Hamburg. Für die Mitarbeiter des Großhamburger Bestattungsinstituts (GBI) ist die Schwelle zwischen Leben und Tod allgegenwärtig.

Der Erste Weltkrieg war gerade zwei Jahre vorüber, viele Hamburger lebten in bitterster Armut. Auf zweirädrigen Holzkarren zogen die Bestatter in jenem Winter 1920 die Särge zu den Bestattungen auf den Ohlsdorfer Friedhof. Und doch waren sie stolz. Denn sie schufteten für einen neu gegründeten Verein mit einer Vision: Jeder Verstorbene sollte fortan würdig bestattet werden.

100 Jahre später gibt es den Verein noch immer: Diesen Festtag wollte das Großhamburger Bestattungsinstituts (GBI) gebührend am 6. November im Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof mit Bürgermeister Peter Tschentscher als Gastredner feiern. Doch die Pandemie durchkreuzte alle Feierpläne, das Fest wurde abgesagt.

Corona stellt ohnehin das GBI wie die gesamte Branche vor massive Probleme. „2020 ist für uns ein außerordentlich herausforderndes Jahr“, sagt GBI-Chef Volker Wittenburg. Zum einen müssen Bestatter mehr denn je auf ihre Sicherheit achten, das Virus kann auch nach dem Tod noch anstecken.

Zum anderen haben die Mitarbeiter die undankbare Aufgabe, Angehörige vor dem wohl schwersten Tag ihres Lebens über Corona-Einschränkungen bei Trauerfeiern zu unterrichten. „Aber dies hat uns noch stärker zusammengeschweißt“, sagt Wittenburg.

 Das Abendblatt hat fünf Mitarbeiter vom Großhamburger Bestattungsinstitut in den vergangenen Monaten begleitet

1. Der Bestatter

2. Die Beraterin

3. Der Einbalsamierer

4. Die Auszubildende

5. Der Trauerredner

1. Der Bestatter

„Der Hase“, fragt Björn Biben, „soll der mit?“ Die Pflegekraft nickt. Biben legt das Kuscheltier neben den Sarg. Dann verneigt sich der 38-Jährige mit seinem Kollegen vor der Verstorbenen im Pflegebett des Zimmers in der ersten Etage des Heinrich-Sengelmann-Hauses in St. Georg. Vorsichtig schieben die beiden Bestatter dann ein Tuch unter den Leichnam, heben die 88-Jährige im Schein von sechs Teelichtern behutsam in den mit einer Decke ausgeschlagenen Sarg. Biben legt den Hasen neben den Kopf der Heimbewohnerin, schließt den Sarg und rollt ihn mit seinem Kollegen zum Fahrstuhl. Er deutet auf das vordere Ende des Sargs, dort, wo die Füße liegen: „Das machen wir immer so.“ Jeder Verstorbene wird mit den Beinen voran über die Schwelle getragen. So wie er das Haus betreten hat, so soll er es auch wieder verlassen.

Einst war er Kfz-Mechaniker, jetzt ist er lieber Bestatter: Björn Biben arbeitet seit acht Jahren für das GBI.
Einst war er Kfz-Mechaniker, jetzt ist er lieber Bestatter: Björn Biben arbeitet seit acht Jahren für das GBI. © MARCELO HERNANDEZ / FUNKE Foto Services | Unbekannt

Man könnte diesen Einsatz an einem düsteren November-Nachmittag Routine nennen. Gestorben ist eine Frau nach einem langen Leben, ein Arzt hat den natürlichen Tod bescheinigt. Biben und sein Kollege müssen an diesem Tag kein Kind bergen, das von einem Laster überfahren wurde, keine junge, krebskranke Mutter aus einer Familie abholen, wo der verzweifelte Ehemann nicht weiß, wie das Leben mit den kleinen Kindern nun weitergehen soll. Aber Routine? Nein.

„Repariere jedes Auto so sorgfältig, als wenn es dein eigenes wäre“, hat ihm sein Meister einst eingebläut. In seinem ersten Berufsleben war Biben Kfz-Mechaniker. Seit acht Jahren kümmert er sich nun um Verstorbene statt um Motoren. Doch Werte wie Sorgfalt und Respekt­ gelten für ihn weiter. „Jeder hat ein Recht auf Würde nach dem Tod – egal ob arm oder reich“, sagt Biben. Und deshalb verneigt er sich mit seinem Kollegen vor der Heckklappe des Leichenwagens ein zweites Mal, als sie den Sarg eingeladen haben.

