Hamburg. Distanzunterricht halten manche für eine kluge Lösung – vermutlich haben diese Menschen aber keine Kinder.
Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren“, wusste die Hamburger Mode-Ikone Karl Lagerfeld. Prinzipiell gebe ich dem Mann recht – aber zum Laufen zieht man die praktischen Hosen dann doch ganz gerne an. Oder wenn man beabsichtigt, am Tag noch Sport zu treiben. Am Montag war mein freier Tag – und so ein Tag sollte für den Sport problemlos ein kleines Zeitfenster öffnen. Wenn, ja wenn nicht die Politik den Eltern neben dem fordernden Homeoffice zum Zwecke der Pandemie-Bekämpfung auch noch Homeschooling verordnet hätte.
Die Formel des Alltags unter deutschen Dächern ist einfach: Je mehr Kinder im schulpflichtigen Alter sind, desto unmöglicher wird diese Aufgabe. In einem Land, in dem Kinder eher homöopathisch verbreitet sind, muss man vielleicht einmal erzählen, wie das so ist mit dem Distanzunterricht. Nennen wir die drei Halbwüchsigen aus Gründen des Datenschutzes – sonst gibt Hamburgs oberster Datenschützer Johannes Caspar noch eine aufgeregte Presseerklärung heraus – lieber Tick, Trick und Track.
Technische Probleme
Tick geht in Klasse 8, Trick in die siebte Klasse eines Gymnasiums und Track zur Grundschule. Eigentlich, so die Theorie, sollen die Aufgaben für die Schüler per Internetplattform übertragen werden, die Padlet oder iServ heißen. Dort zünden motivierte Lehrerinnen und Lehrer ein wahres Feuerwerk an Filmchen, Spielideen und Anregungen im Netz; etwas weniger motivierte Lehrkräfte laden lustlos lausige Folien hoch, die sie schon als Jungpädagogen in den Achtzigerjahren auf Tageslichtprojektoren legten. Allen Vorurteilen zum Trotz: Die Mehrzahl der Lehrerinnen und Lehrer dürfen wir zur ersten Kategorie zählen. Das ist die gute Nachricht.
Blöd nur, wenn sämtliche Lern- und Lehrprogramme im Netz der begrenzten Möglichkeiten unter der Last des millionenfachen Ansturms pünktlich zum virtuellen Schulbeginn in die Knie gehen. Dann schimpft Tick über das lahme WLAN, Trick über den angeblich völlig veralteten Rechner und Track ist den Tränen nah, weil doch ein Zoom-Meeting zum Tagesstart mit den Klassenkameraden anstand. In den darauffolgenden Minuten schlüpft der Erziehungsberechtigte in viele Rollen: Tröster, Techniker und Trottel in einem – weil er versucht, was nicht zu schaffen ist: die virtuellen Schulen zum Laufen zu bringen.
Erklärbären auf Youtube sind längst zu Millionären geworden
Der erste Kampf des Tages liegt da längst hinter den Eltern, vulgo den Freizeitlehrern. Denn der Nachwuchs hält Tage ohne Schule der Einfachheit halber für Ferien – an denen man abends nicht ins Bett hinein- und morgens nicht herausfindet. Gerade Pubertiere schaffen es, bis zur letzten Minute im Bett auszuharren, um dann mit spitzem Schrei aufzuwachen: „Oh Gott. Ich habe seit drei Minuten eine Zoom-Konferenz.“
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Als die Systeme wieder einigermaßen laufen, prasseln gleich Dutzende von Fragen auf den Erziehungsberechtigten ein, der nun in der verschütteten Tiefe seiner Bildungslaufbahn schürfen muss: „Prüfe, ob die Vermutungen für eine Parabel mit der Gleichung y = ax2 + bx + c wahr sind. Stelle die falschen Vermutungen richtig 1) Wenn c=0 ist, geht die Parabel durch den Ursprung 4) Die x-Koordinate des Scheitels ist B/2“.
Das ist eine gute Frage. Aber eine, die ich auch nach wenigen Sekunden Bedenkzeit niemals mehr lösen werde. Nach der üblichen pädagogischen Schimpfschleife: „Das müsst ihr doch gemacht haben. Pass doch mal besser auf. Steht das nicht im Buch?“, gebe ich klein bei. Vielleicht gibt es ein Lehrfilmchen im Internet – die Erklärbären auf Youtube sind in Zeiten der Pandemie vermutlich längst zu Millionären geworden.
