Merz' Niederlage zeigt, dass nicht mal mehr die CDU konservativ sein will. Doch diese Stimme wird in der Demokratie dringend benötigt.
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie tot der deutsche Konservativismus ist, die Wahl zum neuen CDU-Chef hätte ihn erbracht: Die Delegierten entschieden sich am vergangenen Sonnabend für Armin Laschet und ein „weiter so“ – nicht für den früheren Fraktionschef Friedrich Merz, der an der Basis auch elf Jahre nach seinem politischen Rückzug beliebt ist und in allen Umfragen regelmäßig vor dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten landete. Der Erfolg ist nicht nur einer überzeugenden Rede Laschets geschuldet – sondern auch einer breiten Ablehnung in Kanzleramt, Parteiestablishment und Medien.
Merz galt als Kandidat einer vergangenen Zeit, wurde in den sozialen Medien oft angefeindet und in den öffentlich-rechtlichen Medien kurzgehalten: Er bekam kaum freundliche Presse, in Talkshows wurde er viel weniger eingeladen als seine Konkurrenten. Das große Porträt der „Tagesschau“ trug den Titel „Der Polarisierer“.
Strategie der CDU war bis zuletzt erfolgreich
Nun kann man sicher vieles am Auftreten des Sauerländers kritisieren, seinen Wahlkampf und seine Schwerpunkte, vor allem seine Eitelkeit – es überrascht aber, mit welcher Wucht dieser Mann von der „FAZ“ bis zur „taz“, von Onlinemedien bis zur „Tagesschau“ abqualifiziert wurde. Ging es dabei nur um Merz oder auch darum, die Rückkehr der „alten CDU“ zu bekämpfen und damit jedes konservative Gedankengut?
Die Strategie der CDU war bis zuletzt erfolgreich und wurde als „Merkels Kurs der Mitte“ extrem freundlich begleitet. Aber decken sich veröffentlichte und öffentliche Meinung? Der konservative Historiker Andreas Rödder (CDU), Autor des Buches „Konservativ 21.0“, hat es auf den Punkt gebracht: „Innerhalb der Union hat sich in den politischen Entscheidungsprozessen der Begriff ‚Wir müssen das Thema abräumen‘ verbreitet. Ich kann davor nur warnen: Wer immer nur abräumt, was andere auftischen, wird zum Tellerwäscher des Zeitgeistes.“
Wohin weht der Zeitgeist?
Die spannende Frage lautet, was der Zeitgeist will, wohin er weht – und wohin die Union treibt. Denn allem Gegenwind zum Trotz hat ja fast die Hälfte der Delegierten der letzten verbliebenen Volkspartei Merz gewollt. Er war geradezu eine Projektionsfläche für ein Denken, das in der Republik zwar breit vertreten ist, aber kaum noch verbreitet wird.
Wo kommen konservative Stimmen noch vor? Merz steht für einen Kurs, der bis vor einem Vierteljahrhundert hierzulande stets mehrheitsfähig war, für den man sich heute hingegen oft rechtfertigen, ja fast entschuldigen muss. Hat sich die Gesellschaft so verändert? Oder hat sich nur das Bild der Gesellschaft verändert? Ja, haben Medien und Politik ein Zerrbild von dem, was viele denken? Sind die Positionen der linksgrünen „kulturellen Hegemonen“ allgegenwärtig, während anderslautende Positionen nur verschämt Platz bekommen oder gar moralisch abqualifiziert werden?
Was in der Flüchtlingskrise deutlich wurde
Ulrich Greiner, Ex-Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg, schreibt in seinem klugen Buch „Heimatlos“: „Als Konservativer bin ich insofern heimatlos, als die Leitmedien, von den tonangebenden Zeitungen bis hin zu den öffentlich-rechtlichen Anstalten, ganz überwiegend einen Anpassungsmoralismus pflegen, der gegensätzliche Meinungen keinen Resonanzboden bietet. Das gilt für die politische Parteien erst recht.“
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Besonders deutlich wurde das in der Flüchtlingskrise 2015: Während Politik und Medien verzückt Beifall klatschten, waren in Umfragen beträchtliche Teile der Bevölkerung skeptisch. Diese Position blieb zu lange ungesehen, ungehört, unberücksichtigt. Das ist nicht nur der Linken zuzuschreiben, die sendungsbewusst ihre Sichtweise der Dinge in Öffentlichkeit und Medien vertritt, sondern auch der Zurückhaltung, der Angst, der Leisetreterei der Konservativen: Bevor man aneckt oder in die rechte Ecke gestellt wird, hält man lieber den Mund.