Bestatter wurde er dank eines Mausklicks. Zufällig scrollte er 2012 in der Agentur für Arbeit bei der Suche nach einem neuen Job auf dieses Berufsbild. „Klang irgendwie spannend“, sagt Biben. Die staunende Vermittlerin („Ich habe noch nie erlebt, dass sich jemand für diesen Beruf interessiert“) organisierte für ihn ein Praktikum. „Es hat mich sofort gefesselt“, sagt der ehemalige Mechaniker – und unterschrieb kurze Zeit später einen Ausbildungsvertrag. Mit 30 Jahren war Biben der Zweitälteste in der Berufsschule, nur ein anderer Umschüler war noch älter. Das habe ihm aber nichts ausgemacht.

„Wir können den Schmerz und die Trauer nicht nehmen."

„Wir können den Schmerz und die Trauer nicht nehmen. Aber wir können alles versuchen, das letzte Geleit so würdig wie möglich zu machen“, sagt Biben. Dabei brauche es Fingerspitzengefühl: „Wir fragen die Angehörigen immer, ob sie noch Zeit brauchen.“ Dann setzt er sich mit seinem Kollegen wieder in den Wagen. Und wartet. Bis die Hinterbliebenen sie wieder ins Haus bitten.

In der Leichenhalle des GBI in Ohlsdorf beginnt dann der andere Teil seiner Arbeit, die Versorgung des Leichnams. Er duscht den Verstorbenen, wäscht das Haar, rasiert das Gesicht. Viele Familien möchten sich am offenen Sarg verabschieden. Für diesen Moment gibt der Bestatter alles.

Seinen härtesten Einsatz hatte Biben im April 2018, als ein 33-Jähriger aus Wut um die Niederlage in einem Streit um das Sorgerecht auf seine Ex-Frau und seine einjährige Tochter am U-Bahnhof Jungfernstieg einstach – vor den Augen zahlreicher Fahrgäste. Biben holte zunächst mit einem Kollegen die Frau ab, fuhr sie ins Institut für Rechtsmedizin. Bei der zweiten Fahrt bargen sie das erstochene Mädchen neben dem Gleis. Die Polizei hatte den Bahnsteig komplett abgeriegelt. „Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so leise war es da unten. Das war so unwirklich und schrecklich“, sagt Biben.

Wer sich wie er ständig an der Schwelle zwischen Leben und Tod bewegt, braucht Rituale. Das gemeinsame Essen mit seiner Frau und den Söhnen, neun und vier Jahre alt. Borussia Dortmund gucken am Fernseher mit seinem Vater, Kicken in der Altherren-Liga beim Bramfelder SV.

Eines, sagt Biben, habe ihn sein Beruf gelehrt: „Das Leben ist wie eine Sanduhr. Nur dass niemand weiß, wann das letzte Korn fällt.“ Biben erlebt es Woche für Woche. Den plötzlichen Tod. Mitten im Leben. Herzinfarkt. Schlaganfall. „Deshalb muss man das Leben genießen“, sagt er.

Wie zerbrechlich das private Glück sein kann, hat er selbst erlebt. Sein jüngster Sohn kam drei Monate zu früh auf die Welt, lag als Frühchen zwei Monate auf der Intensivstation. „Du kannst so lange frei machen, wie du möchtest“, bot ihm sein Chef an. Doch Biben fuhr weiter. Die Arbeit gab ihm Halt. Morgens wachte seine Frau am Bettchen des Babys, abends er. Heute ist der Kleine ein putzmunteres Kerlchen. Das, sagt Biben, sei sein größtes Geschenk.

2. Die Beraterin

Silke Schwarz bittet in ihrem Büro vis-à-vis dem Öjendorfer Friedhof für einen Moment um Geduld, greift zum Telefonhörer und meldet sich bei der Zentrale ab. Niemand soll in den kommenden 90 Minuten stören, ihre Konzentration gilt nun ihren Besuchern, die an diesem Septembermorgen an dem Holztisch vor der lilafarbenen Wand Platz genommen haben: Zwei Geschwister trauern um ihre Mutter, die zwei Tage zuvor in einem Rahlstedter Pflegeheim im Alter von 91 Jahren gestorben ist.

