Hamburg. Der Ottenser Kinderarzt Albrecht Römhild sorgt sich um die Familien: „Homeschooling und Homeoffice gehen nicht zusammen.“

Albrecht Römhild ist seit Jahrzehnten Kinderarzt in Ottensen. Als einer der Ersten steckte er sich im Frühjahr mit Covid-19 an – trotzdem sieht er den verschärften Lockdown kritisch.

Hamburger Abendblatt: Der Lockdown wird vorerst bis Mitte Februar verlängert - was denken Sie als Kinderarzt darüber?

Albrecht Römhild: Als Kinder- und Jugendarzt hat man automatisch die Familien im Blick. Und die leiden unter den nun noch verschärften Bedingungen massiv. Ihnen geht es im Moment mit dieser Lösung nicht gut. Und ich fürchte, dass wir noch bis Ostern im Lockdown sitzen. Die Folgen sehen wir erst langfristig. Jetzt sind es vor allem die Frauen, die in den Familien die Kinder betreuen und beschulen – und oft nebenher noch im Homeoffice arbeiten. Das geht nicht gut: Die Arbeitgeber murren, die Frauen fürchten um ihre Jobs. Homeschooling und Homeoffice gehen nicht zusammen. Ich wundere mich wirklich, dass das ernsthaft diskutiert wird. Wer so argumentiert, kennt wenig von der Lebenswirklichkeit gerade mit kleinen Kindern.

Nun sollen Kitas und Schulen nur noch für die Notbetreuung öffnen. Welche Nebenwirkungen fürchten Sie?

Es mag ein paar Kinder geben, die sogar profitieren, weil sie in der Schule gemobbt werden und nun froh sind, zu Hause bleiben zu dürfen. Aber das ist eine kleine Minderheit. Die meisten Kinder leiden darunter, wenn sie zu Hause sitzen, ihre Freunde nicht treffen, keinen Sport machen dürfen, nicht hinausgehen. Das fängt schon bei den Kleinsten an: In der Kita lernen die Kinder soziales Verhalten, das geht nur in der Gruppe. Ich kann die Erzieherinnen verstehen, dass sie sich Sorgen machen. Aber hier müssen wir abwägen. Natürlich müssen wir die Infektionszahlen herunterbekommen, aber ich verstehe nicht, warum ausgerechnet Kinder und Jugendliche in den Fokus der Pandemiebekämpfung geraten sind.

Über die Rolle von Kindern beim Infektionsgeschehen gibt es widersprüchliche Untersuchungen – welcher These neigen Sie aus Ihrem Alltag als Arzt zu?

In meine Praxis hatten wir ein paar positive Fälle, wir streichen aber auch sehr viele Patienten ab. Bislang tragen Kinder das Virus nicht in dem Ausmaß weiter wie Ältere – ich habe keine großflächigen Infektionen gesehen. Kinder können sich anstecken, stehen nicht in der ersten Reihe der Superspreader. Trotzdem sollte man Corona nicht verharmlosen: Das ist keine leichte Krankheit. Das Beste ist, sich erst gar nicht infizieren. Deshalb müssen wir die Älteren besser schützen und impfen, impfen, impfen. Bei dem Impfungen sollten wir behinderte Jugendliche aber nicht vergessen: Da sie besonders infektanfällig sind, gehören sie zu den Risikogruppen und sollten schnell geimpft werden.

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Wen trifft der Lockdown besonders?

Vor allem die, die schon heute sozial abgehängt sind. Es gibt Familien, in denen der Fernunterricht schon am Mangel an Geräten und am fehlenden Platz scheitert. Der Bildungeserfolg entwickelt sich unterschiedlich zwischen denen, die alles haben, und denen, die nichts haben. Nach der Pandemie werden wir merken, dass da eine große Kluft entstanden ist.

Welche medizinischen Folgen fürchten Sie?

Die psychischen Erkrankungen nehmen zu. Die Nervosität in den Familien wächst – und die Aggressivität auch. Und wegen des Bewegungsmangels stellen wir fest, dass ein wachsender Prozentsatz deutlich an Gewicht zulegt. Damit riskieren wir viele Folgeerkrankungen.

Der Berufsverband der Hamburger Kinderärzte hatte sich erst hinter die Politik der offenen Schulen des Senators gestellt und war dann doch auf Distanz gegangen.

Auch die Kinderärzte sind nicht immer einer Meinung. Es gibt die Vorsichtigen, die vor allem die Ansteckungen fürchten, und Ärzte wie mich, die betonen, dass die sozialen Beziehungen nicht verloren gehen dürfen. Am Ende ist es eine Abwägungsfrage. Ich persönlich gewichte das soziale Risiko für die Kinder höher und sage: Wir müssen die Kitas und Schulen wieder öffnen.

