Hamburg. Zeise-Chef Matthias Elwardt über die magische Kraft der Lichtspielhäuser, den digitalen Überdruss – und warum James Bond allen nützt.

Die Corona-Krise ändert alles – unsere Kultur, un­sere Gesellschaft, unser Leben. Matthias Elwardt ist das, was man einen Cineasten nennt: Schon als 16-Jähriger arbeitete er an seiner Schule in einer Film AG mit, während seines Studiums jobbte er im Abaton Kino. 29 Jahre führte er das Programmkino am Grindelhof, bevor er Anfang 2019 als Geschäftsführer zu den Zeisekinos wechselte. Er lacht auch hinter seiner Maske, auf der die aufgedruckten Mundwinkel fröhlich in die Höhe gezogen sind.

Herr Elwardt, ich wundere mich, wie gut gelaunt Sie sind – mitten im zweiten Lockdown.

Matthias Elwardt: Es nützt nichts, in Depression zu verfallen, ich kann es ja nicht ändern. Ich kann nur hoffen, dass die versprochenen Finanzhilfen bald fließen. Unser Job ist es nun, gute Ideen zu entwickeln. Während wir hier sprechen, hält die Hochschule HAW Vorlesungen für Erst- und Zweitsemestervorlesungen im Großen Saal ab. Unsere Lüftung ist so stark, dass die Gefahr, sich zu infizieren, deutlich niedriger ist als in normalen Räumen. Es gibt weltweit nicht einen Fall, wo sich jemand nachweislich im Kino angesteckt hat. Niemand spricht im Kino, niemand singt, wir halten Abstand. Das Kino ist ein sicherer Ort

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Was macht denn ein Lichtspielhaus im Lockdown?

Auch im Lockdown haben wir Kopienabnahme, wir hatten eine Eigentümerversammlung, eine Schulvorführung. Wir bieten an, was coronakonform ist. Auch die Grünen hatten für eine Veranstaltung angefragt. Und der Regisseur Fatih Akin nutzt das Zeise, um für seinen neuen Filmstoff Material zu sichten. Ein bisschen passiert also auch jetzt.

Es ist der zweite Lockdown – Sie hatten ja etwas Zeit zu üben.

Wir haben im ersten Lockdown einiges ausprobiert. Ein Beispiel: Wir besitzen Projektoren, die kosten 70.000 Euro, 35.000 Euro die Licht- und 35.000 Euro die Sicherheitstechnik. Jeder Projektor hat eine eigene ID-Nummer, jeder Film, den wir zeigen wollen, auch. Damit diese ID nicht verschwindet, müssen wir im Lockdown die Projektoren acht Stunden pro Woche anwerfen. Also haben wir schon im Frühjahr unsere Mitarbeiter coronakonform zu Filmabenden mit der WG eingeladen. Daraus entstand die Idee des Wunschkinos, um die Zeit bis zum Wiederanfahren des Filmgeschäfts zu überbrücken. Wir durften ja schon Anfang Juni wieder öffnen, aber für den regulären Start brauchten wir einen Vorlauf bis Ende Juni. Diese Privatvorführungen im Juni haben wir zu 100 Euro für zehn Personen angeboten – wir sind überrannt worden! Deshalb verlängern wir das Wunschkino bis Ende Juni 2021, 150 Euro für 15 Personen.

Welche Ideen haben denn nicht funktioniert?

Finanziell war das Autokino, an dem wir uns im Sommer künstlerisch beteiligt haben, leider kein Erfolg. Dieses Angebot wird es 2021 sicherlich nicht mehr geben. Ein bestehendes Autokino mag sich rechnen, aber es ist viel zu teuer, die In­frastruktur neu und nur für Corona aufzubauen. Unser Open-Air-Kino war in diesem Sommer unter den gültigen Abstandsregeln nicht möglich – im Altonaer Rathaus hätten gerade 90 Menschen im Innenhof sitzen dürfen.

Ist das Kino in Corona-Zeiten digitaler geworden?

Nein. Digitale Modelle klappen überhaupt nicht – die Menschen schauen sich über unsere Website keine Filme an. Das Kino ist die Lokomotive, Kino macht die Filme bekannt. Der gemeinsame Besuch, das Gespräch darüber sind wichtig. Filme, die zuletzt dieses Gespräch nicht erzeugen konnten, sind untergegangen. Derzeit fehlen uns die Festivals, die kleine Filme groß machen. Im vergangenen Jahr gewann „Parasite“, der Film eines bis dahin ziemlich unbekannten südkoreanischen Regisseurs, erst die Goldene Palme in Cannes und später vier Oscars. Parasite war dann unser erfolgreichster Film. Dieses Jahr fiel Cannes aus, und ganz viele Filme wurden ins neue Jahr verschoben.

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Können Sie dann überhaupt aus dem Lockdown schnell herauskommen, wenn es an Filmen mangelt?