Silke Schwarz war 19 Jahre lang in der Computerbranche tätig . Beim GBI berät sie jetzt nahe dem Öjendorfer Friedhof Hinterbliebene.
Silke Schwarz war 19 Jahre lang in der Computerbranche tätig . Beim GBI berät sie jetzt nahe dem Öjendorfer Friedhof Hinterbliebene. © Andreas Laible / FUNKE Foto Services | Andreas Laible

„Zum Glück durften wir sie bis zuletzt begleiten“, sagt die Tochter. Eine Pflegekraft habe angerufen, als sie spürte, dass der Tod der Bewohnerin naht. Mama sei friedlich eingeschlafen, sagt der Sohn. Ohne Schmerzen dank Morphium. Der 70-Jährige erzählt von seiner Kindheit, von den bescheidenen Nachkriegsverhältnissen in der Wohnung an der Steintwiete in der Altstadt. Ohne fließend Wasser, mit Gemeinschaftsklo für das ganze Haus: „Zum Baden ging’s einmal in der Woche ins Schwimmbad auf St. Pauli.“ Mutter habe immer alles für ihn und seine Schwester getan, deshalb tue der Abschied auch so weh.

Silke Schwarz weiß spätestens jetzt: Es wird ein zwar trauriges, aber harmonisches Gespräch. Die Geschwister haben sich gern, geben sich Halt. Sie hat das schon ganz anders erlebt. Angehörige, die streiten, wütend aus ihrem Büro stürmen, sich auf dem Parkplatz anschreien. Der Tod eines nahen Familienmitglieds schweißt Hinterbliebene zusammen – oder reißt alte Wunden auf. Und dann kann die schlichte Frage, wie der Sarg geschmückt werden soll, den großen Krach auslösen.

Silke Schwarz behält auch in Extremsituationen einen kühlen Kopf

Das wird an diesem Vormittag schon deshalb nicht passieren, weil die Verstorbene vor gut zehn Jahren in genau diesem Büro verfügt hat, was mit ihr nach dem Tod passieren soll. Sie hat sich für einen Eichensarg, Modell Hansa, entschieden, für zwei Dekorationssträuße bei der Trauerfeier („Rosen im zarten Rosa“) und Sargschmuck („weiße Rosen mit großen Blättern“), die Rechnung von 4700 Euro sofort beglichen. Vorsorgevertrag nennt dies das GBI. Das Institut garantiert diesen Preis, auch wenn die Beisetzung Jahrzehnte später erfolgt.

„Wir fanden das erst ziemlich makaber“, sagt die Tochter. Jetzt ist sie froh, dass Mutter alles verfügt hat – mit Ausnahme der Musik. „Da konnte sich Mama nicht entscheiden“, sagt der Sohn. Die Geschwister übernehmen das, bei der Trauerfeier soll „Amazing Grace“ in der Version von Judy Collins, „Millennium Prayer“ von Cliff Richard und ein altes Kirchenlied erklingen. Bei der Trauerrede gibt es ein kleines Problem: Den Wunsch der Geschwister nach einem Pastor kann Silke Schwarz nicht erfüllen – die Verstorbene war nicht der Mitglied der Kirche. Der Sohn kennt aber einen Geistlichen, er wird die Rede halten.

Silke Schwarz trägt alle Wünsche per Hand in ihre Auftragsbogen ein. Das wirkt anachronistisch, vor allem wenn man weiß, dass sie in ihrem ersten Berufsleben 19 Jahre für das Computer-Unternehmen IBM gearbeitet hat. Doch Silke Schwarz will nicht auf einen Bildschirm starren, wenn sie mit Angehörigen über die vielleicht schwerste Stunde ihres Lebens spricht. Und erst recht will sie nicht über einen Tablet-Computer wischen, um Särge und Blumenschmuck zu zeigen. Nein, die Angehörigen sollen in aller Ruhe in den Mappen blättern können.

