Hamburg. Als Blankenese braun wurde: Ein neues Buch bietet faszinierende Einblicke in den Alltag der NS-Zeit im Hamburger Westen.

Wie konnte der Aufstieg der Nationalsozialisten in Hamburg gelingen – in einer Stadt, die sich immer als liberal und weltoffen verstanden hat? Lesenswerte Antworten liefert das neue Buch „Blankenese im Nationalsozialismus 1933 bis 39“.
Anders als der Titel vermittelt, bildet es die entsprechende Entwicklung auch in vielen anderen Ecken der heutigen Elbvororte ab, und in gewisser Weise ist das Dargestellte sogar symptomatisch für ganz Hamburg. Dazu gibt es auch eine sorgsam erstellte Ausstellung, die aber wegen des Lockdowns zurzeit noch nicht gezeigt werden kann.

Die immer wieder gestellte Frage, wie die Hamburgerinnen und Hamburger quasi scharenweise auf Hitler und seine Schergen „reinfallen“ konnten und warum sie das aufziehende Unheil nicht eher erkannten, versuchen die Autoren zu beantworten, indem sie als Schwerpunktthema die viel zitierte Volksgemeinschaft untersuchen.

Nazis versprachen, soziale Konflikte zu beenden

Die Nazis propagierten bereits in ihren Wahlkämpfen diese neue gesellschaftliche Ordnung, in der, so das Versprechen, Klassenkämpfe und politische Zerrissenheit beendet werden sollten. Unter dem Motto „Gemeinnutz vor Eigennutz“ würde es mit Hitler als „Volkskanzler“ keine Standesunterschiede, keinen Dünkel und keine soziale Konflikte mehr geben.

Für viele war das nach dem Elend des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise eine attraktive Vorstellung. Dass der Anfang objektiv gesehen auch vielversprechend war, wird in dem Buch nicht ausgeblendet. Infrastruktur, Einwohnerzahlen und Hausstände wuchsen, beispielsweise in Blankenese, kontinuierlich, und die groß angelegten Kasernenbauten, unter anderem in Osdorf, Iserbrook und Rissen, brachten nach langen Jahren der Massenarbeitslosigkeit endlich Beschäftigung und in den Augen vieler auch neues Prestige nach dem verlorenen Krieg.

Buch legt Grauzonen in Umgang mit Regime offen

Im Laufe der Zeit wurde dann allerdings immer klarer, wie radikal die Nazis die propagierte Gesellschaftsform in Wahrheit verstanden und wie rigoros sie ihn umsetzten. Die Volksgemeinschaft beruhte von Anfang an eben auch „auf Abgrenzung, Entrechtung und Verfolgung all derjenigen, die der rassisch und politisch definierte Einheit nicht entsprachen“, stellt Jan Kurz, einer der beiden Herausgeber, im Vorwort klar. Die Anderen machten weiter mit, oft allerdings, ohne dabei innerlich bedingungslos „auf Kurs“ zu sein. Doch auch für sie setzte bald ein böses Erwachen ein. Die totale Diktatur wurde Realität – bis in den letzten Winkel der Gesellschaft.

Das aus 16 Kapiteln bestehende Buch macht deutlich, dass es in diesen Jahren, die immer spannungsreicher wurden, beim Umgang mit dem Regime einen Alltag mit etlichen Grauzonen gab. Eindrucksvoll belegen die elf Autorinnen und Autoren, wie widersprüchlich und ambivalent die Haltung gegenüber den Machthabern bei vielen jahrelang war. „Dass man zuerst hoffnungsvoll mittun, später auf Distanz gehen oder gleichzeitig den ,Führerstaat’ bejahen, zentrale Elemente von dessen Ideologie aber ablehnen konnte“, wie es im Vorwort heißt, zeigen zahlreiche Beispiele.

Das Buch „Blankenese im Nationalsozialis- mus 1933 – 39“ (404 Seiten) ist im KJM-Verlag erschienen und kostet 22 Euro.
Das Buch „Blankenese im Nationalsozialis- mus 1933 – 39“ (404 Seiten) ist im KJM-Verlag erschienen und kostet 22 Euro.

Wiederstand in verschiedenen Formen

Mal widersetzten sich Blankeneser erfolgreich der Umbenennung der Richard-Dehmel-Straße durch die Nazis, mal stemmten sich diverse Vereine, darunter auch erzkonservative Gruppen, jahrelang energisch gegen die drohende Gleichschaltung. Ein Pastor, der gerade noch die Machtergreifung und Hitlers Geburtstag bejubelt hatte, wandte sich nun eindringlich gegen den NS-Chefideologen Alfred Rosenberg – und ein Schulleiter „vergaß“ beim offiziellen Schriftverkehr das angeordnete „Heil Hitler“ und schützte von Repressalien bedrohte Kollegen.

