Hamburg. Die neue Werkschau auf 240 Seiten besticht mit beeindruckenden Bildern und Texten. Das Krisenjahr 2020 war ein ziemlich guter Jahrgang.

Wenn das Jahr sich dem Ende entgegen neigt, warten viele Architekturfans, Sammler und Hamburg-Fans fast sehnsüchtig auf das Jahrbuch, das seit 1989 die Entwicklung der Stadt aufmerksam begleitet: Seitdem gibt die Hamburgische Architektenkammer im Junius-Verlag ihr Architekturjahrbuch heraus. Längst ist es ein Dokument des Zeitgeists geworden, weil es nicht nur die Neubauten des Jahres kritisch-freundlich präsentiert, sondern auch den Finger in die Wunden der Stadtentwicklung legt. Es legt Zeugnis ab über die Gestaltung in der Hansestadt und die Qualität eines Jahrgangs – und ein schneller Blick zeigt: Das Krisenjahr 2020 war ein ziemlich guter Jahrgang.

„Es ist das dickste Jahrbuch aller Zeiten“, sagt Claas Gefroi, der mit Dirk Meyhöfer und Ullrich Schwarz die aktuelle Ausgabe verantwortet. „Wir haben seitenmäßig draufgelegt“, sagt er. „Das ist inhaltlich berechtigt, aber auch ein Symbol, dass wir nicht im Krisenmodus sind.“ Er lobt den Mut der Kammer und des Verlages, jedes Jahr wieder ein solches Werk zu veröffentlichen. „Das gibt es so nirgendwo in Deutschland – und das tut der Diskussion um die Stadtentwicklung in Hamburg gut.“

Ein Jahrbuch wird es erst, weil es ausnahmslos die Höhepunkte des Jahres ausleuchtet und vorstellt

Das Pergolenviertel, entworfen von DFZ Architekten, arbeitet mit Anklängen an die Zwanzigerjahre.
Das Pergolenviertel, entworfen von DFZ Architekten, arbeitet mit Anklängen an die Zwanzigerjahre. © Hagen Stier

In der diesjährigen Wundertüte der Architektur finden sich faszinierende Bauten, die auch die BDA-Preise unter sich ausgemacht haben: Auf dem Titel ist der Neubau des kreisrunden Gastronomiepavillons zu sehen, der das Mehr Theater im denkmalgeschützten Großmarkt ergänzt. Das silberne Ufo des Londoner Büros Carmody Groarke sollte den Gästen des Harry-Potter-Musicals die Pause versüßen: Corona machte der ambitionierten Touristen-Attraktion an der Banksstraße einen Strich durch die Rechnung. So liegt das Kleinod etwas vergessen am Rande der Stadt. Andere im Buch präsentierte Bauten fallen selbst exzellenten Kennern Hamburgs nicht sofort auf – ob ein innovatives wie günstiges Wohnungsbauprojekt in Neugraben, das neue Hafthaus III der JVA Glasmoor oder das neue Hauptgebäude der ­Erich-Kästner-Schule in Farmsen.

Gerade gewannen die Waterworks Falkenstein den Publikumspreis beim Architekturwettbewerb des BDA.
Gerade gewannen die Waterworks Falkenstein den Publikumspreis beim Architekturwettbewerb des BDA. © Jochen Stüber

Ein Jahrbuch wird es erst, weil es ausnahmslos die Höhepunkte des Jahres ausleuchtet und vorstellt. So finden sich beispielsweise fast alle jüngst mit dem BDA-Preis prämierten Neu- oder Umbauten wieder: Spannende Einblicke bekommen die Leser in das meisterhaft sanierte Pumpenwerk am Falkensteiner Ufer – laut Autor „ganz große Oper und Kammertheater zugleich“.

Rekonstruierter U-Bahnhof Landungsbrücken und neuer Flutschutz an der Elbe

Den Abendblatt-Lesern ging es ähnlich – sie zeichneten die Sanierung durch BiwerMau mit dem Publikumspreis aus. Der rekonstruierte U-Bahnhof Landungsbrücken („Wo ist Hamburg hamburgischer als hier“) werden ebenso besprochen wie der neue Flutschutz an der Elbe („Zaha Hadids extravagante Formensprache hat zur denkbar besten Form geführt“) oder der „geglückte Auftakt“ auf dem Kolbenhof-Areal in Ottensen. Zugleich findet der anschwellende Sound über mangelnden Denkmalschutz seinen Niederschlag – etwa in den etwas aktivistischen Beiträgen zum abgerissenen HEW-Schulungszentrum, dem planierten City-Hof, dem gefährdeten Café Seeterrassen und der bedrohten Sternbrücke.

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Moderner Wohnungsbau der SAGA in Harburg.
Moderner Wohnungsbau der SAGA in Harburg. © Jochen Stüber

ber den Tag und das Jahr hinaus weisen die Debattenbeiträge, die traditionell im „Hamburger Feuilleton“ ihren Platz finden. Dabei geht es um Mobilitätskonzepte in der Neuen Mitte Altona genauso wie um die Kritik am fehlenden Metropolenkonzept. Kritisch kommt das Jahrbuch daher – einerseits weil Kammer und Verlag die Macher machen lassen, andererseits weil die Herausgeber den Autoren die nötigen Freiheiten einräumen.

Wortgewaltig wie streitlustig werfen sich hier Gert Kähler oder Dieter Läpple in die Diskussion. So übt der Stadtforscher Läpple Kritik an der Entwicklung des Grasbrooks, die er ein „Drama“ nennt, bei dem „Hamburg seine Zukunft verspielt“. So werde der Hafen als Arbeitsort zwar weiter an Bedeutung verlieren, genieße aber noch immer eine Vorzugsbehandlung. Läpple fordert mehr Vielfalt, will etwa Start-ups dort ansiedeln und den Grasbrook zu einem „Kristallisationskern des Wandels“ machen.

„Wir sind immer noch ein Volk von Luxuswohnern“

Architekturkritiker Kähler beschreibt die Probleme des sozialen Wohnungsbaus, bei dem immer mehr Wohnungen aus der Sozialbindung herausfallen. Zugleich räumt er aber auch mit manchen Wohnungsnotmythen auf: Die neuen Wohnungen haben nach aktuellen Zahlen 84 Quadratmeter, schreibt er. „Wir sind immer noch ein Volk von Luxuswohnern. Wir müssen nicht fürchten, wie es die Ex-Kanzlergattin Loki Schmidt für ihre Familien in den 20er-Jahren beschrieb, demnächst wieder zu viert auf 28 Quadratmetern um den kalten Ofen zu sitzen.“

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Das Herausgeberteam kümmert sich schon um die kommenden Ausgabe: „Wir sind jetzt schon in den Planungen für das Jahrbuch 2021/22“, sagt Gefroi. Derzeit werden Planer angeschrieben, um ihre Ideen zu präsentieren. Im Februar tagt die Jury, um aus allen Vorschlägen – meist rund 150 Projekte – 20 für das Jahrbuch herauszusuchen.

Architektur in Hamburg. Jahrbuch 2020/21,240 Seiten, 39,90 Euro