Und doch profitiert sie beim GBI von ihren fast zwei Jahrzehnten bei IBM. Wer entnervte Kunden durch Computerprobleme lotsen musste, behält auch in Extremsituationen kühlen Kopf. Als der Senat auf dem Höhepunkt der ersten Corona-Welle im März von einem Tag auf den anderen nur noch höchstens sechs Gäste für das letzte Geleit erlaubte, mussten Berater wie Silke Schwarz Angehörigen beibringen, dass selbst enge Familienmitglieder der Beisetzung fernbleiben müssen. „Da trifft das Unverständnis schnell den Überbringer der schlechten Botschaft“, sagt Silke Schwarz. Ihre Kollegen auf den Friedhöfen hatten es mitunter noch schwerer. Sie mussten Familien erklären, dass die Zeremonie erst beginnen kann, wenn Angehörige wieder gehen.

Zwar gelten diese strengen Regeln nicht mehr, der Senat klammert Trauerfeiern von den Versammlungsregeln ausdrücklich aus. Aber das Abstandsgebot von 1,50 Metern muss auch bei Trauerfeiern beachtet werden, in den Kapellen darf in der Regel nur jeder dritte Platz besetzt werden. Und Singen ist wegen der Viren-Gefahr verboten, nur leises Summen erlaubt.

Silke Schwarz versucht, das Beste aus der Situation zu machen: „Für mich ist das Glas immer eher halb voll als halb leer.“ Bislang hat sie auf die Dienste der Psychologin, die GBI-Mitarbeitenden in Krisensituationen beisteht, verzichtet.

Und doch klingen manche Hausbesuche lange nach, etwa bei Eltern, die ihr Kind verloren haben: „Manchmal kann man die Trauer förmlich greifen.“ Silke Schwarz kümmert sich intensiv – und wahrt doch Distanz. Dies sei auch besser für die Trauernden: „Ich bleibe für sie in der Zukunft durch meine Tätigkeit negativ besetzt.“ Das größte Geschenk sei, wenn Angehörige am Ende sagen: „Wir haben dank Ihrer Arbeit würdevoll Abschied nehmen können.“ Doch dafür sei es wichtig, über den Tod zu reden, das Tabu aufzubrechen. Silke Schwarz sagt, dass manche Hinterbliebenen nicht einmal wüssten, ob sich der Verstorbene eine Erd- oder Feuerbestattung gewünscht habe.

Den Wandel in der Trauerkultur bekümmert auch ihren Chef – besonders der Trend zu anonymen Bestattungen. Oft auf Wunsch des Verstorbenen, der seiner Familie Kosten und Mühen für die Grabpflege ersparen will. Den Preis hält Wittenburg für viel zu hoch: „Trauer braucht einen konkreten Ort.“ Wittenburg hat erlebt, dass Familien diese Entscheidung später bitter bereut haben.

3. Der Einbalsamierer

Holger Langer trägt Handschuhe, Maske und einen grünen OP-Kittel, links neben ihm liegen ausgebreitet auf einem grauen Tuch Pinzetten, Skalpelle, Nadeln und Fäden. Wer den 55-Jährigen an seinem Arbeitsplatz im Keller eines Geschäftshauses in Ohlsdorf besucht, denkt unwillkürlich an einen Operationssaal. Doch der Mann, der an diesem Oktober-Tag auf dem Metalltisch liegt, ist vor vier Tagen gestorben. In den kommenden zwei Stunden wird Langer seine ganze Kunst einsetzen, damit die Angehörigen in drei Wochen würdevoll am offenen Sarg Abschied nehmen können. Er wird den Leichnam einbalsamieren.

Holger Langer sorgt als Thanatologe dafür, dass Angehörige auch nach mehreren Wochen noch in Würde am offenen Sarg vom Verstorbenen Abschied nehmen können.
Holger Langer sorgt als Thanatologe dafür, dass Angehörige auch nach mehreren Wochen noch in Würde am offenen Sarg vom Verstorbenen Abschied nehmen können. © Andreas Laible / FUNKE Foto Services | Unbekannt

