Hamburg. Wolfgang Klaushaar, ein Alleswisser auf dem Gebiet RAF, vermutet: Topterroristin Angela Luther lebt im Ausland unter falschem Namen.
Immer wieder weist die Spur des Terrors nach Norddeutschland – bis zum heutigen Tag. „Hamburg war für die RAF eine enorm wichtige Stadt“, sagt der Wissenschaftler und Autor Wolfgang Kraushaar. Das vor Kurzem in einem Waldstück zwischen Hittfeld und Jesteburg zufällig entdeckte Erddepot mit Hinterlassenschaften linksextremistischer Gewalttäter verdeutlicht: Details der spektakulären Mordanschläge von vor fast einem halben Jahrhundert sind nach wie vor ungeklärt. Nicht alle Täter wurden identifiziert oder gefasst
„Nicht jedes Geheimnis wird gelüftet werden“, meint Kraushaar. Der promovierte Politologe machte sich als Chronist der 1968er-Protestbewegung einen Namen und gilt als führender For-scher in Sachen Linksterrorismus. 1987 engagierte ihn der Literaturwissenschaftler und Mäzen Jan Philipp Reemtsma für das von ihm gegründete, finanzierte und auch geleitete Hamburger Institut für Sozialforschung.
Archiv zu Linksterrorismus: RAF im Fokus
Dort initiierte Wolfgang Kraushaar den Aufbau eines der umfangreichsten Archive Deutschlands auf dem Gebiet Protestbewegung und Linksterrorismus. Es umfasst Dokumente, Briefe, Zeitungsausschnitte und Bücher. Insgesamt werden auf mehr als 120 Regalmetern gut 100.000 Seiten aufbewahrt; 80 Prozent davon beinhalten den Komplex RAF. Wer Hintergründe einer aufregenden Ära deutscher Nachkriegsgeschichte sucht, kann in den stilvoll restaurierten Altbauten an der Feldbrunnenstraße und am Mittelweg fündig werden.
Wenn die RAF im Fokus steht, weiß hierzulande kaum jemand mehr als Wolfgang Kraushaar. Er veröffentlichte mehr als 30 Bücher, hielt mehr als 1000 Vorträge. Der 72-Jährige hegt einen einmaligen Erinnerungsschatz – teilweise im Gedächtnis gespeichert. Bei Bedarf greift er auf sein in Jahrzehnten aufgebautes Privatarchiv zurück, das in Dutzenden Stahlcontainern gelagert ist.
Versteck bei Hamburg war Depot der Revolutionären Zellen
„Natürlich hat das öffentliche Interesse durch die Entdeckung des Erdverstecks südlich Hamburgs zugenommen“, sagt der in Nordhessen aufgewachsene Wissenschaftler bei Kaffee und Brioche im zweiten Stockwerk der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur nahe der Rothenbaumchaussee.
Entgegen ersten Vermutungen handelte es sich bei den Funden nicht um ein Depot der Roten Armee Fraktion (RAF), sondern der Revolutionären Zellen. Darauf deuten Drucksachen wie das Zirkular „Revolutionärer Zorn“ hin. Die Untergrundorganisation bildete sich nach Verhaftung führender RAF-Terroristen und war zwischen 1973 und 1993 aktiv.
RAF werden 34 Morde angelastet
Das fast dreistündige Gespräch mit Wolfgang Kraushaar ist spannend wie ein Krimi. Immer wieder springt der Forscher auf, zieht eines seiner Bücher aus den Regalen, holt Fotos und Karteikarten. Existiert dieses Schweigegebot tatsächlich?
Dieses Gelübde der Drahtzieher, niemals etwas von den Terrorakten preiszugeben. Vor der selbst verkündeten Auflösung 1998 werden der RAF 34 Morde zur Last gelegt. Auch der Generalbundesanwalt Siegfried Buback und der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer fielen dem politisch motivierten Terror zum Opfer.
Topterroristin Angela Luther wurde niemals gefunden
Nicht nur einmal hatten die Fahnder Hamburg im Visier. In der Hansestadt kam es im Juli und Oktober 1971 zu den ersten beiden Todesopfern: dem 20 Jahre alten RAF-Mitglied Petra Schelm und dem Polizeibeamten Norbert Schmid. Niemals gefunden wurde die Topterroristin Angela Luther, Tochter eines namhaften Juristen aus Blankenese und erste Ehefrau des Schauspielers und Regisseurs Hark Bohm.
Im Gegensatz zu Quellen, die sie längst nicht mehr am Leben wähnen, meint Wolfgang Kraushaar: „Ich hege die starke Vermutung, dass Angela Luther unter einer Legende im Ausland lebt.“ Stimmt das, ist sie heute 81 Jahre alt und weiß: Mord verjährt nicht.
