Hamburg. 68 Präsenzveranstaltungen samt Reiseverkehr Tausender? Das sorgt für Kritik. Präsident verteidigt Strategie ungewöhnlich.
Es sind außergewöhnliche Zeiten. Corona hat auch Hamburg fest im Griff. Der zweite Lockdown trifft Eltern, Lehrer, Schüler, den Einzelhandel und die Gastronomie hart. In manchen Orten werden sogar Ausgangssperren verhängt. Nur in der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg scheinen die Uhren anders zu ticken. Dort werden in diesem Moment Klausuren geschrieben. Nicht ausgesetzt oder online abgehalten, wofür andere Universitäten sich seit dem ersten Lockdown gerüstet haben. Im Gegenteil: Es herrscht Präsenzpflicht.
Und so reisen Tausende von Studierenden, die aus dem ganzen Bundesgebiet stammen und aufgrund von Corona eigentlich nach Hause geschickt wurden, nun wieder quer durchs Land nach Hamburg an, um hier beispielsweise ihre Klausur in Volkswirtschaft zu schreiben. So wie es immer um diese Zeit war. Denn es ist eben Prüfungsphase an der Bundeswehr-Universität und die wird auch wegen eines zweiten bundesweiten Lockdowns nicht ausgesetzt.
3351 Klausuren in 68 Veranstaltungen geschrieben
68 Veranstaltungen wurden angesetzt, 3351 Klausuren in Präsenz geschrieben. Bis zum 23. Dezember. Dann endet die Prüfungsphase. Pro Veranstaltung sitzen dann 50 Studierende in einem Raum. In der Turnhalle oder der Aula auf dem Campus am Holstenhofweg 85 in Bezirk Wandsbek. Brüten über Aufgaben. Natürlich stehen die Tische auf Abstand, natürlich gibt es die obligatorischen Handspender mit Desinfektionsmittel.
Was es nicht gibt: die ausdrückliche Anweisung, eine Maske zu tragen während der mehrstündigen Klausuren. Wie die Uni auf Abendblatt-Nachfrage betätigt, sind die Studierenden dazu aus prüfungsrechtlichen Gründen nicht verpflichtet. Würde die Maske angeordnet, könnten Studierende die Ergebnisse nachträglich anzweifeln, wenn die Maske sie beim Schreiben behindert.
Deshalb bleibt nur die Bitte oder ein Hinweis, dasss es den Prüflingen freistehe, selbst zu entscheiden, ob sie Maske tragen. Doch was nützt einem die Entscheidung für sich selbst, wenn die anderen sie abnehmen? Laut Abendblatt-Informationen haben in manchen Klausuren die Mehrheit der Studenten die Masken abgenommen. Anschließend geht es dann für viele zurück – beispielsweise in der Bahn zu den Familien, um Weihnachten zu feiern.
Das zu hören, macht nicht nur Unbeteiligten Angst. Auch die Studierenden sind in großer Sorge. So berichtet dem Abendblatt ein Student, der aufgrund der Bundeswehranstellung anonym bleiben möchte, dass er um die eigene Familie fürchtet. Kurzfristig wurde die Weihnachtsfeier nun sicherheitshalber wegen des Infektionsrisikos abgesagt. Andere Kommilitonen hätten Angst, selbst schlimm zu erkranken.
Bundeswehr-Uni nicht mit „normalen“ Unis zu vergleichen?
Und warum das alles? Diese Frage beantwortet Universitätspräsident Prof. Dr. Klaus Beckmann dem Abendblatt ähnlich, wie er es in seiner Videoansprache nach dem Lockdown gegenüber den Studenten tat. Das Problem sei, dass die Bundeswehr-Universität nicht mit anderen „normalen“ zivilen Unis zu vergleichen sei. Stimmt: Die normalen Universitäten verzichten auf Präsenzklausuren seit dem Lockdown. Die Hamburger Uni hat beispielsweise dazu eine Dienstanweisung herausgegeben, die jeder nachlesen kann.