Freiräume blieben auch in Sportvereinen relativ lange erhalten. Oft konnten sie auch nach der formalen Gleichschaltung ihre eigene Identität bewahren und, unter anderem in Gemeinden wie Rissen und Iserbrook, sogar Rekordzahlen bei den Neumitgliedern verbuchten. Erstaunlich: Obwohl die 14 bis 18 Jahre alten Mitglieder des Blankeneser Segelclubs (BSC) schon 1933 offiziell in die Marine-HJ überführt wurden, hatte das offensichtlich keine Konsequenzen. Der Jugendbetrieb ging im üblichen Maße weiter, und bei Wettbewerben traten BSC-Mannschaften gegen solche als Marinejugend oder SA an.

Eine Abbildung von Herbert Maywald und Friedrich Werner in der Wedeler Mühlenstraße. Beide wurden in einem Prozess vom dritten Strafsenat des Preußischen Kammergerichts wegen der „Vorbereitung zum Hochverrat“ und Aufrechterhaltung der verbotenen Kommunistischen Partei zu jeweils zwei Jahren Zuchthaus verurteilt.
Eine Abbildung von Herbert Maywald und Friedrich Werner in der Wedeler Mühlenstraße. Beide wurden in einem Prozess vom dritten Strafsenat des Preußischen Kammergerichts wegen der „Vorbereitung zum Hochverrat“ und Aufrechterhaltung der verbotenen Kommunistischen Partei zu jeweils zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. © STADTARCHIV WEDEL

Elbgemeinden: Anlaufpunkt für Juden mit Möglichkeit zur Emigration

Mehrere Kapitel beschäftigen sich mit denjenigen, die zuallererst von der Volksgemeinschaft ausgeschlossen waren: den Juden. Bei deren Ausgrenzung und Verfolgung wurde von den „Volksgenossen“, die keine Antisemiten waren, zumeist weggeguckt, und das, obwohl die Lokalpresse ausführlich über die gesetzlichen Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung und über NSDAP-Veranstaltungen zum „rassischen Wiederaufbau“ berichtete.

Zu den vielen interessanten Teilaspekten, die das neue Buch untersucht, gehört auch ein Beitrag über die „Hachscharas“ – landwirtschaftliche Ausbildungszentren, in denen vor allem junge Juden für die Auswanderung nach Palästina (über)lebenswichtige Fertigkeiten zum Beispiel in Ackerbau und Pflanzenzucht erlernten. Vier solche Hachscharas weist Autorin Claudia Bade nach, unter anderem an der Rissener Landstraße, dem Tinsdaler Kirchenweg und der Anne-Frank-Straße. Damit waren die Elbgemeinden für bedrohte Juden, die noch die Möglichkeit zur Emigration hatten, ein wichtiger Anlaufpunkt.

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Alles in allem zeigt das Buch auch, wie schwer es ab einem bestimmten Zeitpunkt geworden war, wirklich in Opposition zum Regime zu treten, dessen diverse Schlingen sich immer weiter zuzogen. Die neuen Machthaber, die sich zunächst auch leutselig und versöhnlich präsentiert hatten, zeigten nun ihr wahres Gesicht.

Einblicke in eine Gesellschaft vor dem Abgrund

Geradezu symptomatisch ist dafür die Geschichte der „Norddeutschen Nachrichten“, deren Besitzer, die Brüder Johannes und Walter Kröger, sich zunächst hemmungslos und übereifrig in den Dienst der Nationalsozialisten gestellt hatten. Als Johannes Krögers Tochter Lotte dann 1935 einen Juden heiratete, wendete sich das Blatt. Die Brüder galten in der „Judenfrage“ als politisch unzuverlässig, und die Reichspressekammer entzog der Firma Johs. Krögers Buchdruckerei das Recht zur Herausgabe der Zeitung. Die Krögers durften nicht mehr als Verleger arbeiten, mussten ihr Unternehmen aufspalten und zwangsweise an ihre Söhne übertragen.

Insgesamt bietet das neue Buch tiefe Einblicke in eine Gesellschaft, die erst spät – zu spät – merkte, dass sie auf einen Abgrund zusteuerte.