Hamburg. Warum Bürgermeister Tschentscher in der Corona-Pandemie eher auf schnelles, situatives Eingreifen als einen langfristigen Plan setzt.

Wenn man in Hamburgs Politik und Behörden nach der Stimmungslage in Sachen Corona fragt, hört man derzeit einen Satz häufiger: „Wir schauen jeden Tag wie das Kaninchen auf die Schlange.“

Die undankbare Rolle der Schlange haben in diesem Bild wahlweise die Labore, die die Corona-Tests durchführen, oder die Gesundheitsämter in den Bezirken, denen die Ergebnisse übermittelt werden oder aber die Sozialbehörde, die die Daten am Ende sammelt und jeden Tag um 12 Uhr veröffentlicht. So oder so: Gemeint ist in jedem Fall damit, dass diese Zahl die Stimmungslage entscheidend prägt.

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Zwei Wochen lang sorgte sie fast nur für Frust. Trotz des seit dem 2. November geltenden Lockdowns, trotz der schon eine Woche zuvor in Hamburg verordneten strikten Kontaktbeschränkungen und trotz der bereits seit Mitte Oktober geltenden abendlichen Sperrstunde stiegen die Zahlen unaufhörlich weiter. Nach dem Höchstwert von 660 Neu-Infektionen am 12. November räumte auch Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) im Abendblatt-Interview etwas resigniert ein, dass wir „noch nicht da sind, wo wir sein wollen“.

Mittlerweile hat sich die Stimmung etwas aufgehellt

Mittlerweile hat sich die Stimmung etwas aufgehellt. Die Schlange spuckt seit einigen Tagen keine steigenden Zahlen mehr aus, sondern im Vergleich zur Vorwoche überwiegend stagnierende und an manchen erfreut sie das Kaninchen sogar mit sinkenden Werten.

Es war die Hoffnung auf diese Entwicklung, die die Länderregierungschefs am Montag angetrieben hatte, als sie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) davon abbrachten, noch schärfere Beschränkungen zu beschließen, sondern stattdessen erst mal die Wirkung des November-Lockdowns abzuwarten. Auch Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) gehörte zu dieser Riege, zumal er wie viele Kollegen verärgert war über die nicht abgestimmte Liste des Grauens aus dem Kanzleramt.

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Doch die Frage, was nach dem November kommen soll und mit welcher Strategie das Land über den langen Corona-Winter kommen soll, wurde nur vertagt. Kommenden Mittwoch werden Merkel und die Länder-Ministerpräsidenten erneut darüber beraten.

Wie kommt das Land über den langen Corona-Winter?

Wie weit die Ansätze dabei auseinanderliegen, ließ sich dieser Tage exemplarisch in Schleswig-Holstein beobachten. Mitte der Woche benannte die Leiterin des Gesundheitsamts Neumünster bei einer Anhörung im Landtag eine radikale Lösung: „Wenn wir für einen Monat eine komplette Ausgangssperre verhängen würden, würde sich die Pandemie totlaufen.“ Für den Dezember würde das bedeuten: Auch an Weihnachten bleiben alle zu Hause, keine Familienbesuche, kein Tannenbaumschlagen und erst recht keine Silvesterfeiern. In der Politik hat dieser Ansatz in seiner Radikalität zwar keine Unterstützung, aber es ist bekannt, dass auch die Bundeskanzlerin und viele ihrer Berater den Menschen noch deutlich mehr abverlangen wollen, etwa die Festlegung auf maximal einen weiteren Kontakt außerhalb der Familie.

Am Freitag verkündete dagegen Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) via „Bild“, dass er das Einhalten der Corona-Regeln Weihnachten nicht kontrollieren lasse: „Das schließe ich aus! Wir schicken Heiligabend keine Polizei zu den Menschen.“ Seine Vorstellung: „Die Leute werden es so machen können, wie sie es aus den vergangenen Jahren gewohnt sind.“ Dahinter steckt die von vielen Länderchefs vertretene Auffassung, dass man den Corona-müden Menschen nicht unnötig viel zumuten dürfe, schon gar nicht zu Weihnachten. Auch Tschentscher neigt eher zu dieser Haltung. Allerdings ist gerade ihm als Arzt auch bewusst, was das bedeuten könnte. Ließe man die Menschen wie gewohnt Weihnachten und Silvester feiern, wäre die dritte Welle, vor der der Chef der Intensivmedizin am UKE, Professor Stefan Kluge, jüngst im Abendblatt gewarnt hatte, wohl schon im Januar unvermeidlich.

