Hamburg. Vor fünf Jahren gründete Hamburgs Ehrenbürgerin die Möwenweg-Stiftung, sie unterstützt Aids-Waisen in Eswatini in Afrika.
Die erste Geschichte von Kirsten Boie in Swasiland lässt sich treffend mit dem Wort Hoffnung überschreiben. „Litsemba“ heißt das in der Landessprache. Und Litsemba nennt sich auch das Projekt, das die Kinderbuchautorin zusammen mit ihrem Mann seit 2007 intensiv unterstützt hat. In jedem Jahr besuchte sie mindestens einmal für einige Wochen das Königreich im Süden Afrikas, das seit 2018 Eswatini heißt.
Dann warf der Verein, der das Projekt gegründet hatte, plötzlich hin. „Das hätte das Ende der Hilfe bedeutet und massive, lebensverschlechternde Konsequenzen gehabt“, sagt Boie. Nicht nur für die rund 3000 betreuten Kinder, sondern für alle betroffenen Dörfer in der Region Shiselweni, einem der vier Teile Eswatinis. „Das wollten wir verhindern und haben deshalb die Möwenweg-Stiftung gegründet, die gemeinsam mit der Thomas Engel-Stiftung das Projekt trägt und deutlich weiterentwickelt hat.“ Das war am 26. November 2015. Jetzt feiern sie das fünfjährige Bestehen der Stiftung. Sie haben den Menschen die Hoffnung zurückgegeben.
In der Landessprache gibt es kein Wort für Waise
Hat sie sich vorstellen können, was da auf sie zukommen sollte? „Nicht ansatzweise, da war ich naiv“, sagt sie. „Nach sieben Jahren dachten wir ja, wir wüssten alles. Dann mussten wir feststellen, dass der Ursprungs-Trägerverein nicht in allem offen gewesen war.“ Daraufhin stellten sie das Projekt mit erfahrenen, fest angestellten einheimischen Mitarbeitern vollkommen neu auf.
Heute werden an 87 Neighbourhood Carepoints (NCP) von mehr als 500 ehrenamtlich arbeitenden Frauen rund 3000 Kinder betreut. „Als wir anfingen, waren das ausschließlich Aids-Waisen.“ Aufgrund der hohen HIV-Infektionsrate in Eswatini und der geringen Lebenserwartung ist die Zahl der Waisen im Land unvorstellbar hoch: 43 Prozent der Kinder haben bis zu ihrem 16. Geburtstag ihre Eltern verloren.
„Inzwischen gibt es mehr HIV-Testungen, auch durch unser Team, und eine bessere medikamentöse Versorgung, deshalb sterben nicht mehr so viele Eltern von kleinen Kindern.“ Es gebe übrigens in der Landessprache kein Wort für Waise. „Kein Kind soll verwaist sein, dann ist immer jemand da.“ Die Armut aber sei so groß, dass Litsemba auch andere Kinder aufnimmt. „Für viele ist die Mahlzeit am NCP die einzige des Tages.“
Bildung ist das Allerwichtigste
Dann haben sie sich gefragt, was denn aus diesen Kindern wird, wenn sie größer werden? „Bildung ist das Allerwichtigste.“ Seit zwei Jahren gibt es deshalb auch Vorschulunterricht an den NCPs. „Drei einheimische Vorschullehrerinnen mit Hochschulabschluss qualifizieren die Ehrenamtlichen in mehrtägigen Kursen.“ Sie haben Bildungsspielzeug angeschafft. Und, was ganz großartig sei, schwärmt Hamburgs Ehrenbürgerin: „Für alle der mehr als 500 ehrenamtlichen Betreuerinnen gibt es jetzt mit Unterstützung der Rotarier aus der Hauptstadt Mbabane sogenannte Einkommen schaffende Maßnahmen, mit denen sie Geld verdienen können.“