Mit diesem Begriff verbinden viele historische Bilder von mumifizierten alten Pharaonen. Einbalsamieren, das klingt nach ätherischen Ölen und wohlriechenden Kräutern. Doch damit hat Langers Tätigkeit nichts zu tun. Die alten Ägypter stoppten den Verwesungsprozess, indem sie die Organe durch Leinen- und Natronpäckchen ersetzten und den Leichnam dann in mit Harz verklebte Bandagen wickelten. Ein Thanatologe wie Langer geht völlig anders vor: Er tauscht die Körperflüssigkeiten aus, um den Leichnam für mehrere Wochen zu konservieren, wenn, wie in diesem Fall, die Familie eine Trauerfeier zu einem späteren Zeitpunkt wünscht. Denn dann würde die übliche hygienische Versorgung eines Verstorbenen wie Waschen des Leichnams, Schneiden der Fingernägel und Schließen der Körperöffnungen, nicht ausreichen.

Langer mischt zunächst die Chemikalien an. Wählen kann er aus Dutzenden Präparaten in seinem Metallschrank. Dafür studiert er den Totenschein und schaut sich den Verstorbenen genau an: Haben Organe unter einer Chemotherapie gelitten? Gibt es viel Wasser im Gewebe? Hat der Verstorbene starkes Über- oder Untergewicht? Vorsichtig öffnet Langer dann mit dem Skalpell ein Gefäß am Hals, führt einen Schlauch ein und stellt die Pumpe an. Sie funktioniert wie ein künstliches Herz, pumpt fünf Liter Chemikalien mit Formaldehyd-Anteil durch die Arterien. Per Unterdruck saugt die Pumpe nach einem Schnitt im Bauchraum Blut und andere Körperflüssigkeiten ab.

Pietät ist bei seinem Job wichtig

Langer, im Hauptjob Leiter des Fahrdienstes bei GBI, arbeitet hoch konzentriert. Sein Handwerk verzeiht kaum Fehler. Ein zu hoher Druck der Pumpe oder ein zu tiefer Schnitt an einem Gefäß könnte dazu führen, dass der Leichnam nicht mehr konserviert werden kann. Mitunter muss der Thanatologe auch Körperteile rekonstruieren, vor allem bei Opfern von schweren Verkehrsunfällen. Die Ausbildung dauert ein Jahr, Langer hat sie 2004 teilweise in Irland absolviert, wo es deutlich mehr Einbalsamierungen gibt.

Drei Jahre zuvor war er von der Verwaltung des Ohlsdorfer Friedhofs zum GBI gewechselt: „Ich wollte keinen reinen Schreibtisch-Job mehr.“

Pietät, sagt Langer, ist bei seinem Job sehr wichtig. In der Leichenhalle dudelt kein Radio, es brummt nur die Kühlanlage. Die Geschlechtsteile eines Leichnams sind immer bedeckt.

Achten muss er auch auf seinen eigenen Schutz. Tote können infektiös sein. Wer etwa an oder mit Corona starb, darf nicht einbalsamiert werden. „Es kann immer noch Luft aus der Lunge entweichen“, sagt Langer. Der Pflegeheimbewohner ist laut Totenschein an einem Herzinfarkt gestorben. „Ein Restrisiko gibt es dennoch“, sagt Langer. Denn natürlich kann sich der hochbetagte Mann in den letzten Wochen seines Lebens unbemerkt doch mit dem Covid-19-Virus infiziert haben.

GBI-Chef Volker Wittenburg schaut an diesem Tag für ein paar Minuten Langer bei der Arbeit zu, der enge Kontakt zu den Mitarbeitenden ist ihm gerade in den Zeiten der Pandemie wichtig: „Was unsere Kolleginnen und Kollegen derzeit leisten, kann gar nicht hoch genug gewürdigt werden.“ Er ist enttäuscht, dass der Senat die Bestatter in Hamburg – anders als in vielen anderen Bundesländern – noch nicht als systemrelevant eingestuft hat: „Dies bedeutet für meine Kolleginnen und Kollegen, dass sie zum Beispiel keinen Anspruch auf eine Notfallbetreuung im Kindergarten oder in der Schule haben.“

Am Ende verschließt Langer den Mund des alten Mannes mit einer Naht, schiebt Kunststoffkappen unter die Augenlider, damit es wirkt, als ob er friedlich schlafe. Mit einem Kollegen rollt er den Verstorbenen behutsam zurück in das Kühlfach. Der hellbraune Eichensarg für seine letzte Ruhestätte steht bereits nebenan, ausgelegt mit einer weißen weichen Matratze. Das blütenweiße Leichenhemd mit einer Halsschleife werden die Bestatter dem Verstorbenen kurz vor der Bestattung auf dem Schiffbeker Friedhof in Billstedt überstreifen.