Jeder Widerspruch erntet einen Shitstorm
Die wichtigsten publizistischen Stimmen der kritischen Konservativen sind heute fast durchgängig ex-linke Konvertiten wie Jan Fleischhauer, Reinhard Mohr, Harald Martenstein oder auch Rüdiger Safranski. Vielleicht treibt sie die Lust am Widerspruch. Wer in den 70er-Jahren und 80er-Jahren gegen die bleierne Zeit der Kalten Krieger opponierte, gegen die Denkfaulheit der Mehrheit und die Torheit des Mainstreams, fühlt sich heute – nun unter entgegengesetzten Vorzeichen – daran erinnert.
Das verbissen-reaktionäre, die fehlende Bereitschaft zum Diskurs, die früher oft eine Unart der Rechten war, ist längst auch auf der Linken angekommen: Wer daran zweifelt, schaue nur auf den Shitstorm, den jeder Widerspruch erntet – er atmet die geistige Enge des „Geh doch nach drüben“.
Wo bleibt der große öffentliche Aufschrei?
Zugleich gibt es eine Radikalisierung, die Angst macht, etwa mit Listen missliebiger Journalisten, die Parteistiftungen noch unterstützen. Inzwischen brennen sogar Bücher im Namen des politisch Korrekten: Als sich Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling angeblich „transphob“ äußerte, warfen Aktivisten ihre Bücher ins Feuer. Das alles mögen Einzelfälle sein – aber wo bleibt der große öffentliche Aufschrei?
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Schon in den 70er-Jahren entwickelte die Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann ihre Theorie der Schweigespirale: Demnach scheuen sich viele Menschen, ihre Meinung zu bekennen, wenn diese vom allgemeinen Meinungsklima abweicht. Je vorherrschender eine Haltung ist, desto stärker wachsen die Hemmungen – es kommt zu einer Schweigespirale.
Die Flüchtlingskrise ist nicht der einzige, aber der deutlichste Beleg. Ein anderes Beispiel: Im Dezember 2018 beschloss der Bundestag eine dritte Möglichkeit, das eigene Geschlecht im Personenstandsregister einzutragen. Nach einer großen öffentlichen Debatte und richterlicher Klärung war Konsens, dass weiblich oder männlich als Geschlechtsangaben nicht länger ausreichen und die Option „divers“ hinzukommen sollte.
Das mediale Echo war überwältigend: „,Ein revolutionäres Gesetz‘, sagen viele. ,Noch lange nicht genug‘, sagen hingegen Kritiker“, schrieb damals die „Zeit“. Die „Süddeutsche“ freute sich: „Endlich Anerkennung für Intersexuelle: Im Pass können sie sich künftig als ,divers‘ führen lassen. Das ist gut. Besser wäre es jedoch, auf die Angabe des Geschlechts ganz zu verzichten.“ Keine Stellenanzeige kommt heute – schon wegen des Diskriminierungsverbots – ohne den Hinweis m/w/d aus. Und im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wie der „Heute“-Sendung wird eine Kunstsprache des Gendersterns verordnet, die mit einer sprachlichen Pause die „Zuschauer*innen“ aller Geschlechter begrüßen soll.
Durchschnittsdeutsche spielen im Diskurs kaum eine Rolle
Was da demonstrativ als Meilenstein gefeiert wird und für die Betroffenen zweifellos ist, betrifft aber viel weniger Menschen, als die große Debatte erwarten ließ: In ganz Hamburg haben sich, so heißt es im zuständigen Bezirksamt Harburg auf Abendblatt-Anfrage, seit der Änderung vor zwei Jahren sieben Menschen als „divers“ eintragen lassen – sieben von 1,8 Millionen. Vermutlich gibt es mehr staatlich finanzierte Referatsstellen für diverse Menschen als Betroffene.
