Hamburg. Versammlung eines Ehrbaren Kaufmanns fand wegen der Pandemie digital statt. Forderung nach Revision des Koalitionsvertrages.

Am Jahresende treffen sich Hamburgs Unternehmer traditionell zur „Versammlung eines Ehrbaren Kaufmanns zu Hamburg“ (VEEK) in der Handelskammer. Hunderte Gäste strömen dann am Silvestertag in den Großen Börsensaal am Adolphsplatz, um die Reden des Vorsitzenden der VEEK, Gunter Mengers, und des Präses der Handelskammer, Norbert Aust, zu verfolgen. Fast der gesamte Senat ist anwesend, wenn die Redner die wirtschaftliche Lage der Hansestadt bilanzieren und die Senatspolitik kritisch aufs Korn nehmen. 

Das abgelaufene Jahr wurde allerdings weniger von Bilanzen und Handels­abschlüssen bestimmt als vielmehr von Infektionswellen und Abstandsregelungen. Und so fiel die große Zusammenkunft in der Handelskammer in diesem Jahr ins Wasser. Stattdessen erschien VEEK-Chef Mengers am Silvestertag kurz nach 12 Uhr vor der Kamera, und wer zur Videoübertragung eingeladen war, konnte seine Rede am Computer verfolgen. „Trotz der widrigen Umstände war es für die Handelskammer und für uns als Repräsentanten der Hamburger Kaufmannschaft sehr wichtig, am heutigen Tage Flagge zu zeigen und die Veranstaltung nicht abzusagen“, eröffnete Mengers seine Rede.

Die Sendung war vorher  aufgezeichnet worden

Was den Zuschauern verborgen blieb: Mengers sprach nicht live, die gesamte Sendung war zwei Tage zuvor in der Handelskammer aufgezeichnet worden. Fast einen Tag lang dauerten die Dreharbeiten, die ein Team des Fernsehsenders Hamburg 1 mit verschiedenen Einstellungen durchführte. Und während Mengers sprach, saß Norbert Aust noch in der Garderobe. So bekam er auch nur auf dem Bildschirm mit, dass Mengers das Jugendwort des Jahres 2020 zum Kern seiner Rede machte, über das eine Million Jugendliche in einer Umfrage des Pons-Verlags abgestimmt hatten. Es lautet „lost“, zu Deutsch: verloren. Das stehe für „Ich fühle mich hilflos und allein“, sagte Mengers.

„Die nächste Generation wird einerseits mit Vollbeschäftigung und Fachkräftemangel konfrontiert. Andererseits mit einem sich nachhaltig verändernden Arbeitsumfeld wie dem zunehmenden Einsatz künstlicher Intelligenz. Auf unterschiedlichen Ebenen wird davon berichtet, dass Europa zurückfällt, dass Deutschland scheinbar einen Teil der rasanten technischen Entwicklungen verschläft und dass die Konkurrenz der asiatischen Staaten uns Europäern langfristig eher geringe Chancen einräumt. Wer also immer noch nicht versteht, dass Schulen und Studienplätze – das gilt auch für andere Ausbildungsformen – zügig aufgerüstet werden müssen, der gefährdet unsere Zukunft, die Zukunft unserer Kinder.“

"Mangelnde IT-Ausbildung der Lehrkräfte“ werde in der Corona-Krise überdeutlich

Es sei nicht zu akzeptieren, dass marode Schulgebäude, Lehrkräftemangel, veraltete Unibauten und die an den Schulen stockende, so dringend notwendige Digitalisierung die Entwicklung des Nachwuchses behinderten. Auch die „mangelnde IT-Ausbildung der Lehrkräfte“ werde in der Corona-Krise überdeutlich.

Zudem kritisierte Mengers die wegen Corona wieder steigende Staatsverschuldung. „Dass die Regierung eingreifen musste, ist unstrittig, ebenfalls die Tatsache, dass es für einen derartigen Katastrophenfall keine Erfahrungswerte gibt, aber die zunehmende Verschuldung von 180 Milliarden Euro für 2021 regt schon zum Nachdenken an. Sind wir nicht alle in Anbetracht dieser Corona-Dimensionen lost“?, fragte er.

Auf eine kritische Bewertung der Senatsarbeit verzichtete Mengers. Vielmehr gab es Lob für den Bürgermeister: „Sie, sehr geehrter Herr Dr. Tschentscher, haben unsere Stadt in den zurückliegenden Monaten durch Ihren persönlichen Einsatz in beeindruckender Weise durch die Wogen der Corona-Herausforderungen gesteuert. Dieses mit der Ihnen eigenen Besonnenheit, Überzeugungskraft und dem fachlichen Hintergrund, der an vielen anderen Stellen so schmerzlich vermisst wird. Dafür möchte ich Ihnen – auch wenn uns nicht alle Maßnahmen gefallen und verständlich sind - im Namen der durch mich vertretenen Hamburger Kaufmannschaft Dank und Anerkennung aussprechen.“      

