Hamburg. Bestimmte schwer kranke Patienten sollen früher zum Zug kommen. Aber das Verfahren hat Tücken. Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Als Luise S. (Name von der Redaktion geändert) am vergangenen Mittwoch die frohe Botschaft vernahm, war sie nur noch erleichtert: „Sie können sich nicht vorstellen, was diese Nachricht für mich bedeutet hat“, sagt die 78-Jährige im Gespräch mit dem Abendblatt. Bereits am Donnerstag erhielt sie im Impfzentrum die erste von zwei Corona-Schutzimpfungen.

Die zuständige Sozialbehörde hatte ihren Antrag auf eine vorzeitige Impfung zunächst abgelehnt. Luise S. wollte schnellstmöglich den Corona-Schutz, da sie vor zwei Wochen eine Chemotherapie gegen ihren Lungentumor begonnen hat. Dann soll sie operiert werden. Aus medizinischer Sicht gilt sie als Hochrisiko-Patientin, eine Covid-19-Infektion könnte sie für tödlich sein. Zudem pflegt Luise S. ihren Mann. Der 90-Jährige hat wegen seiner fortgeschrittenen Demenz und weiteren Krankheiten den höchsten Pflegegrad 5.

Dass sie nun doch geimpft wurde, hat sie vor allem den Hamburger Anwälten Oliver Tolmein und Jascha Arif zu verdanken. Arif hatte im Januar in einem vergleichbaren Fall dafür gesorgt, dass eine Krebspatientin vorzeitig geimpft wurde. Damals stellte der Jurist einen Eilantrag vor dem Verwaltungsgericht. Nach entsprechenden Signalen der Richter, so Arif, lenkte die Behörde ein, die Mandantin erhielt die vorzeitige Impfung. Seitdem haben sich so viele Betroffene an den Juristen gewandt, dass er keine weiteren Mandate mehr annehmen kann.

Auch in anderen Stadtstaaten und Bundesländern wollen chronisch Kranke und Krebspatienten ihre vorzeitige Impfung durchsetzen, da eine Covid-19-Infektion für sie fatal sein könnte. Die am Montag in Kraft getretene Impfverordnung dürfte die juristische Auseinandersetzung weiter befeuern. Das Abendblatt beantwortet die wichtigsten Fragen.

Was hat sich durch die neue Corona-Impfverordnung geändert?

Grundsätzlich bleibt es bei dem System der Gruppeneinteilungen. Die „höchste Priorität“ haben Seniorinnen und Senioren über 80, Pflegeheimbewohner, Pflegekräfte in Heimen oder bei ambulanten Diensten und Beschäftigte in medizinischen Einrichtungen mit hohen Infektionsrisiken (etwa Intensivstationen, Notaufnahmen). In der zweiten Gruppe („hohe Priorität“) folgen die über 70-Jährigen, Menschen mit Demenz oder geistiger Behinderung sowie Berufsgruppen wie Polizisten oder Rettungskräfte. In der dritten Gruppe („erhöhte Priorität“) sind dann die über 60-Jährigen sowie Berufsgruppen wie Lehrer und Erzieher an der Reihe.

Bislang waren in dieser Gruppe auch Risikopatienten. Krebskranke mit zu behandelnden Tumoren oder Patienten mit schwerer chronischer Lungen-, Leber-, Nierenerkrankung oder Adipositas rutschen nun in die Gruppe zwei (hohe Priorität).

Welche Kritik gibt es an diesem Verfahren nun?

„Das ist viel weniger, als zuletzt erreicht wurde“, sagt Jurist Arif. Hintergrund: Die Ständige Impfkommission (Stiko) hat empfohlen, „in Einzelfällen Personen, die nicht ausdrücklich im Stufenplan genannt sind, angemessen zu priorisieren“, die Stiko nennt dabei auch ausdrücklich „Personen, die zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr oder nicht mehr gleich wirksam geimpft werden können (z.B. bei unmittelbar bevorstehender Chemotherapie)“.

Das Problem: Laut neuer Impfverordnung gilt diese Öffnungsklausel nur innerhalb der jeweiligen Gruppe. Risikopatienten können zwar nun regulär in ihrer neuen Gruppierung „hohe Priorität“ früher an die Reihe kommen – aber voraussichtlich erst in mehreren Wochen oder gar Monaten. Denn erst Ende März sollen alle Angehörigen der Gruppe „höchste Priorität“ ein Impf-Angebot erhalten haben.

Wie groß sind die juristischen Chancen für Risiko-Patienten?