Um nicht missverstanden zu werden – das dritte Geschlecht ist ein Fortschritt. Aber es ist nicht das zentrale Problem der Republik, zu dem es manchmal stilisiert wurde. Die meisten Menschen leben anders, als ihnen Medien, Regisseure oder Autoren oft weismachen – sie leben ganz gewöhnlich, durchschnittlich, langweilig. Es gibt gottlob immer mehr Möglichkeiten, nach seiner Fasson selig zu werden – aber die meisten Menschen wählen doch die klassische heterosexuelle Ehe. Diese Durchschnittsdeutschen spielen im Diskurs kaum eine Rolle – verfolgt man manche mediale oder politische Debatte, zersplittert die Gesellschaft in immer mehr Unter- und Opfergruppen, die ihre Identität allein aus der Abgrenzung zu einer gebastelten Mehrheit ziehen.
Betrachtung der Welt aus einer Opferperspektive
Weil die Konservativen kaum noch Debatten führen, beschäftigen sich die Linken vorzugsweise mit sich selbst und geben sich mit Haut und Haar diesen Identitätsdebatten hin. Dann geht es nicht mehr um gemeinsame Ziele oder ein solidarisches Land, sondern um die Betrachtung der Welt aus einer Opferperspektive: Da spielen nicht mehr Ergebnisse eine Rolle, sondern Ethnien, nicht mehr Geisteshaltungen, sondern das Geschlecht, nicht mehr die inhaltliche, sondern die sexuelle Ausrichtung.
Geradezu bizarr wird es, wenn diese Freiheitskämpfer den „alten, weißen Mann“ an den Pranger stellen – das ist nicht nur rassistisch, sexistisch und altersdiskriminierend, sondern einfach dämlich: Denn mit diesen alten weißen Männern kann man Wahlen gewinnen – und wenn man sie nur eifrig genug ausgrenzt, betreibt man am Ende Wahlhilfe für die AfD.
Diese rechtspopulistische Partei ist nicht nur Ausdruck der intellektuellen Schieflage, sondern auch ihr Verstärker: Weil verständlicherweise niemand auch nur in der Nähe der Höckes und Gaulands stehen möchte, verschiebt sich der Diskurs weiter. Wo man klammheimlich oder vermeintlich den AfD-Positionen nahekommt, beginnt man sich selbst zu hinterfragen. Wo man sich abgrenzen kann, tut man es laut und radikal.
Die zunehmend braun grundierte AfD freut sich über den Platz
So verschiebt sich das Spektrum zulasten der Konservativen und der moderaten Linken. Erstere schweigen ängstlich, Letztere radikalisieren sich in ihrer Abgrenzung. So wirkt sich das konservative Erstarren auch auf den politischen Gegner und die politische Struktur im Lande aus.
In dem Maße, in dem die einstmals Konservativen aus Kniefall vor dem Zeitgeist oder Angst vor der eigenen Courage verstummen, profitieren die Ränder: Die zunehmend braun grundierte AfD freut sich über den Platz und die vermeintliche Diskurshoheit – und die Sozialdemokraten flüchten nach links, um sich von den Rechten abzugrenzen. Sie entdecken Identitätsdebatten für sich, verlieren aber ihre Zielgruppen für eine Mehrheit aus den Augen.
Sigmar Gabriel hat es einst schön formuliert: „Was passiert eigentlich, wenn jemand in der Sitzung aufsteht und sagt, dass er gern Fleisch isst, raucht, nach Mallorca in den Urlaub fliegt und an der Werkbank vielleicht noch ein ,Playboy‘-Poster hängen hat?“ Gabriel weiter: „Wird der direkt rausgeschmissen oder Opfer von zehn Pädagogisierungsversuchen?“
Auf Twitter entbrannte eine Nackensteakdebatte
Das Problem der SPD hat längst auch die Union: Ole von Beust mahnte vor zwei Jahren, die CDU dürfe nicht länger als Partei der Nackensteakesser empfunden werden. Deutlich weniger wortgewaltig als Gabriel wehrte sich Ralph Brinkhaus, „Nackensteakesser seien das Rückgrat der Gesellschaft“. Auf Twitter entbrannte eine Nackensteakdebatte. Ob es eine gute Idee ist, Fleischesser auszugrenzen? Vermutlich ist ihre Grundgesamtheit größer als die der Veganer.
