Hamburg. Hamsterkäufe und Lieferengpässe: Gisela Rönfeldt arbeitet in einem Wandsbeker Supermarkt – und ist jetzt systemrelevant.

Auf dem Band seitlich der Kasse liegen zwei Flaschen mit Softdrinks, Kaffee, Vogelfutter, Karamellbonbons und noch ein paar Kleinigkeiten. In diesen Tagen eher ein kleiner Einkauf. Gisela Rönfeldt nickt der Kundin auf der anderen Seite der Kasse mit einem kleinen Lächeln zu, dann zieht sie die Waren über den Scanner. Das Ganze dauert nur wenige Sekunden. „10,56 Euro“, sagt sie und schaut kurz hoch. Die Frau vor ihr hat eine Plastikkarte zum Bezahlen gezückt. Kontaktlos natürlich. Kassenbon? Kopfschütteln, dann ist sie weg.

Hinter ihr hat schon der nächste Kunde seinen Einkauf aus dem Wagen gewuchtet. Gisela Rönfeldt schaut auf die Warteschlange, die sich vor ihrer Kasse gebildet hat. „Man muss schon manchmal darauf hinweisen, dass die Abstandsregeln eingehalten werden müssen“, sagt sie. An diesem Vormittag stehen die Kunden brav die vorgeschriebenen 1,50 Meter voneinander entfernt.

Die gute Seele zwischen den Regalen

Kassieren im Minutentakt. „Viel Luft gibt es im Moment nicht zwischendurch.“ Gisela Rönfeldt hat vor 20 Jahren in dem Supermarkt am Wandsbeker Ölmühlenweg angefangen zu arbeiten, der seit 2004 zum Unternehmen von Edeka-Kaufmann Jörg Meyer gehört. Man könnte sagen, sie ist so was wie die gute Seele zwischen den Regalen. Dass die 59-Jährige an der Kasse sitzt, sollte eigentlich der Ausnahmefall sein. Mit ihrer Kollegin Doreen Heidinger ist sie als Schichtleiterin vor allem dafür zuständig, dass es an den zehn Kassen im Delta des Ausgangs wie am Schnürchen läuft. Kassenaufsicht nennt sich ihr Job offiziell.

Aber was ist in diesem Corona-Jahr schon normal? Hamsterkäufe, leere Regale, Lieferengpässe, Maskenpflicht und zuletzt die Großeinkäufe vor den Festtagen und jetzt nochmal zum Jahreswechsel – seit Covid-19 das öffentliche Leben umgekrempelt hat, sind Lebensmittelläden der Gradmesser für die Versorgungssicherheit in der Republik – und Mitarbeiter im Dauersatz wie Gisela Rönfeldt systemrelevant.

Die Lage ist anders als beim ersten Lockdown

An diesem Morgen war die Wandsbekerin um sechs Uhr im Laden. Wie immer in der Frühschicht. In der Stunde, bevor der Edeka-Markt öffnet, hat sie mit ihrer Kollegin das Wechselgeld in den Kassen gezählt, Bestandsaufnahme im Tresor gemacht, die aktuelle Tagespresse in die Regale geräumt und schon mal angefangen, frisches Obst und Gemüse aufzufüllen. „Wir sind auch Mädchen für alles“, sagt Doreen Heidinger und lacht. Die Kasse, an der Gisela Rönfeldt anfangs saß, hat jetzt eine Kollegin übernommen. „Storno an Kasse zwei“ tönt es in diesem Moment durch den Lautsprecher. Rönfeldt – blauer Kittel mit aufgesticktem Namen, Kurzhaarfrisur, Stornoschlüssel um den Hals – marschiert los.

„An schlechten Tagen passiert das alle fünf Minuten“, sagt sie und zeigt auf dem Weg schnell noch einer Kundin, wo die Pinienkerne zu finden sind. Eigentlich wollte sie gerade anfangen, im Kaffee-Gang die Lücken zu füllen und Nachbestellungen aufzunehmen. Eine Sorte Kaffeekapseln fehlt, auch beim löslichen Kaffee gähnt ein Loch. „Die hatte ich schon bestellt, sind wohl mal wieder nicht mitgekommen“, sagt Gisela Rönfeldt, als sie von der Kasse zurückkommt. Es gibt immer wieder Produkte, die zeitweilig nicht lieferbar sind.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Aber die Lage ist ganz anders als beim ersten Lockdown im Frühjahr, als auch in Wandsbek viele Regale leergekauft waren. „Die Hamsterkäufe waren extrem“, sagt sie. Klopapier, Mehl, Hefe, Nudeln, Tomatenmark, Suppen, Wasser – gehamstert wurde alles, was haltbar ist. Rönfeldt und Heidinger schütteln den Kopf. „Wir haben immer wieder Waren nachbestellt, aber nicht immer kam was“, erinnert sich Doreen Heidinger. Und manche Kunden hätten einfach nicht genug bekommen können. Die Schilder, auf denen sie um den Einkauf von haushaltsüblichen Mengen hingewiesen hatten, hätten teilweise nichts gebracht. „Da gab es schon mal Debatten“, sagen die Frauen.