Uns macht Hoffnung, dass unsere letzten Vorführungen vor dem Lockdown ausverkauft waren. Wir haben mit zwei Erfolgsfilmen geschlossen: „Und morgen die ganze Welt“ von Julia von Heinz und „Schwesterlein“ mit Nina Hoss und Lars Eidinger. Mit diesen beiden Filmen können wir sofort wieder eröffnen, weil die Menschen sie sehen wollen. Da spielt uns in die Karten, dass es diese beiden deutschen Filme gerade jetzt gibt. Aus dem zweiten Lockdown kommen wir wohl besser wieder in Fahrt als nach dem ersten.

Was war im Frühjahr anders?

Damals waren die einheimischen Filme weniger zugkräftig. Kino ist die einzige Kulturform, die weltweit arbeitet. Anders als Theater, Oper oder Literatur können wir kaum national agieren – wir benötigen die neuen internationalen Filme. Ob aber neue Filme herausgebracht werden, entscheiden nicht wir. Die großen Filmverleiher brauchen zugleich New York, London oder Berlin. So lange das nicht der Fall ist, gibt es die großen Filme nicht. Und Klassiker laufen nicht mehr, weil es diese Filme längst online oder auf DVD gibt.

Wie lange kann Kino ohne Vorstellungen überleben?

Das hängt von der Unterstützung durch die Stadt und den Staat ab, Es gab vom Senat zwei sehr gute Kinohilfe-Pakete, die aber zeitlich mit Verzug ausgezahlt werden. Wir verlieren jeden Monat Geld, wir wissen nur noch nicht, wie viel es ist.

Die Miete, Versicherungen sowie ein Teil der Reinigungs- und Personalkosten laufen weiter...

Wir haben alle in Kurzarbeit geschickt, aber das Zeise ist ein teurer Standort. Mit Mieten und Verträgen zahlen wir monatlich 30.000 Euro – bislang ist die Miete nicht gesenkt worden. Deshalb ist es so wichtig, dass die Kulturbehörde die Verluste abfedert. So können wir mit einem blauen Auge davonkommen.

Die Abstandsregel von 1,5 Metern erschwert das Kinogeschäft ...

Absolut: Eineinhalb Meter Abstand bedeuten, dass wir die Säle nur noch zu 20 oder 25 Prozent auslasten können. Statt 370 Leute in den großen Saal hineinzulassen, dürfen derzeit nur knapp 100 Leute kommen. Sind viele Familien darunter, können mehr hinein, als wenn wir viele Einzelgäste haben. Im Juli feierten wir eine Weltpremiere, die eigentlich in Cannes gezeigt werden sollte. Natürlich war die Aufführung des Dokumentarfilms „Wim Wenders, Desperado“ von Campino und Eric Friedler ausverkauft. Bei der Begrüßung gab es große Lacher: Es war eine ausverkaufte Weltpremiere vor 80 Zuschauern.

Die Branche fordert einen Meter Abstand. Macht das einen so großen Unterschied?

Ja, ein Meter würde uns eine Auslastung von 50 Prozent ermöglichen, dann bliebe nur ein Sitz links und rechts frei. Die meisten europäischen Länder halten es übrigens so. Das wäre für die Branche ein großer Schritt nach vorne. Wir sollten es aber angesichts der dynamischen Lage auch nicht übertreiben – wahrscheinlich sind derzeit ohnehin nicht viel mehr Besucher zu erwarten.

Man muss nicht wie Sie BWL studiert haben, um zu ahnen: Das rechnet sich auf Dauer nicht mehr ...

Klar, Kinomachen ist zurzeit defizitär. Noch können wir es uns wegen der Unterstützungsprogramme leisten. Dürften wir die Hälfte der Plätze füllen, kämen wir der Gewinnzone zumindest wieder näher. Denn wir wollen ja aus eigener Kraft leben und nicht von staatlichen Zuwendungen. Deshalb haben wir auch die Zahl der Vorstellungen erhöht, um die Besucherströme zu entzerren.

Werden die Kinokarten bald teurer?

Eigentlich müssten wir die Preise erhöhen, machen es aber nicht – wir wollen die Menschen behutsam wieder ins Kino einladen.

Kommen Programmkinos eigentlich besser durch die Krise als die Multiplex-Kinos?

Vermutlich. Die Blockbuster wurden fast alle verschoben, das trifft uns nicht ganz so hart. Mit der Kinohilfe 3 sollen nun auch die Großkinos unterstützt werden.

Das britische Unternehmen Cineworld mit 10.000 Leinwänden hat 600 Kinos in den USA und England geschlossen, die weltgrößte Kinokette AMC, die Mutter der UCI-Kinos, sieht ihr Bestehen akut gefährdet ...