4. Die Auszubildende

Als Laura-Carina Reiche im Freundeskreis von ihrem Berufswunsch erzählte, war die Skepsis groß. „Das zieht einen doch total runter.“ „Jeden Tag Tote, wie willst du das aushalten? „Dann musst du ja auch noch Leichen schminken.“ Am ehesten angetan war noch ihre Großmutter. Die alte Dame interessiert sich seit Jahrzehnten sehr für Friedhöfe, Bildbände etwa über den Ohlsdorfer Friedhof füllen ein Regal ihrer Bücherwand.

Vor knapp zweieinhalb Jahren startete Laura-Carina Reiche ihre Ausbildung zur Bestattungsfachkraft, so heißt der Beruf offiziell. Zuvor hatte sie Kfz-Mechatronikerin gelernt: „Aber ich bin nicht glücklich, wie sich die Autos entwickelt haben.“ Alles sei vollgestopft mit Computer-Technologie. Nicht ihr Ding. Bereut hat die 28-Jährige den Wechsel nie: „Es ist ein fordernder, aber sehr erfüllender Beruf.“

Laura-Carina Reiche bereitet sich im dritten Ausbildungsjahr auf den Beruf des Bestatters vor. Dazu gehört auch die Arbeit in der Werkstatt des Sarglagers.
Laura-Carina Reiche bereitet sich im dritten Ausbildungsjahr auf den Beruf des Bestatters vor. Dazu gehört auch die Arbeit in der Werkstatt des Sarglagers. © Thorsten Ahlf

Ihren ersten Toten sah sie im Krankenhaus Eilbek. Ein alter Mann. „Er sah aus, als ob er schlief“, sagt sie. Erst als sie ihn berührte, spürte sie, dass er schon ganz kalt war. Damals, im Frühjahr 2018, absolvierte Laura-Carina Reiche ein Praktikum beim GBI. Drei Tage, um einigermaßen sicher zu sein, ob sie diesem Job mit ihrem ausgeprägten Geruchssinn („Da bin ich sehr pingelig“) gewachsen ist. Der Härtetest für Nase und Gemüt kam direkt nach dem Transport des Verstorbenen in das Institut für Rechtsmedizin. Ein Arzt begann gerade die Leichenschau mit einem Toten, dessen Zustand sie eher an Gruselfilme erinnerte.

Und doch, sagt sie in der Rückschau, sei der Tag in der Angehörigen-Beratung härter gewesen. Etwa das Gespräch mit dem Witwer, der nach 50 Jahren Ehe nicht fassen kann, dass er nun Sarg und Blumenschmuck für seine verstorbene Frau aussuchen soll. „Wir begegnen jeden Tag Menschen, für die nichts mehr so ist, wie es einmal war“, sagt Laura-Carina Reiche.

„Man begreift, dass das Leben ein Geschenk ist“

Andererseits seien es genau diese Momente, die sie so berühren. Wenn die Tochter berichtet, dass der verstorbene Vater schon als 15-Jähriger der Mutter gesagt habe: „Ich werde dich eines Tages heiraten.“ Oder wenn der Sohn bei der Trauerfeier sagt: „Wenn ich über Mama rede, denke ich als Erstes an Zigarettenrauch und Kinder-Lakritz.“ Oder die Nichte, die der verstorbenen Tante die Fingernägel lackiert und den Haaransatz färbt, damit sie auch im Tod noch das ist, was sie immer war: eine feine Dame.