Zum Nachdenken über das Risiko ist keine Zeit

Ärger wie in anderen Geschäften, wo man sich gegenseitig das Klopapier aus dem Einkaufswagen stahl, haben sie nicht erlebt. Trotzdem: Der Coup von Chef Jörg Meyer, der kurz vor Ostern noch eine Lkw-Ladung mit 11.000 Packungen Klopapier aus Albanien organisieren konnte, gehört zu den unvergesslichen Erlebnissen des Jahres 2020. Auch vor Weihnachten und Silvester war der Andrang wieder groß. „Aber Hamsterkäufe gibt es nicht mehr“, sagt Gisela Rönfeldt. Nach zehn Corona-Monaten ist das Vertrauen in die Versorgungslage offenbar gestiegen.

Arbeiten im Corona-Modus fühlt sich an wie das neue Normal. Acht Stunden mit Maske vor dem Gesicht, wie auf Autopilot Abstandhalten und immer Hände, Kassenarbeitsplatz und die Griffe der Einkaufswagen desinfizieren. Trotzdem: Die unsichtbare Gefahr ist allgegenwärtig. Meistens verdrängt Gisela Rönfeldt, dass sie als Mitarbeiterin im Supermarkt mit hunderten Kunden am Tag einer möglichen Ansteckung besonders ausgesetzt ist. „Man hat ja keine Zeit, darüber nachzudenken“, sagt sie trocken. Besonders zu den Stoßzeiten am Freitag und Sonnabend ist es sehr voll im Laden. „Aber die meisten halten sich an die Hygienevorgaben.“ Viele sind Stammkunden, die schon als Kinder mit ihren Eltern in dem Markt eingekauft haben und jetzt mit ihren Kindern kommen. Das verbindet. Der Supermarkt ist in der Krise auch Treffpunkt und Nachrichtenbörse. Für manche die einzige Abwechslung außerhalb der eigenen Wohnung.

Mitarbeiter haben einen Corona-Bonus bekommen

Jetzt vor Weihnachten haben einige auch wieder Geschenke gebracht wie im Frühjahr, sagt die Schichtleiterin. Beim ersten Lockdown hatten die Kassiererinnen hinter dem Plexiglas-Spuckschutz Pralinen und Kaffee, auch Geld für die Kaffeekasse als Dank zugesteckt bekommen. „Die Leute haben im Laden für uns geklatscht“, sagt Gisela Rönfeldt, die mit ihrem Mann Karl Heinz in Wandsbek wohnt. Ungewohnt und irgendwie übertrieben sei ihr das vorgekommen. Sie, eine Corona-Heldin? „So haben wir uns nie gefühlt.“ Klar ist man länger geblieben, wenn viel zu tun war. Hat mehr und schneller gearbeitet. „Wir haben einfach unsere Arbeit gemacht. Das ist doch selbstverständlich“, sagt Rönfeldts Kollegin Doreen Heidinger, die jeden Tag aus dem mecklenburgischen Zarrentin nach Hamburg pendelt.

Was sie eher umtreibt ist, dass erst so etwas passieren muss, damit ihre Leistung anerkannt wird. Wichtig war ihnen deshalb, dass es nicht beim Klatschen geblieben ist. Im Sommer haben alle Mitarbeiter der Meyer-Gruppe einen Corona-Bonus bekommen. „Darüber haben wir uns gefreut“, sagt Gisela Rönfeldt. Dass die Forderungen nach Lohnerhöhungen in den unteren Einkommensgruppen inzwischen deutlich leiser geworden sind, nehmen sie dagegen fast gleichmütig wahr – auch wenn bei monatlichen Durchschnittsgehältern von 2200 Euro brutto durchaus Luft nach oben wäre. Rönfeldt und Heidinger schauen sich an, zucken die Achseln. Sie erwarten nicht viel, machen einfach weiter. „Muss ja.“

„Wir können froh sein, dass wir gebraucht werden“

Aber jetzt am Jahresende merkt man auch ihnen die Erschöpfung an. „Es war ein hartes Jahr“, sagt Gisela Rönfeldt. Mehr Kunden und mehr Warenumsatz, das heißt eben auch mehr packen, mehr laufen, mehr kassieren. „Und das den ganzen Tag mit Maske.“ Abends ist sie meistens einfach nur noch kaputt. Dazu kommt die emotionale Anspannung, die wie eine schwere Decke über allem liegt. „Man spürt die Unsicherheit.“ Die steigenden Infektionszahlen machen Angst, der Lockdown erhöht den Stresspegel. „Aber wir lachen auch“, beschreibt sie die Stimmung unter den 50 Kollegen im Markt. Trotzdem: Als Mutter von zwei erwachsenen Kindern macht auch sie sich Sorgen um ihre Familie, vor allem um die neunjährige Enkelin. „Man weiß ja gar nicht, welche Auswirkungen das noch alles hat“, sagt sie

Wenn sich Gisela Rönfeldt etwas wünschen dürfte für 2021, was wäre das? Die Supermarkt-Mitarbeiterin überlegt einen Moment. Eigentlich will sie nur ihr altes Leben zurück. Den ausgefallenen Spanien-Urlaub aus dem Frühjahr nachholen, unbeschwert mit Freunden und Familie zusammen sein. Aber jammern, das liegt ihr nicht. „Andere sitzen zu Hause und wissen nicht, wie es weitergeht. Wir können froh sein, dass wir gebraucht werden und einen Job haben.“ Dann geht sie zurück in den Kaffee-Gang zu den nicht ausgepackten Kartons. Sie ist noch nicht ganz da, da tönt es schon durch den Lautsprecher. „Storno an Kasse zehn.“