Doch wenn das eine wie das andere nicht infrage kommt – was dann?

Wie Tschentscher darüber denkt, hat er, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, am Mittwoch vor dem Bundesrat dargelegt: Deutschland habe die erste Welle der Pandemie erfolgreich eingedämmt und jetzt auch die zweite Welle gebrochen, so der Bürgermeister. Angesichts der Fortschritte der Impfstoffentwickler sei er „sehr zuversichtlich, dass unsere Strategie insgesamt aufgeht“. Manch einer mag sich da gefragt haben: Welche Strategie? Anfangs ein harter Lockdown, dann über Monate ein Hin und Her aus Lockerungen und neuen Regeln, dann die zweite Welle unterschätzt, und nun ein etwas softerer Lockdown – wo ist da die Strategie?

Doch so absurd es klingen mag: Das ist Tschentschers Strategie. Sie lautet: Fahren auf Sicht. „Es kommt darauf an, im richtigen Moment schnell zu handeln“, sagte er im Bundesrat und verwies darauf, dass das Coronavirus bereits „zu vielen unerwarteten Erkenntnissen“ geführt habe. Auf die, so seine Haltung, müsse man flexibel reagieren, statt stur an einem langfristigen Plan festzuhalten – Stichwort Schweden.

Corona in Deutschland und weltweit – die interaktive Karte

Die Lage in Hamburg stützt in positiver wie in negativer Hinsicht diese These: Im Frühjahr hatte der Senat trotz der Sonderrisiken durch die Hamburger Skiferien noch etwas zögerlicher agiert als andere Länder, weswegen die Hansestadt zum Corona-Hotspot der Nation (neben Bayern) wurde. Bei den Lockerungen über den Sommer war man dagegen etwas zurückhaltender, und auf die zweite Welle im Herbst wurde sogar einen Tick schneller reagiert als anderswo. Auch daher steht Hamburg derzeit deutlich besser da als vergleichbare Großstädte wie Berlin oder München.

Tschentscher wird für einen gemäßigten Kurs plädiere

Tschentscher wird daher auch in der Runde mit der Kanzlerin für einen gemäßigten Kurs plädieren. Lockerungen der bestehenden Maßnahmen lehnt er aufgrund der nach wie vor hohen Infektionszahlen ebenso ab wie drastische Verschärfungen – etwa flächendeckende Schulschließungen. Andererseits: Sollten die Zahlen nicht deutlich runtergehen, würde er sich mit Blick auf Weihnachten weiteren Beschränkungen wohl nicht gänzlich verschließen. Allerdings wies er bereits im Bundesrat darauf hin, dass laut Gesetz die Schutzmaßnahmen am regionalen Infektionsgeschehen auszurichten seien: „Das heißt, es ist immer flexibel vor Ort zu handeln.“

Auch Daniel Günther hat angekündigt, dass er für Schleswig-Holstein passgenau handeln wolle: Bundesweit einheitliche Regeln, was ab welchem Inzidenzwert zu geschehen habe, seien ja sinnvoll, sagte er in „Bild“. Aber das bedeute nicht, dass alle Maßnahmen überall gleichzeitig gelten müssten: „Warum muss im Landkreis Plön mit einer Inzidenz von 16,3 gelten, was auch in Bayern mit einer Inzidenz von über 160 gilt?“

Die Wahrscheinlichkeit, dass den Bürgern am Mittwoch auf Monate hinaus gesagt wird, was sie überall im Land zu erwarten haben, ist also gering. Wie sagte Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) dieser Tage im Abendblatt: „Wir müssen auch ehrlich sein: Langfristige Planungen sind derzeit fast unmöglich.“ Anders ausgedrückt: Bis die Impfungen flächendeckend angelaufen sind, werden wir wohl noch jeden Tag wie das Kaninchen auf die Schlange gucken.

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