Hamburg. Die Nazis zwangen die Familie des Juden Kurt Teil zur Emigration. Nun hat der 97-Jährige seine alte Heimat Eppendorf besucht

Wären Zeitreisen möglich, die Haynstraße hätte vor rund 90 Jahren kaum anders ausgesehen: Die Autos muss man sich wegdenken, und die heute mächtigen Bäume waren damals klein von Wuchs. Doch die Häuser in dieser Eppendorfer Prachtstraße haben sich kaum verändert – fast unberührt von den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges und der Operation Gomorrha haben sie das „1000-jährige Reich“ überdauert. „Das war mein Schulweg“, erzählt der 97-jährige Kurt Teil. Der Mann mit den munter blitzenden Augen bleibt stehen, sein Gehstock zeigt in den Loehrsweg. „Dort hinter lag früher schon der Spielplatz“, erzählt er. „Und ein Bus fuhr damals durch die Haynstraße. Ich weiß nur nicht mehr, welche Linie das war.“

Ansonsten jedoch kann sich der 97-Jährige mit Elbsegler und hanseatischem Goldknopf-Blazer an alles genau erinnern. Seine Kindheit begann im dritten Stock eines dieser Gründerzeithäuser, die er heute noch einmal aufsuchen darf. Die aktuellen Eigentümer laden ihn spontan ein heraufzukommen. Teil zeigt stolz das Zimmer, in dem er am 31. August 1923 zur Welt kam. Versonnen spielt er mit dem Schloss der Schiebetür zum Wohnzimmer, verschmitzt erzählt er, wie ihm ein Blumentopf vom hinteren Balkon aus der Hand fiel und nur knapp einen Nachbarn verfehlte – fast so, als sei es gestern passiert und nicht vor mehr als 90 Jahren.

Hier, an der Haynstraße, verbrachte der gebürtige Hamburger eine unbeschwerte Kindheit – bis seine heile helle Welt sich vom 30. Januar 1933 an, Hitlers „Machtergreifung“, nach und nach zu verdunkeln begann. Denn Teitelbaums waren wie so viele Eppendorfer jüdische Deutsche. Ihr Glauben machte sie über Nacht zu Menschen zweiter Klasse. Erst wurden sie ausgegrenzt, entrechtet, verjagt – dann verfolgt, ermordet, vergast. Es bedurfte nur weniger Jahre, das zivilisierte Deutschland in ein mordendes Reich der Finsternis zu verwandeln. Das Volk der Dichter und Denker mutierte zu einem Volk der Richter und Henker.

Sein Leben böte genug Stoff für mehrere Netflix-Staffeln

Ein goldener Stein ist seit Kurzem in den Bürgersteig der Haynstraße eingelassen: „Hier wohnte Kurt Henry Teitelbaum Jg. 1923, Kindertransport 1939 Schottland“, steht darauf zu lesen. Es gibt kaum ein Haus in Eppendorf, vor dem nicht die Stolpersteine des Kölner Künstlers Gunter Demnig die Geschichte wachrufen. Europaweit sollen es 75.000 Steine sein: Es ist das wohl größte und dezentralste Mahnmal der Welt. Steine können reden, aber Menschen können erzählen. Dies ist die Geschichte von Kurt Teil, geborener Teitelbaum. Seine Lebensgeschichte mit den Irrungen und Wirrungen böte Serienstoff für viele Netflix-Staffeln.

Vor seinem Geburtshaus in Eppendorf  liegt der Stein für Kurt Teitelbaum. In den USA benannte er sich in „Teil“ um, auch wegen des Antisemitismus dort.
Vor seinem Geburtshaus in Eppendorf liegt der Stein für Kurt Teitelbaum. In den USA benannte er sich in „Teil“ um, auch wegen des Antisemitismus dort. © Michael Rauhe

Da ist die Geschichte des etwa 14-jährigen Kurt, der eine Technikausstellung in Planten un Blomen besucht. „Am Eingang stand ein Schild: ,Juden unerwünscht!‘“, erinnert sich Teil. „Aber unerwünscht heißt ja nicht verboten. Die Schau hat mich einfach interessiert, also ging ich rein.“ Bei einer Vorführung der neuen Fernschreibertechnik bleibt Kurt fasziniert stehen – ein Fernsehapparat zeigt das Gegenüber in Berlin, mit dem man sich per Telex unterhalten kann.

