Kiel. Sechs Stunden lang befragt Schleswig-Holsteins Landtag Experten zur richtigen Strategie gegen die Corona-Pandemie. Juristen fordern von den Abgeordneten mehr Verantwortung des Parlaments ein. Eine Medizinerin spricht sich für striktere Beschränkungen aus.
Sollten Schulen weiter offen bleiben, welche Wirtschaftshilfen sind sinnvoll, welche rechtlichen Probleme gibt es in der Corona-Pandemie? Über den richtigen Umgang mit der Krise hat Schleswig-Holsteins Landtag am Mittwoch mit zehn Experten beraten. Juristen forderten dabei eine stärkere Einbindung der Parlamente in den Umgang mit der Corona-Pandemie, Wissenschaftler sprachen sich für die Öffnung von Schulen aus.
Der Rechtsexperte Florian Becker warnte die Abgeordneten vor einer "Entparlamentarisierung". "Alles das, was die Regierung als Verordnung erlassen hat, hätten sie auch als Gesetz erlassen können", sagte der Professor für öffentliches Recht der Kieler Universität an die Abgeordneten gerichtet. In Einzelfällen sei eine schnelle Umsetzung möglich, "wenn alle an einem Strang ziehen". Notwendig seien individuelle Regelungen. Denn: "Berlin ist nicht mit Nordfriesland vergleichbar."
Einige Experten wie der Professor für Rechtsphilosophie der Uni Frankfurt am Main, Uwe Volkmann, waren per Video zugeschaltet. Er kritisierte die bisherige Praxis der Bund-Länder-Treffen. Dass notwendige Beschränkungen in Verabredungen zwischen Kanzleramt und Ministerpräsidenten abgesprochen werden, dürfe "kein Dauerzustand sein". Der Rechtsexperte Stephan Rixen von der Universität Bayreuth verwies darauf, dass Rechtsschutz gegen Rechtsverordnungen schneller möglich sei als gegen Gesetze. Denkbar sei eine Kooperation bei Corona-Entscheidungen in Form eines Pandemieausschusses. Dort könnten Abgeordnete regelmäßig mit der Landesregierung die Verordnungen diskutieren.
Immer wieder fragten Abgeordnete auch nach den Schulen. Mehrere Wissenschaftler sprachen sich klar gegen neuerliche Schulschließungen aus. Dies hätte Folgen für die Wirtschaft, wenn Betriebe ihre Mitarbeiter deshalb vermehrt ins Homeoffice schickten, sagte der Krisenforscher Frank Roselieb. "Das käme einem Lockdown gleich."
Die Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Kieler Uniklinikum, Kamila Jauch-Chara, sprach sich dafür aus, Schulen so lange wie möglich offen zu halten. Sie trügen bei Kindern im Alter bis 13 Jahren zur Ausbildung der Persönlichkeit bei. Eltern riet sie, ihren Kindern bei Gesprächen über die Corona-Pandemie die Wahrheit zu sagen.
Nach Ansicht des Kinder- und Jugendarztes Ralf van Heek sind Kinder und Jugendliche wenig gefährdet durch Corona. "Andere Infektionen oder Nicht-Impfungen sind wesentlich gefährlicher für unsere Kinder." Das Virus gelange eher über Erwachsene in die Familien. Das Infektionsrisiko in und aus den Einrichtungen sei eher niedrig. Als "absolut undenkbar und lebensfremd" bezeichnete er Überlegungen, Kindern vorzuschreiben, nur noch einen ihrer Freunde zu treffen.
Die leitende Amtsärztin des Gesundheitsamts Neumünster, Alexandra Barth, lobte die Hygienekonzepte an Schulen. Im Idealfall trügen Schüler immer eine Maske, es werde der Abstand eingehalten und regelmäßig gelüftet. Kinder seien "nicht die Superspreader".
Barth forderte aber striktere Regeln. "Wenn die Einschränkungen lasch bleiben, werden wir auch in Schleswig-Holstein bald nicht mehr handlungsfähig sein." Familienfeiern und religiöse Feste seien Hotspots der Übertragung. In den Betrieben gebe es mittlerweile weniger Infektionen. "Die meisten Übertragungen sind im privaten Bereich."
Barth warnte davor, sich angesichts der im Vergleich zu anderen Bundesländern niedrigeren Infektionszahlen im Norden in Sicherheit zu wiegen. "Wenn wir in Deutschland einen Monat eine komplette Ausgangssperre haben, dann läuft sich die Epidemie tot." Dann könnten die Gesundheitsämter die Nachverfolgung noch auftretender Fälle gut bewältigen.
Auch der Direktor des Instituts für Klinische Molekularbiologie der Kieler Uni, Philip Rosenstiel, sprach davon, dass der Norden in der Pandemie bislang wahrscheinlich Glück gehabt habe. Aber dennoch füllten sich auch hier die Kliniken. "Auch in Schleswig-Holstein wird auf den Intensivstationen gestorben."
Thema war auch die ökonomische Dimension der Krise. Der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Gabriel Felbermayr, forderte Nachbesserungen bei den Wirtschaftshilfen. "Die Novemberhilfen sind nun wirklich handwerklich problematisch." Der Umsatz sei kein gutes Maß für die Betroffenheit von Unternehmen. Die einzelnen Branchen hätten unterschiedlich hohe Kostenanteile. Dies könne zudem "perverse Anreizeffekte" haben, indem Betriebe Entlassungen vornehmen könnten. Der Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts, Henning Völpel, forderte, die öffentliche Investitionsfähigkeit müsse erhalten bleiben. Die Krise habe Versäumnisse und Verwundbarkeiten offen gelegt.
Landtagspräsident Klaus Schlie (CDU) betonte die symbolische Bedeutung des Ortes der Anhörung im Plenarsaal. Das Parlament sei in Krisenzeiten ganz besonders auf Experten angewiesen. Auf Ausschussebene will sich das Parlament weiter damit befassen.