Wir brauchen einander – Kino ist ein Biotop, in dem alle zusammengehören. Wir spielen 90 Prozent Arthouse-Filme, aber zeigen auch Cross-over-Filme wie James Bond. Wir benötigen die großen Streifen, weil sie mit einem Riesenbu­dget und Weltstars den Leuten zeigen, was Kino zu leisten vermag. Ohne Multiplexe verlieren auch die Programmkinos. Denn Kino richtet sich an alle Schichten, nicht nur an Cineasten.

Gewöhnen sich die Menschen in der Krise an das kuschelige Heimkino?

Das konnten die Leute ja immer schon. Auch Serien sind ja nichts Neues! Schon weit vor den Streamingdiensten gab es mit „Holocaust“, „Roots“ oder „Heimat“ herausragende Serien. Die Menschen wollen zusammenkommen. Wir sind soziale Wesen, wir wollen etwas gemeinsam erleben, wollen darüber sprechen. Wir wollen über Filme diskutieren, in den Zeitungen oder hier mit Gästen. Die Zuschauer möchten mit dem Regisseur, mit den Schauspielern reden, das kann keiner online ersetzen. Nein, ich glaube ans Kino.

In einem kleinen Clip hat Zeise-Fan Fatih Akin Kino als einen „spirituellen Ort“ bezeichnet, den es zu schützen gilt ...

Ja, das trifft es. Kino ist ein Ort des Nachdenkens, der Reflexion. Wir zeigen wie auf der Bühne große Dramen, ganz große Kunst und schicken die Menschen mit einer Idee nach Hause. Dafür muss man sich aus den eigenen vier Wänden bewegen. Das kann weder eine Serie noch eine Streamingplattform.

Erwarten Sie einen digitalen Überdruss?

Absolut. Im Kino ist man viel konzen­trierter als zu Hause, wo das Telefon klingelt oder die Wäsche wartet. Der Ort Kino hat eine besondere Kraft. Auch die Regisseure schauen ganz anders aufs Bild – die Drehbedingungen, das Grundkonzept des Kinofilms, sind andere als bei einer Serie. Auch der Dokumentarfilm wirkt im Kino stärker als daheim. Kino ist ein politisch-gesellschaftlicher Ort, um gemeinsam ins Gespräch zu kommen.

Sie brauchen also nicht nur Hollywood, sondern Hollywood braucht das Kino?

Ja, das bedingt sich gegenseitig. Der Film braucht die Leinwand und die Leinwand braucht den Film. Noch mal zu den Streaming-Plattformen: Ob die am Ende wirklich wirtschaftlich erfolgreich sind, ist noch nicht erwiesen – Netflix hat hohe Schulden. Die etablierte Wertschöpfungskette der großen Filme hingegen ist erprobt und funktioniert: Sie kommen zuerst ins Kino, dann auf DVD oder Streamingdienste, dann ins Fernsehen. James Bond mit all seinen Erlösen wäre für Netflix allein niemals zu refinanzieren. Die großen Filme brauchen das Kino mit seiner Strahlkraft.

Trotzdem: Im ersten Halbjahr 2017 kamen noch 55,4 Millionen Besucher, 2019 nur noch 49 Millionen und 2020 dann gar 24,1 Millionen Besucher. Sind die alten Werte jemals wieder erreichbar?

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Die Menschen wollen ins Kino, wollen dort interessante Präsentationen und gute Filme. Derzeit wird wenig gedreht wegen der besonderen Corona-Bedingungen. Das muss sich erst einmal wieder einspielen. Irgendwann wird Corona Geschichte sein, und die Menschen werden wieder das Erlebnis Kino genießen. Ich hoffe, dass das am Ende 2021 wieder sein wird, da setze ich auch Hoffnungen in Nomadland, der den Goldenen Löwen in Venedig gewonnen hat und ein heißer Oscar-Anwärter ist. Spätestens 2022 sollte die internationale Filmproduktion wieder funktionieren.

Was können Cineasten für ihr Kino tun?

Das ist eine gute Frage: Jeder kann Gutscheine kaufen, wir bieten derzeit auch Filmplakate an. Und bitte schnell wiederkommen, wenn es möglich ist. Unser Wunschkino ist sicher auch ein schönes Weihnachtsgeschenk.

Und stets ein Bier dazu bestellen, wegen der Marge?

Wir machen nun mit der Brauerei Wildwuchs ein Zeise-Kinobier. Am zweiten und dritten Adventssonnabend machen wir gemeinsam mit den Hamburger Programmkinos ein Gutschein- und Popcornverkauf.

Wenn es im Dezember wieder losgehen darf, wäre Ihr Kino überhaupt dazu in der Lage?

Das wird schon schwierig, denn die Entscheidung fiele ja nicht vor dem 25. November, also mitten in einer Kinowoche. Ein Programmheft für Dezember schaffen wir dann nicht mehr. Aber öffnen werden wir, weil alle mitziehen. Auch die Schauspieler und Regisseure warten nur darauf.