Familiärer Zusammenhalt, das ist die eine Seite. Doch Laura-Carina Reiche sieht auch die Fratze der Großstadt: die Einsamkeit inmitten einer Millionenmetropole – den Toten, den über Wochen niemand vermisst. Ein paar Sekunden, sagt sie, braucht sie, wenn sie vor einem halb verwesten Leichnam steht: „Aber dann funktioniere ich einfach.“

Zur Berufsschule fährt sie fünfmal im Jahr für zwei oder drei Wochen nach Bad Kissingen in Unterfranken, dem Zentrum in Deutschland für angehende Bestatter. 20 Autominuten entfernt liegt in Münnerstadt der einzige Lehrfriedhof der Welt, wo Laura-Carina Reiche etwa lernt, mit einem Mini-Bagger ein Grab auszuheben. Neben der Praxis wie dem Versorgen von Verstorbenen geht es auch um Psychologie. Sie weiß jetzt, dass man kleinen Kindern nicht erzählen sollte, dass der verstorbene Opa ja nur schläft: „Es gibt Kinder, die fürchten sich dann davor, ins Bett zu gehen, weil sie denken, sie wachen nicht mehr auf.“

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731,29 Euro zahlt ihr das GBI im dritten Ausbildungsjahr, zudem Fahrt und Unterbringung in Bad Kissingen. Nicht selbstverständlich in der umkämpften Branche, wo manche Konkurrenten mit Slogans wie „Beerdigungen zu Discountpreisen“ werben. „Es gibt Schüler in Bad Kissingen, die müssen sich sogar ihre Sicherheitsschuhe selbst kaufen“, sagt Reiche. Nach ihrer Ausbildung wird sie zunächst etwa 3000 Euro, später rund 3300 Euro brutto verdienen.

Nach Feierabend schaltet sie gern bei einer Tasse Tee und einem guten Buch ab. Die Faszination, die manche ihrer Mitschüler für das Thema Tod empfinden – mit Sargmöbeln und Totenkopf-Tassen –, konnte sie noch nie teilen. Der tägliche Umgang mit dem Sterben erde ungemein: „Man begreift, dass das Leben ein Geschenk ist.“

5. Der Trauerredner

An dem sonnigen Herbsttag senkt André Reinisch, dunkler Anzug, weißes Hemd, lila Krawatte, die Urne behutsam in die Grabstelle auf dem Schiffbeker Friedhof. Ein Blumensträußchen liegt vor dem Bilderrahmen mit einem Foto, das die Verstorbene lachend zeigt.

Es ist der letzte Akt der Trauerfeier an diesem 1. Oktober in Billstedt. Schon eine Stunde vor der Zeremonie hat Reinisch mit einem Kollegen Blumen und Kränze in der Kapelle drapiert. In der Feier beschreibt der Redner den Lebensweg der 63-Jährigen. Die Kindheit in Ro­thenburgsort, die Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin, ihr Glück nach der Geburt der Tochter, ihre Lebensfreude trotz ihrer schweren Krankheit: „Ihre Mutter war eine starke Persönlichkeit“, sagt Reinisch. Er schaut die Angehörigen. Und sagt dann: „Die Trauer ist ein tiefes Tal. Da müssen Sie durch. Es gibt keine Abkürzungen.“

Trauerredner: André Reinisch (hier in der Kapelle auf dem Schiffbeker Friedhof) sprach auch 2015 vor 700 Gästen bei der Trauerfeier für Box-Trainer Fritz Sdunek, der die Klitschko-Brüder zu Weltmeistern formte.
Trauerredner: André Reinisch (hier in der Kapelle auf dem Schiffbeker Friedhof) sprach auch 2015 vor 700 Gästen bei der Trauerfeier für Box-Trainer Fritz Sdunek, der die Klitschko-Brüder zu Weltmeistern formte. © Andreas Laible / FUNKE Foto Services | Andreas Laible

Für Reinisch ist diese Feier in gewisser Weise ein Heimspiel. Vor 30 Jahren sprach er auf dem Schiffbeker Friedhof das erste Mal bei einer Bestattung. Der Bewohner eines Heims, in dem er seinen Zivildienst absolvierte, war gestorben, Reinisch hatte zu ihm einen besonders guten Draht: „Ich wusste, dass seine Kinder nicht kommen würden. Durch seinen Alkoholismus war die Familie zerrüttet. Aber ich wollte nicht, dass er praktisch wortlos beerdigt wird. Also habe ich eine kurze Ansprache gehalten.“ Eine alte Freundin des Verstorbenen lobte ihn nach der Bestattung: „Junger Mann, Sie haben gut gesprochen.“

Daran erinnerte sich Reinisch, als er nach seinem Philosophie-Examen überlegte, welchen beruflichen Weg er einschlagen solle. Er verwarf den Gedanken an eine Promotion und arbeitete fortan als freier Trauerredner, inzwischen ist er fest angestellt beim GBI.