Auch Kammer-Präses Norbert Aust, der nach seiner Wahl im Frühjahr zum ersten Mal die große Jahresabschlussrede hielt, verzichtete auf Kritik am Senat. Ebenso wie Mengers verwies er aber auf die Notwendigkeit, die Wirtschaft trotz Corona und vielen Einschränkungen am Laufen zu halten. Es hänge von der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft ab, welche Möglichkeiten der Staat in Zukunft habe, mit seinen Ausgaben die Gesellschaft zu gestalten und in schwierigen Zeiten zu unterstützen. „Wirtschaft ist kein Selbstzweck, sondern integraler Bestandteil unserer Gesellschaft. Wirtschaft ist nicht alles – aber ohne Wirtschaft ist vieles weniger oder nichts“, sagte Aust

Es seien die Unternehmen, die die Einkommen der Familien sicherten

Es seien die Unternehmen, die die Einkommen der Familien sicherten. Und es seien die Unternehmen, die mit ihrer Wertschöpfung die Basis für die Steuereinnahmen der öffentlichen Hand bildeten. Wie zuvor Mengers, sprach auch Aust seine Rede ohne Unterbrechung durch. Allerdings wurden die Kameras zuvor umgestellt. Aust hatte die Galerie über dem Börsensaal als Bildhintergrund gewählt. „Hoffentlich schauen uns viele zu“, sagte er während der Umbauphase.

Als die Kameras wieder liefen, forderte Aust die rot-grüne Regierung in Hamburg dazu auf, angesichts der Corona-Folgen, ihre Koalitionsvereinbarung im Hinblick auf die finanzielle Belastung noch einmal zu überprüfen. „Nach der Corona-Krise wird vieles nicht mehr so sein wie vorher. Ihr Koalitionsvertrag wurde ganz zu Beginn der Krise formuliert. Ich bitte Sie daher, auf Basis der eingetretenen Veränderungen und der neugewonnenen Erkenntnisse Ihr Programm einer gründlichen Revision zu unterziehen.“ Maßgabe müsse sein, echte Veränderungen zu ermöglichen und Hamburg fit für die Zukunft zu machen. „Bitte denken Sie auch daran, dass das Geld, das Sie ausgeben, vorher jemand erwirtschaften muss.“

Lesen Sie auch:

Im zweiten Teil seiner Rede ging Aust auf die Zukunfts-Strategie für Hamburg ein, die die Handelskammer anregt. „Im Rahmen unseres Strategieprozesses „Hamburg 2040“ haben wir eine umfassende Debatte über die notwendige Weiterentwicklung unseres Standorts angestoßen. Die Zeit dafür ist reif.“

Das zeige auch eine repräsentative Umfrage unter den Mitgliedsunternehmen, wonach Hamburg heute als attraktiv und lebenswert wahrgenommen werde. Doch würden rund 65 Prozent der Befragten Hamburg als unzureichend vorbereitet auf die Zukunft bezeichnen.

Hörbaren Applaus erhielt diesmal niemand

Aust forderte eine neue Aufbruchstimmung in der Stadt mit der sich Unternehmer, Politiker und Bürger für die Weiterentwicklung des Standorts engagieren. Hamburg müsse sich von einer häufig spürbaren „Verbotskultur mit Erlaubnisvorbehalt“ verabschieden. „Stattdessen sollten wir uns hinwenden zu einer „Kultur der Ermöglichung“, einer „Es geht-Haltung“. Das gelte für Unternehmen ebenso wie für die Öffentlichkeit, die Politik und die Behörden.

Danach kam Vize-Präses Astrid Nissen-Schmidt in der Videobotschaft aus der Handelskammer zu Wort. Sie meldete sich aus der Commerzbibliothek der Handelskammer, die mit ihrer mehr als 250jährigen Geschichte als die älteste Wirtschaftsbibliothek der Welt gilt. Nissen-Schmidt griff den Faden ihrer Vorredner auf, wonach Menschen in den unsicheren Zeiten einen Kompass benötigten, der ihnen Orientierung gibt. Ein solcher Kompass sei der Einsatz für das Gemeinwohl etwa über die Handelskammer oder die VEEK.

Minou Tikrani, selbstständige PR-Beraterin und Vorstandsmitglied der Versammlung eines Ehrbaren Kaufmanns zu Hamburg dankte der Handelskammer und schloss die Versammlung. Hörbaren Applaus erhielt sie nicht. Ebenso wenig ihre Vorredner. Denn alles war ja nur digital. 

Am Drehort der Ansprachen stand auch der Chefvolkswirt der Handelskammer, Dirck Süß, der traditionell die Grundfassung der Präses-Rede erstellt. Er machte Fotos mit dem Smartphone. „Das ist für mein privates Album“, sagte er. „Als Erinnerung, an die ungewöhnlichste Versammlung eines Ehrbaren Kaufmanns zu Hamburg.“