Ungewiss. In der Mail der Sozialbehörde an Luise S. heißt es, man habe „ohne Präjudiz“ entschieden, also ohne Anerkennung einer Rechtspflicht. Gerichte urteilen unterschiedlich. So verpflichtete das Frankfurter Verwaltungsgericht die zuständige Behörde, einen zu 100 Prozent schwerstbehinderten Antragsteller vorrangig zu impfen. Mit seiner Lähmung unterhalb des Halswirbels gehöre er zur Hochrisikogruppe bei einer Covid-19- Erkrankung und würde „mit Sicherheit beatmungspflichtig werden“.

Dagegen scheiterte ein 78-Jähriger mit einer akuten Leukämie-Erkrankung vor dem Verwaltungsgericht München. Das hohe Alter in Kombination mit einer Krebserkrankung stelle „keinen atypischen Fall dar, der eine Abweichung von der Soll-Vorgabe erlauben würde“.

Was plant die Sozialbehörde?

Ein entsprechendes Verfahren zur Prüfung von Einzelfällen wird vorbereitet. Details sollen bald bekanntgegeben werden.

Droht Chaos, wenn es zu einer Fülle von Einzelfall-Entscheidungen kommt?

Die Impfverordnung zielt – vereinfacht gesagt – darauf ab, möglichst viel gesundheitlichen und gesellschaftlichen Schaden durch die Pandemie abzuwenden. Bei dieser Frage sei das Alter der entscheidende Faktor. Bei Hochbetagten sei die Gefahr groß, dass sie mit einer Covid-19-Erkrankung auf einer Intensivstation landen. Eine Überlastung müsse verhindert werden. Daher brauche es pauschale Regelungen, um möglichst schnell möglichst viele Bürger zu impfen.

Arif hält diese Argumentation für zynisch: „Für Menschen, die an einer schweren chronischen Erkrankung leiden oder sich in einer Chemotherapie befinden, kann die Impfung eine Frage auf Leben und Tod sein. Es kann nicht sein, dass ein fitter 80-Jähriger dennoch vorrangig geimpft wird.“ Er plädiert für vereinfachte Härtefallregelungen, von denen auch die profitieren, die den juristischen Weg scheuen.

Wann ist aus medizinischer Sicht eine vorrangige Impfung für Krebspatienten wichtig?

Der Onkologe Dr. Erik Engel in seiner Praxis in Altona.
Der Onkologe Dr. Erik Engel in seiner Praxis in Altona. © Michael Rauhe | Unbekannt

„Es ist nicht sachgerecht, grundsätzlich alle Krebspatienten in die Gruppe 1 zu priorisieren“, sagt Dr. Erik Engel, Vorsitzender des Hamburger Berufsverbands der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen (BNHO). „Wer auf einer Intensivstation Covid-19-Patienten versorgt, sollte beispielsweise vor einem Patienten versorgt werden, dessen Krebserkrankung sehr gut kontrolliert ist und sich bezüglich einer Corona-Ansteckung vorsichtig verhält.“

Anders verhält es aus Sicht von Engel, Mediziner an der Hämatologisch-Onkologischen Praxis Altona, bei Erkrankungen des blutbildendes Systems, etwa bei Leukämien: „Diese Krankheiten gehen mit einer zellulären Immunschwäche einher, so dass der Körper sich nur eingeschränkt gegen eine SARS-CoV-2-Infektion wehren kann.“ Auch Patienten mit fortgeschrittenen Tumoren oder unter laufender Therapie hätten wegen ihrer „hier durch bedingten Immunschwäche ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf“.

Kann eine Impfung für Krebspatienten zu riskant sein?

Laut Engel gibt es „nach bisheriger Erkenntnis keine Erkrankung, bei der die Impfung zu riskant wäre, weil bei der Coronaimpfung kein infektiöses Material verimpft wird. Wohl aber gibt es Erkrankungen oder Therapiefolgen, bei denen eine Impfantwort reduziert sein kann, so dass die Impfung in diesen Fällen erst zu einem geeigneten Zeitpunkt – beispielsweise drei bis sechs Monate später – erfolgen sollte."

Wirkt eine Impfung überhaupt bei Patienten, deren Immunsystem durch eine Chemo gerade stark angeschlagen ist?

Dazu sagt Engel: "Man kann auf keinen Fall sagen, dass durch eine Tumortherapie das Immunsystem generell angeschlagen ist und keine Impfantwort produzieren kann. Es könnte sein, dass der Impfschutz geringer ausfällt, dennoch gilt angesichts der erhöhten Sterblichkeit an Covid-19 die klare Empfehlung, die oben genannten Patienten auch unter einer Therapie zu impfen, insbesondere auch deshalb, weil es keinerlei Hinweise für eine schädliche Wirkung der Impfstoffe gibt.

Es gibt allerdings spezifische, immunsupprimierende Therapien, die eine gute Impfantwort für mehrere Monate erschweren, so dass diese Patientengruppe am besten vor Beginn einer solchen Therapie geimpft werden sollte."