Das Gute daran: Die CDU-Wähler am Grill bekommen von diesen Debatten nicht viel mit. Die „Menschen im Lande“, wie es aus dem Berliner Elfenbeinturm heißt, können mit vielen Themen nichts anfangen, über die Politik und Journalisten sich stundenlang erregen können. Ob Genderstern oder Nackensteak, wer als Durchschnittsdeutscher arbeiten geht und nebenher eine Familie versorgt, hat gar keine Zeit, derlei Diskussionen zu verfolgen.
Der Klimawandel landete erst auf Platz 12
Hier liegt ein Problem der Politik insgesamt – sie hat sich von den Problemen der Bürger entfernt. Denn die Bürger fragen sich vieles, aber nur selten, ob sie divers sind. Im September 2019, vor der Corona-Krise, als die Öffentlichkeit aufgeregt über Klimawandel, „Fridays For Future“ und Greta Thunberg diskutierte, hatten viele Bürger andere Sorgen: Mehr als jeder zweite der rund 2400 befragten Bundesbürger ab 14 Jahren sorgte sich, dass der Staat durch die große Zahl von Flüchtlingen überfordert ist und dass es mehr Spannungen zwischen Deutschen und eingewanderten Ausländern gibt. Der Klimawandel landete erst auf Platz 12 – hinter hohen Mieten. Daraus abzuleiten, der Kampf gegen den Klimawandel sei ein Nebenaspekt, wäre töricht. Aber es zeigt, wie viele Menschen ticken.
Gerade die Konservativen werden in diesen Debatten noch gebraucht – nicht als Klimawandelleugner, sondern als mahnende und warnende Stimme gegen alle Heilsversprechen und Weltuntergangsprediger zugleich. Denn im Konservativen liegt die nötige Skepsis, die eine moderne Gesellschaft benötigt.
Als geistiger Vater der Konservativen gilt der irisch-britische Staatsphilosoph Edmund Burke. Für ihn war der Mensch, anders als viele Aufklärer dachten, ein unvollkommenes Wesen mit begrenzter Vernunft. Deshalb, so Burke, müsse er durch gewachsene Ordnungen eingehegt werden. Möglicherweise hat Corona manchen die Augen geöffnet, dass daran nicht alles falsch sein muss.
Konservativismus – das riecht nach Kohl und erinnert an Dackelkrawatten
Doch die Konservativen haben sich so in die Defensive drängen lassen, dass sie einerseits verstummten und andererseits stillgelegt wurden. Konservativismus, das klingt heutzutage wie bei Udo Jürgens nach „Bohnerwachs und Spießigkeit“, das riecht nach Kohl und erinnert an Dackelkrawatten. Eben weil keiner dagegenhält.
Die Konservativen sind so erledigt, dass die Grünen den Begriff für sich kapern: „Worauf wir uns verlassen wollen: Für eine neue Idee des Konservativen“ heißt das jüngste Buch des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Bis vor wenigen Jahren hätte man einen bekennenden Katholiken, Schützenbruder und VfB-Stuttgart-Fan bei der Union verortet, nun ist er bei den Grünen. Und sehr erfolgreich.
Wichtige Themen, die nicht immer „politisch korrekt“ sind
Vielleicht geht am Ende von den Grünen die Rettung des Konservativen aus. Denn diese Idee wird im politischen Diskurs noch benötigt: als Gegenposition, als Kritik, als Impulsgeber, als Stachel im Fleisch. Und um Themen zu setzen, die wichtig sind, aber nicht immer „politisch korrekt“.
Der frühere „Zeit“-Feuilletonchef Ulrich Greiner schreibt in seinem Buch „Heimatlos“: „Wenn ,Oben‘ ganze Themenfelder ausgespart bleiben, dann verzichtet die sprachmächtige, die tonangebende Klasse auf ihren mäßigenden, zivilisierenden Einfluss. Dann sinken ernste Fragen auf den sprachlosen Grund des Unverstandenen, und dieser Grund, darüber muss sich niemand wundern, ist schlammig und nicht selten braun.“
Man muss kein Konservativer sein, um sich mehr konservative Stimmen zu wünschen.