Die Frauen bekommen dafür alles, was sie brauchen. Für die Hühnerzucht etwa Küken und Futter, für ein Nähprojekt Tret-Nähmaschinen und Stoff. „Und dazu eine Qualifizierung, zu der auch grundlegende Fragen der Buchhaltung gehören.“ Die meisten Ehrenamtlichen arbeiten in Gruppen und hätten immer größeren wirtschaftlichen Erfolg. „Sie werden von einem unserer Mitarbeiter betreut, der bei allen Fragen zur Verfügung steht. Das stärkt natürlich auch die Position der Frauen in den Gemeinden.“
Außerdem sei es gelungen, auch die medizinische Versorgung aufrechtzuerhalten. „Arztpraxen gibt es auf dem Lande nicht“, sagt Kirsten Boie. Nur die sogenannten „Clinics“, die ausschließlich mit Krankenschwestern arbeiten und zudem oft bis zu 25 Kilometer von den Dörfern entfernt sind. „Viel zu weit, wenn man kein Auto hat und kein Geld für den öffentlichen Nahverkehr – wenn es diesen denn überhaupt gibt.“ Ihr medizinisches Team sei einmal im Monat direkt vor Ort. „Dann drängen sich da die Menschen, um sich untersuchen oder auf HIV testen zu lassen.“
Die größte Herausforderung ist immer noch die Ernährung
Die größte Herausforderung sei immer noch die Ernährung „unserer Litsemba-Kinder“. Boie: „Traditionell liefert das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, das ja gerade den Friedensnobelpreis bekommen hat, Maismehl und Bohnen an unsere NCPs. Aber immer wieder kommt es zu Engpässen, in diesem Jahr gab es ab Mai keine Lieferungen mehr. Wir mussten seitdem also auch die Lebensmittel für die Kinder aus Stiftungsmitteln beschaffen. Das ist bis Juli gelungen, danach ist für zwei Monate die Kindernothilfe eingesprungen. Aber auch deren Nahrungsmittel-Unterstützung läuft nun aus.“
Das Welternährungsprogramm habe zugesagt, ab Januar wieder zu übernehmen – allerdings nur Maismehl. Das heißt: „Die Kinder werden vielleicht satt, Vitamine fehlen aber vollständig. Da werden wir wieder einspringen müssen.“ 25 Prozent der Kinder in Eswatini seien „stunted“, das bedeute, sie sind körperlich und geistig durch Nahrungsmittelmangel „verkümmert“ und nicht altersentsprechend entwickelt. „Auch das menschliche Gehirn entwickelt sich nicht adäquat, wenn die notwendigen Vitamine und Mineralien fehlen.“
Und dann kam auch in Eswatini das Corona-Virus dazu. „Unsere Stationen öffnen seitdem nur noch zu den Mahlzeiten. Wir mussten die medizinische Versorgung für die Erwachsenen einstellen, weil das Gedränge ein echtes Superspreader-Event wäre.“ Die Kinder würden inzwischen wieder mit den notwendigen Entwurmungs- und Vitamintabletten sowie mit Medikamenten gegen die sich gerade rasend ausbreitenden Hautkrankheiten versorgt.
Auch in Eswatini gab es einen Lockdown
Weil knapp die Hälfte der Erwachsenen in Eswatini HIV-positiv ist und als Co-Erkrankung bei 80 Prozent von ihnen auch noch Tuberkulose dazu- kommt, hatten sie wegen Corona „mit katastrophalen Folgen“ gerechnet. „Erstaunlicherweise erkrankten aber sehr viel weniger Menschen als erwartet, es gab weniger schwere Verläufe oder Todesfälle.“ Sie vermutet, dass das nicht nur mit weniger Testungen, sondern auch mit der Altersstruktur zusammenhängt. „Nur 15 Prozent der Menschen in Eswatini erreichen überhaupt ihren 45. Geburtstag.“ Die besonders gefährdete Gruppe der Älteren fehlt fast vollständig.