Mathematik ist manchmal gemein
Während wir noch lustige Erklär-mir-Parabeln-Videos suchen, schallt eine Stimme aus dem Nachbarzimmer herüber. „Wie kopiert man einen Text?“, ruft Trick fragend. Endlich eine Frage, die ich beantworten kann. Professionell zeige ich den Schnellzugriff, die Laune bessert sich, bis ich frage, warum ich denn die englischen Aufgabensätze überhaupt kopieren soll: „Na, ich will den Text in den Google-Übersetzer stellen.“ Hmm. Da klingelt schon wieder das Telefon – wer vernetzt lernt, muss nur die Hälfte beherrschen, die andere Hälfte sagt man sich vor oder schreibt sie ab.
Hamburgs Corona-Regeln:
Im Laufschritt, so komme ich doch noch zu meinen Kilometern, geht es weiter zu Track, der zwischenzeitlich an den Multiplikationsaufgaben verzweifelt. Kein Wunder: Denn diese Grundrechenart wird ausgerechnet im Fernunterricht eingeführt. Mühsam versuche ich, dem Grundschüler mit Kuscheltieren und Gummibärchen die Geheimnisse des Einmaleins näherzubringen. „Wir haben sechs Kuscheltiere und alle bekommen drei Gummibärchen“, schlage ich vor – und stoße auf erbitterten Widerstand. „Nein, alle Kuscheltiere wollen Gummibärchen!“ „Aber wir können doch nicht gleich mit dem großen Einmaleins beginnen“, versuche ich einzuwerfen. „Aber das ist gemein!“
Mathematik ist manchmal gemein, liegt mir auf der Zunge – aber ich schlucke den Satz herunter.
Im Fernunterricht lernt man manches – nur nicht Lernen
Von oben aus Ticks Zimmer kommen lautstarke Rufe — offenbar kann Fernunterricht doch ganz spaßig sein, atme ich auf. Unterdessen verzweifelt Track über den Geheimnissen des fließenden Stroms, Elektronen, positiver und negativer Ladung. Geladen bin ich längst, und so springe ich in die Physik. Wie war das noch gleich mit dem Strom? Ich versuche mich zu konzentrieren, aber die Begeisterungswellen aus dem Nachbarraum schwappen zu laut herüber. Was ist denn da los? Kann er nicht ein bisschen leiser lernen?
Ein Blick durch die halbgeöffnete Tür treibt den Blutdruck. Denn dort geht es nicht mehr um Parabeln, Linearfaktordarstellungen und Strahlensätze, sondern um ein Computerspiel. Die Jungs haben sich kurzerhand zum Daddeln verabredet – das klappt wunderbar auch parallel zum Unterricht. Der läuft nebenher übers Handy; das eigene Kinder- beziehungsweise Klassenzimmer wird kurzerhand stumm geschaltet. „Papa, das machen alle“, sagt Tick. Besser macht es das nicht.
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Aus dem Wohnzimmer ein Schrei: „Papa, hier ist alles nass!“ Die Teetasse, ein letzter Gruß der Normalität, hat sich über das Deutsch- und das Matheheft ergossen: „Ich war das nicht“, meint Track. Natürlich nicht. Aufwischen, trocknen, trösten. Und gute Miene zum bösen Spiel machen. Wir wechseln zurück zu den Matheaufgaben und ich beginne zu ahnen, warum in der Schule nicht mit Gummibärchen, sondern echten Zahlen gerechnet wird: Denn die Grundgesamtheit der Süßwaren ist so dramatisch geschrumpft, dass Malaufgaben nur noch im Einer-Raum möglich sind.
Entnervt entschließe ich mich, mir selbst eine große Pause zu gönnen und endlich laufen zu gehen. Track darf sich einfach eine Folge Robin Hood auf Netflix anschauen. Aber auch hier gibt es technische Schwierigkeiten. „Geräte-Limit – Ihr Konto wird momentan von zu vielen Personen benutzt.“ Längst läuft bei Track bis eben unbemerkt Netflix. „Papa, es ist doch Pause!“ Zum Joggen bin ich nicht mehr gekommen. Wie wusste Karl Lagerfeld schon vor Corona: „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“
War das jetzt lustig? Vielleicht.
Ist es zum Heulen? Zweifellos.