Die Corona-Regeln für Hamburg im Überblick:

Die aktuellen Corona-Regeln für Hamburg im Überblick

  • Alle Regeln, die im Rahmen der Eindämmungsverordnung bis zum 10. Januar gelten sollten, werden grundsätzlich bis zum 14. Februar verlängert – ein Großteil des Einzelhandels bleibt geschlossen, bestellte Waren dürfen aber abgeholt werden. "Körpernahe Dienstleistungen" wie Friseure, Nagel-, Massage- und Tattoo-Studios dürfen nicht angeboten werden. Auch Kultur- und Freizeiteinrichtungen bleiben geschlossen, Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit bleibt verboten.
  • Kontaktregeln Angehörige eines Haushalts dürfen sich nur noch mit einer weiteren Person treffen. Ausnahmen für Kinder gibt es nicht.
  • Die Maskenpflicht wird angepasst: Stoffmasken reichen in den meisten Fällen nicht mehr aus. Stattdessen müssen medizinische Masken (mindestens OP-Masken, auch FFP2- oder KN95-Masken sind möglich) getragen werden. Bis zum 1. Februar gilt eine Übergangsphase, danach werden Verstöße mit Bußgeldern geahndet.
  • Kitas und Schulen: Die Präsenzpflicht an den Schulen bleibt aufgehoben, stattdessen soll so weit wie möglich Distanzunterricht gegeben werden. Kinder sollen – wann immer möglich – zu Hause betreut werden. Die Kitas wechseln in die "erweiterte Notbetreuung". Die privat organisierte Kinderbetreuung in Kleingruppen bleibt gestattet.
  • Arbeitgeber sind angehalten, so weit wie möglich ein Arbeiten von zu Hause aus zu ermöglichen. Zusätzlich soll eine neue Bundesverordnung Arbeitgeber dazu verpflichten, Homeoffice anzubieten, so weit das möglich ist. Betriebskantinen dürfen nur öffnen, wenn sie für den Arbeitsablauf zwingend erforderlich sind.
  • Sollte die Sieben-Tage-Inzidenz auf einen Wert über 200 steigen, müsste eine Ausgangsbeschränkung erlassen werden, die den Bewegungsradius auf 15 Kilometer rund um den Wohnort einschränkt. Wie genau diese Regel in Hamburg angewandt würde, ist noch nicht bekannt – der Senat will darüber entscheiden, sollte sich die Inzidenz dem Grenzwert annähern.
  • Senioren- und Pflegeeinrichtungen sollen mehrmals pro Woche Personal und Besucher testen. Das war in Hamburg schon verpflichtend und gilt nun bundesweit.
  • Zwei-Test-Strategie bei Reiserückkehrern aus Risikogebieten: Ein Corona-Test direkt nach der Einreise ist verpflichtend, die zehntägige Quarantäne kann frühestens fünf Tage nach der Einreise durch einen weiteren Test verkürzt werden. Die Kosten für die Tests werden nicht übernommen.

Wie soll das gehen?

In den Firmen wird pausenlos getestet, warum machen wir das nicht auch in den Schulen? Nicht nur die Lehrer, auch die Schüler kann man testen. Nicht nur das soziale Lernen, auch Bildung ist eminent wichtig. Es hat sich gezeigt, dass die Wissensvermittlung am Computer für viele nicht die Lösung ist. Ich halte deshalb Wechselunterricht für eine gute Idee. Dabei lassen sich die AHA-Regeln leichter einhalten und zugleich bekommen die Kinder eine Struktur in ihren Alltag und soziale Kontakte. Von der Notbetreuung halte ich wenig. Ich finde schon den Begriff Systemrelevanz schwierig: Wir sind alle gleich und alle gleich wichtig. Und noch eine Sache treibt mich um. Wir müssen Kindern soziale Kontakte ermöglichen. Kinder müssen sich bewegen, wir sollten auch die Turnhallen für kleinere Gruppen öffnen.

Haben Familien und Kinder in dieser Krise Probleme, mit ihren Nöten und Sorgen gehört zu werden?

Ja, leider. Sie wurden in der Pandemie noch nicht richtig gehört. Wir unterstützen massiv die Wirtschaft und reden dauernd darüber, dass die Unternehmen unterstützt werden müssen. Wir reden aber wenig über unsere Familien, die für die Entwicklung unseres Landes und unserer Gesellschaft von entscheidender Bedeutung sein werden. Familien sind das Rückgrat unserer Gesellschaft. Wir müssen sie besser schützen.