Auch in Eswatini gab es einen Lockdown, viele verloren ihre Arbeit. „Umso wichtiger sind die täglichen Mahlzeiten an unseren 87 Stationen.“ Da bis heute auch die Schulen immer noch geschlossen sind und für viele Schüler die Mahlzeit dort die einzige des Tages ist, sind auch sie in großer Zahl zu den Litsemba-Betreuungshäusern gekommen. „Für die Kleinen blieb kaum Essen übrig.“
Inzwischen gibt es ein Abkommen mit den Gemeinden, dass an den NCPs nur noch die dort registrierten Kinder zu essen bekommen. „Wir hätten uns gewünscht, dass auch die Schulen die Nahrungsmittelausgabe wie wir geregelt hätten. In kleineren Gruppen zu unterschiedlichen Zeiten – anstatt sie ganz zu streichen und die Schulkinder dem Hunger zu überlassen.“
Zu Beginn der Pandemie gab es in Eswatini kaum Masken
Zu Beginn der Corona-Zeit gab es in Eswatini kaum Masken. „Inzwischen nähen unsere Ehrenamtlichen Masken für alle Mitarbeiter und verkaufen sie auch.“ Kirsten Boie sagt, sie merke gerade, wie ihr die Besuche fehlen. Zuletzt ist sie im Februar mit ihrem Mann dort gewesen. Sie vermisst die vielen anderen Geschichten, die es in Eswatini eben auch gibt. Die schönen Momente. „Es ist jedes Mal ein großes Glück, unsere Stationen zu besuchen, mit den Ehrenamtlichen über ihre Erfahrungen und Wünsche zu sprechen und mit den Kindern Quatsch zu machen.“ Manchmal schenken ihr die Frauen in den Dörfern, die ja selbst hungern, Kürbisse oder Zuckerrohr für ihre Familie. „Das ist sehr anrührend. Ablehnen kann ich das nicht – aber im nächsten Dorf heimlich weitergeben.“
Auch die Zusammenarbeit mit dem elfköpfigen einheimischen Team sei immer wieder inspirierend: „Sie alle kennen die Bedingungen und Notwendigkeiten des Landes ganz anders, als uns das auch nach mehr als zehn Jahren regelmäßiger Aufenthalte möglich wäre. Sie stoßen neue Entwicklungen an und wissen, wie sie umgesetzt werden können.“
Ihre anfängliche Hoffnung kann sie längst mit konkreten Zahlen anreichern. „Als wir anfingen, betrug die durchschnittliche Lebenserwartung in Eswatini 31 Jahre.“ Inzwischen liegt sie, auch durch die bessere medizinische Versorgung im Land, bei über 5o Jahren.
Straßen im Land werden immer schlechter
Insgesamt, sagt Boie, sei die Entwicklung widersprüchlich. „Nhlangano, die Regionalhauptstadt von Shiselweni, wo unser Litsemba-Büro liegt, ist seit meinem ersten Besuch kaum wiederzuerkennen.“ Im Land wird es „Boomtown“ genannt, 9000 Menschen leben dort. „Es gibt jetzt einige asphaltierte Straßen, Gebäude mit zwei oder sogar drei Stockwerken und vier Supermärkte.“ Man kann bei Kentucky Fried Chicken essen gehen oder auch im Gallitos-Restaurant. „Es gibt einen Apotheken-Supermarkt, in dem ich im Februar bei einem Hexenschuss haargenau das Medikament bekommen konnte, was ich auch in Hamburg gekauft hätte.“
Andererseits würden die Straßen im Land immer schlechter, weil in ihren Erhalt nicht investiert wird. Neben wenigen asphaltierten Durchgangsstraßen sind die allermeisten sogenannte „dust roads“. Die Schlaglöcher seien unvorstellbar, führten immer wieder zu schweren Unfällen. „Viele NCPs sind bei Regen nicht mal mit einem Vierradantrieb zu erreichen. Nur ein einziges Mal hatten wir einen Aufenthalt ohne Panne.“ Immer mehr Brücken würden verfallen, seien ohne Geländer. „Es gehört Mut dazu, sie mit dem Auto zu überqueren.“ Sowohl das Gesundheits- als auch das Bildungssystem würden immer noch zu großen Teilen von Hilfsorganisationen und nicht vom Staat getragen. „Sonst würden sie zusammenbrechen.“
Ist es ein Dilemma, dass durch ihr unermüdliches Engagement gleichzeitig ein Afrikabild gefestigt wird, das in dieser Einseitigkeit natürlich nicht stimmt? „Mein Hauptinteresse gilt nicht dem gängigen Afrikabild“, sagt Kirsten Boie. Das stimme zwar in vielerlei Hinsicht immer noch, obwohl es auch viele positive Entwicklungen gebe. „Aber mein Hauptinteresse gilt dem Überleben der Menschen, der Bildung der Kinder, der gesundheitlichen Versorgung und unseren Versuchen, auf dem Weg der Hilfe zur Selbsthilfe weiterzukommen, damit unsere Arbeit bald überflüssig ist.“