In den meisten Fällen fährt Reinisch vor der Trauerfeier zu den Hinterbliebenen, um über den Verstorbenen zu reden. Manchmal weint er mit den Angehörigen. „Aber die Trauer zieht mich nicht runter“, sagt er. Wirklich trauern könne man nur um einen Menschen, den man gut kenne, nicht um einen Fremden. Ohnehin sei Trauer für ihn kein negativer Begriff: „Trauer ist mich Liebe und Bindung.“ Im Verlust, sagt Reinisch, „offenbart sich die Bedeutung eines Menschen.“

Seine Reden schreibt Reinisch bei gutem Wetter mitunter auf Friedhofsbänken

Und genau diesen Menschen will er gerecht werden. Er will mit seiner Rede keine Abziehbilder eines Verstorbenen skizzieren, sondern gute, ehrliche Por­träts zeichnen. Jede Familie bittet er daher, ihm die Wahrheit über den Verstorbenen zu sagen, auch über dessen negative Seiten wie Drogensucht oder familiäre Gewalt. „Ich verspreche den Angehörigen, dass ich das nicht aussprechen werde, wenn sie das nicht möchten. Aber es ist wichtig, dass ich um diese Dinge weiß, wenn ich die Rede schreibe.“

Wenn die Familie es zulässt, arbeitet Reinisch diese negativen Seiten aber auch in seinen Reden heraus. „Er hat anderen schweres Leid zugefügt, weil er selbst Gewalt erfahren hat“, sagte er einmal über einen Verstorbenen, der immer wieder seine Frau geschlagen hatte. Nach der Bestattung sagte ihm ein Angehöriger: „Ich danke Ihnen für die offenen Worte. Ich wollte erst nicht kommen, weil ich dachte, dass hier nur Schwulst erzählt wird.“

Seine Reden schreibt Reinisch bei gutem Wetter mitunter auf Friedhofsbänken. Er will jeden Verstorbenen so gut wie möglich würdigen – auch wenn er wie an diesem Tag die Vorbereitung auf ein längeres Telefonat und das Studium eines von der Familie verfassten Lebenslaufs beschränken muss. Denn diese Bestattung hat die Stadt finanziert, die immer dann einspringt, wenn die Angehörigen die Kosten nicht oder nur teilweise aufbringen können. Das passiert jedes Jahr bei 1400 Hamburger Beerdigungen, das Sozialamt zahlt im Schnitt 2600 Euro. Für keinen Bestatter ist dies ein Geschäft, zumeist sind die Leistungen der Stadt gerade kostendeckend.

Wie hält man das aus, sich so viele Jahre intensiv mit dem Thema Tod zu beschäftigen? „Am Anfang habe ich gedacht, man stumpft irgendwann ab. Aber bei mir ist das Gegenteil der Fall. Ich bin empfindsamer als früher“, sagt Reinisch. Die Familie – seine Frau, zwei inzwischen erwachsene Kinder – sei sein Anker. „Ich brauche diese Stabilität. Als Single wär es für mich viel schwerer.“

Reinisch fällt das Reden leichter, wenn er weiß, dass sich beim Verstorbenen ein Lebenskreis geschlossen hat. „Kinder zu bestatten ist schlimm, ganz schlimm“, sagt er: „Wenn ich das zu oft machen müsste, könnte ich diesen Beruf nicht mehr ausüben.“

Und wer soll eines hoffentlich fernen Tages die Trauerrede über ihn halten? „Das ist mir nicht wirklich wichtig“, sagt er. Auf keinen Fall werde er einen guten Freund kurz vor der Schwelle des Todes bitten, dies zu übernehmen. „Dies möchte ich niemanden zumuten.“ Er lehne solche Ansinnen immer ab: „Über Fremde zu reden bietet Schutz.“

Zyniker, sagt Reinisch am Ende, könnten in diesem Beruf nicht arbeiten. „Mir ist in meinem Beruf noch klarer geworden, dass wir sterblich sind. Wie dankbar wir sein dürfen, dass man überhaupt lebt.“