Lesen Sie auch:
- Wo kann man jetzt in Hamburg noch einen Corona-Test machen?
- Der aktuelle Corona-Newsblog für den Norden
- Corona: Flugverkehr aus Großbritannien vorerst gestoppt
Laut Professor Beckmann sei das für die Hamburger Uni viel leichter, weil dort derzeit kaum Klausuren anstünden, sondern erst wieder im Frühjahr. Würde dagegen die Bundeswehr-Uni die Prüfungen jetzt einfach verschieben, hätte das, so Beckmann, weitreichende Folgen.
„Die Absage der Prüfungstermine würde die Verlängerung des Studiums um mindestens ein Trimester bedeuten und hätte Auswirkungen auf den gesamten weiteren militärischen Ausbildungsweg der betroffenen SoldatInnen. Dieses wiederum hätte Auswirkungen auf die weitere gesamte militärische Ausbildung aller Organisationsbereiche und Teilstreitkräfte sowie in der Folge auch auf deren Einsatzbereitschaft“, erklärt er. Sprich: Auf der einen Seite blieben viel mehr Studenten an der Uni als vorgesehen, was die Kapazitäten zukünftig sprengen würde, und die Studierenden würden wiederum im System als benötigte Fachkräfte fehlen.
Truppe soll einsatzbereit sein dank Klausuren
Nun haben alle so ihre Probleme mit dem Lockdown und den Folgen. Und doch müssen Gastronomen, Schüler, Lehrer, Einzelhändler da eben durch. Die Bundeswehr-Uni hat einen weiteren Vorteil: Sie kann sich ihre eigenen Regeln machen. Es geht um den Paragrafen 54a des Infektionsschutzgesetzes. Er regelt die Sonderrolle der Bundeswehr. Auch in Krisenzeiten soll die Truppe einsatzbereit sein und das dürfe die Bundeswehr selber sicherstellen, Stichwort: „Eigenvollzugskompetenz“.
Die Studierenden steuern also in einer Krisenzeit wie dieser mit dem Schreiben ihrer Klausur zur Einsatzbereitschaft der Truppe bei. „Ihr Studium soll unter anderem die Urteilsfähigkeit der militärischen Führerinnen und Führer sicherstellen und wann, wenn nicht in einer solchen globalen Notlage, wäre diese Urteilsfähigkeit von entscheidender Bedeutung“, sagt der Präsident der Helmut-Schmidt-Universität in seiner Videobotschaft an die Studierenden – und an seine Kritiker gerichtet. Was wohl der Namensgeber Helmut Schmidt dazu gesagt hätte?
Klausuren wegen prüfungsrechtlicher Regularien
Gut: Die Studierenden werden gebraucht, sie haben einen Anspruch auf die Prüfungen, die sich nicht verschieben lassen. Aber warum eine Präsenzprüfung: Gab es keine Alternative per Onlineschaltung, so wie es andere „normale“ zivile Universitäten vormachen? Dazu erklärt ein Sprecher der Uni auf Anfrage: Klausuren könnten derzeit aufgrund prüfungsrechtlicher Regularien durch die Studierenden ausschließlich in Form von Präsenzveranstaltungen erbracht werden. Wo kontaktlose Prüfungsformen möglich waren, seien diese umgesetzt worden. Seit Oktober sei zudem die Präsenzlehre ausgesetzt und digitale Formate ersetzt.
Zudem verweist er auf ein Hygienekonzept, das nach Auffassung aller beteiligten Experten bestmöglich vor Ansteckung schütze. Zu diesen Maßnahmen zählt der vollständige Austausch der Raumluft zehmal pro Stunde, der Einsatz von Hepa-Filtern und die Minimierung der Raumbelegung. Abgestimmt und überprüft werden diese Maßnahmen von der zuständigen Gesundheitsbehörde der Bundeswehr, also einer eigenen Bundeswehrbehörde.