Überleben sichern
Denn natürlich geht es auch ganz konkret um die Bekämpfung von Fluchtursachen. „Ich bin überzeugt, dass viele kleine Projekte, die direkt bei den Menschen ansetzen und ihr Überleben sichern, wie etwa unsere medizinische Versorgung der Dörfer, Bildung für die Kinder und vor allem auch Einkommen schaffende Maßnahmen sehr viel mehr Menschen motivieren würden zu bleiben, als es die staatlichen Großprojekte aus Entwicklungshilfe bisher erreicht haben. Wer verlässt denn schon freiwillig seine Heimat, wenn er auf einmal eine Möglichkeit sieht, dort mit seiner Familie gut und immer besser zu leben?“
Solche Projekte setzten aber eine genaue Kenntnis der lokalen Gegebenheiten und eine relativ große personelle Ausstattung voraus. „Sie sind kleinteilig und werden darum nur schwer im größeren Maßstab umzusetzen sein.“ Und es braucht mehr als eine Geschichte über Afrika. Der Kontinent sei sehr viel widersprüchlicher, „als wir es uns hier vorstellen können“. Zum Teil sehr modern. „Schon vor zehn Jahren hatten zehnmal mehr Menschen ein Handy als Zugang zu sauberem Wasser.“ Aber der Unterschied zwischen Stadt und Land sei gigantisch. „Bei unseren Gesprächen in der Hauptstadt erleben wir hochgebildete, aufgeschlossene Gesprächspartner.“ Gleichzeitig gebe es noch sehr lebendige Traditionen, „die für uns unvorstellbar und trotzdem eine Selbstverständlichkeit sind“.
- Eswatini (bis 2018 Swasiland) ist ein kleines Königreich zwischen Südafrika und Mosambik, hat rund 1,02 Millionen Einwohner, 90 Prozent sind Christen. Der zweitkleinste Staat Afrikas ist weltweit das Land mit der höchsten HIV-Infektionsrate: 2019 lag sie bei 27,4 Prozent (15- bis 49-Jährige). 66 Prozent der verheirateten Frauen haben Zugang zu Verhütungsmitteln.
- Die Lebenserwartung liegt bei über 50 Jahren, mehr als 40 Prozent der 16-Jährigen sind Waisen. 63 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze (ein Dollar pro Tag), 37 Prozent davon in extremer Armut. 104 von 1000 Kindern sterben vor ihrem 5. Geburtstag. 2014 waren 5,8 Prozent der Kleinkinder unterernährt, gleichzeitig sind 16,5 Prozent der Erwachsenen stark übergewichtig.
Auf ihrer Stiftungsseite gibt es einen Link zu dem sehr beeindruckenden Auftritt der nigerianischen Autorin Chimamanda Ngozi Adichie. Die 19-minütige Rede über „die Gefahr der einen einzigen Geschichte“ der vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin, die als herausragendes Beispiel für junge afrikanische Literatur gilt, müsste, so denkt man, Pflichtstoff sein. Für alle, die Afrika auf einen Kontinent reduzieren wollen, von dem als Ausweg nur die Flucht bleibt.
Auch Kirsten Boie schreibt gegen dieses Afrika-Bild an. Und erreicht mit ihren „Thabo“-Krimis die wichtigste Zielgruppe – die Kinder. „Dabei vermittelt Kirsten Boie, dass weder unterschiedliche Besitzverhältnisse noch Lebensumstände oder Hautfarbe etwas über den Charakter eines Menschen aussagen. Was zählt, sind Aufrichtigkeit und Freundschaft“, heißt es in einer Rezension. „Wir müssen von der Komplexität und Widersprüchlichkeit Afrikas berichten“, sagt die preisgekrönte Autorin.
In Deutschland – und auch in Afrika, einem Kontinent voller Geschichten. Und deshalb bekommt jetzt jedes Kind zum Schulanfang von der Möwenweg-Stiftung ein Buch in der Landessprache Siswati. „Das ist deshalb so besonders“, sagt Kirsten Boie, „weil es in Eswatini kein einziges Kinderbuch in der Landessprache gibt.“
Infos zur Möwenweg-Stiftung unter www.moewenweg-stiftung.de. Und: Jeder, der Fragen zum Projekt hat, kann diese Kirsten Boie am 11. Dezember um 20 Uhr live auf dem Instagram-Account @moewenwegstiftung stellen.