichberechtigung. Für die 21 Jahre alte Jura-Studentin Kim aus Hamburg ist vor allem die Gruppe aus zehn jungen Menschen aus der ganzen Welt, die Plan International als „Global Youth Influencer“ im Juni 2019 nach Kanada entsendet, die Inspiration. Gemeinsam mit ihren tritt sie in Diskussionsrunden auf, leitet Workshops. „Mit anderen in Austausch zu treten ist Aufgabe und zugleich auch ein Privileg, dass es für uns möglich ist“, sagt sie.

Sie ist beeindruckt zu erleben: „Es ist weltweit möglich, Kontakte zu knüpfen und Allianzen mit Menschen, denen die gleichen Dinge am Herzen liegen, die aber aus ganz unterschiedlichen Kontexten und Perspektiven darauf blicken.“ Ihr selbst ist klar, dass sie eine „weiße und eurozentrierte Perspektive“ einnimmt und daraus auch ihre Interpretation von Geschlechtergerechtigkeit resultiert. Das beschäftigt sie seitdem.

Es sind die Stimmen dieser jungen Frauen, die auch ich von der Konferenz immer noch im Kopf habe. Nicht Kanadas Premier Justin Trudeau setzt den Ton mit einer Rede, in der er sagt: „Ich bin ein Feminist.“ Es ist Natasha ­Mwansa aus Sambia, die es auf dem Podium nicht auf dem Stuhl hält. „Alles, was ihr für uns tut, aber ohne uns, ist gegen uns“, ruft sie. „Wir wollen keine Almosenempfängerinnen mehr sein. Gebt uns Kraft. Beteiligt uns!“ Kein Land der Welt hat bisher Gleichberechtigung erreicht. Umso wichtiger ist es, so meint auch Kim, über globale Lösungen zu sprechen. Ihr habe der Austausch „ex­trem viel Selbstbewusstsein“ gegeben.

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All diesen Mädchen und Frauen zuzuhören, war eine große Bereicherung. Ihnen nun diese Aufmerksamkeit zu geben, ist eine große Freude. Stellen wir uns vor, mein Patenkind Florinda wird eines Tages Lehrerin, Natasha wird Präsidentin von Sambia, Awaz erneuert das Gesundheitswesen, Jhazmina bleibt viele Jahre Bürgermeisterin, Maimuna lernt lesen und schreiben und verdient ihr eigenes Geld.

Stellen wir uns vor, alle Mädchen erhalten diese Chancen, die ihnen zustehen. Dann werden aus ihnen starke Frauen, die die Welt gerechter und friedlicher gestalten – auch für die Männer. Was wir dafür brauchen, ist eigentlich ganz einfach: Hören wir den Mädchen zu und ermöglichen ihnen Teilhabe. Überzeugen wir die Politik, Gleichberechtigung zu einem Kernanliegen zu machen, um Armut wirksam zu bekämpfen. Und zu guter Letzt ein Appell vor allem – aber nicht nur – an männliche Entscheidungsträger: Habt keine Angst vor Veränderung!