Anwaltstochter fungierte als Lockvogel
Nicht minder rätselhaft sind die genauen Beweggründe der Terroristin Susanne Albrecht. Beim Mord am Bankier Jürgen Ponto im „Terrorjahr“ 1977 in Oberursel fungierte die Tochter eines Seerechtsanwalts aus den Elbvororten als „Türöffner“: Mit einem Blumenstrauß in der Hand machte sie den Weg frei für die Todesschützen.
Nach dem Zusammenbruch der DDR wurde Frau Albrecht verhaftet und vor Gericht gestellt. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis arbeitete sie als Lehrerin in Bremen. Fakten wie diese hat Wolfgang Kraushaar im Kopf. In einigen Fällen kennt er Wohnorte und Straßennamen ehemaliger Gewalttäter.
Arbeiten von Kraushaar basieren auf Diskretion
Der Sohn des beim Attentat auf die deutsche Botschaft in Stockholm erschossenen Diplomaten Andreas von Mirbach arbeitet aktuell als Partner in einer Anwaltskanzlei in der Nähe der Landungsbrücken. In Buchbeiträgen und Diskussionen nahm er mehrfach öffentlich Stellung zu den grausamen Vorfällen der 7oer-Jahre.
Kontakte zu Persönlichkeiten wie Clais von Mirbach nutzt Kraushaar für seine wissenschaftlichen Recherchen. Trotz der Vielzahl von Büchern, Artikeln und Vorträgen ist Diskretion Basis seiner Arbeit. Da immer mehr Zeitzeugen des Terrors (eines natürlichen) Todes sterben, können nach und nach Hintergrundinformationen preisgegeben wer-den. Nach dem Ausscheiden als aktiver Mitarbeiter der Reemtsma-Stiftungen könnten diese in Jahrzehnten gesammelten Erkenntnisse vielleicht noch in ein finales Buch zum Thema RAF einfließen.
Beziehung zwischen Terroristen und Staatssicherheit unklar
Apropos: Kraushaars Kollegin und Ehefrau Karin König, die ebenfalls in beiden Reemtsma-Stiftungen wirkte, veröffentlichte just eine Biografie mit ergreifendem Inhalt. Sie schildert das Leben des aus dem Erzgebirge stammenden Oberschülers Hermann Flade. Wegen seiner Flugblätter gegen das DDR-Regime wurde der 18-Jährige in einem Schauprozess zum Tod verurteilt. Nach einer internationalen Protestwelle folgte eine langjährige Haftstrafe. Später setzte er sich in den Westen ab.
Letztlich besteht indirekt ein Zusammenhang. Die Beziehungen zwischen den Terroristen und der Staatssicherheit der DDR wurden niemals restlos aufgedeckt. Fest steht, sagt Wolfgang Kraushaar, dass es in Hamburg nach Kriegsende Verflechtungen zwischen der verbotenen KPD und der Terrorszene gegeben habe. „Nach wie vor leben in unserer Stadt Leute, die den RAF-Terror feiern“, ergänzt der Politikwissenschaftler.
Schwester von Terroristin arbeitete im Archiv
Nur Eingeweihte wissen, dass die Journalistin Christiane Ensslin, ältere Schwester der ehemaligen Topterroristin Gudrun Ensslin, viele Jahre im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung arbeitete. Die vor zwei Jahren verstorbene Mitbegründerin der Zeitschrift „Emma“ gehörte einem namhaften Quartett an, das Anfang der 1990er-Jahre beisammensaß.
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Es ging, kurz gesagt, um RAF-Dokumente in der Gauck-Behörde, also um ehemalige Stasi-Akten. Neben dem späteren Bundespräsidenten Joachim Gauck und Christiane Ensslin saßen die DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley (Neues Forum) und der Wahlhamburger Wolfgang Kraushaar am Tisch.
Kraushaar bereicherte Stiftung mit Dokumenten zur RAF
Durch diese Initiative gelangte ein historischer Schatz in die Hansestadt. Kraushaar ist ein Mann dezenter Töne. Erst auf Nachfrage bestätigt er, den Dokumentenfundus der Stiftung erheblich bereichert zu haben.
Durch seine Vermittlung kamen Bestände mit einmaligem Inhalt in das Institutsarchiv. Es handelt sich um die kompletten Nachlässe des Studentenanführers Rudolf „Rudi“ Dutschke sowie der berühmt-berüchtigten „Kommune 1“. Aus Letzterer war hierzulande der linke Terrorismus teilweise mit entstanden.