Ein Freiwilliger wird gesucht, Kurt meldet sich. Irgendwann aber fällt die Frage, warum der Junge eigentlich nicht beim obligatorischen Heimatabend ist. „Ich bin Jude, die wollen mich nicht“, antwortet Kurt wahrheitsgemäß. „Danach wurde es plötzlich ganz ruhig, alle waren betreten von der Situation.“ Die rund 80 bis 100 Bürger hätten dann ein Spalier gebildet, um den Jungen nach draußen zu geleiten. „Es fiel kein böses Wort.“

Grotesker Pragmatismus

Da ist aber auch die Geschichte des Jungen, der das Unheil langsam zu spüren beginnt. Als Kind fällt ihm sein Judentum vor allem zu Weihnachten auf - anders als viele Kameraden gibt es im Hause Teitelbaum keinen Tannenbaum: Sein Vater Hermann, ein Warburg-Banker und Sohn eines streng gläubigen Juden, blockt alle Wünsche des kleinen Kurt und seiner Mutter ab. In der Grundschule, jeder zweite der 32 Schüler ist Jude, spürt er keine Diskriminierung, ganz im Gegenteil: Die Klassenlehrerin Florence Henning bevorzugte die privilegierten Eppendorfer Juden sogar und nicht Arbeiterkinder.

Doch nach der „Machtergreifung“ erscheint ein Lehrer in SA-Uniform und verbannt die jüdischen Kinder nach hinten in den Raum. Die weiterführende Lichtwark-Schule muss Kurt bald verlassen und auf die Talmud-Tora-Schule wechseln. Hier wird auch sonntags unterrichtet, was für die Schüler nicht ungefährlich ist: Kinder, die sonntags mit ihrem Ranzen durch die Straßen laufen, darf man in Hitler-Deutschland als Juden bald ungestraft mit Steinen bewerfen. Wochenlang fällt die Schule aus, als sein Lehrer nach der Reichspogromnacht 1938 ins KZ geworfen wurde.

Nach dem Krieg arbeitete Kurt Teil bei der War Crimes Commission – das Bild wurde in  Frankreich aufgenommen.
Nach dem Krieg arbeitete Kurt Teil bei der War Crimes Commission – das Bild wurde in  Frankreich aufgenommen. © Privat | Privat

Andererseits erlebt der Junge auch einen Pragmatismus, der heute grotesk wirkt: Weil jüdischen Jungen der Zutritt in die Hitlerjugend versagt bleibt, wird Kurt Mitglied der jüdischen Jugendbewegung „Schwarzes Fähnlein“. „Wir hatten nicht nur die gleichen Shorts und Koppeln, wir haben uns sogar den Raum mit der HJ geteilt.“ Erst 1939 verbieten die Nazis alle jüdischen Jugendbünde. „Ich habe mir eigentlich erst Sorgen gemacht, als immer mehr Kameraden das Land verließen.“ Viele Juden in Eppendorf sind wohlhabend und haben Verwandtschaft im Ausland, ihnen gelingt die Flucht, bevor der Judenhass in Raserei und Holocaust endet.

Als Bordschütze der Luftwaffe bombardiert er Nazi-Deutschland

An einem Sommertag im Jahr 1939 muss der damals fast 16-jährige Kurt mit seiner Schwester Deutschland, seine Heimat, verlassen. Sein Vater war schon zuvor nach England emigriert: Die Gestapo­ hatte die Wohnung auf den Kopf gestellt, um ihn eines Devisenvergehens zu überführen – ihm blieben nur noch 90 Tage, das Land zu verlassen. Seine Kinder kommen mit dem Kindertransport nach Glasgow. Kurt schwört: „Ich komme wieder, mich könnt ihr nicht vertreiben. Ich habe nichts getan, es ist ungerecht, dass ich weggehen muss.“ Über Schottland emigriert er in die USA und meldet sich 1943 freiwillig zum Militärdienst. Als Bordschütze der Luftwaffe bombardiert der Hamburger von Januar 1945 an Nazi-Deutschland. Auf einen Fallschirm verzichtet er – in Gefangenschaft will Kurt als heimatvertriebener Jude niemals geraten. Und noch eines ist ihm wichtig: „Hamburg will ich nicht bombardieren.“

Und da ist die Geschichte des Alsterdampfschiffs: Als kleiner Junge hilft Kurt gern am Alsteranleger, die Tampen zu fangen und die Schiffe festzumachen. Kurz nach dem Krieg, Teil ist in der Nähe der Hansestadt stationiert, besucht er seine alte Heimat: Am Jungfernstieg liegen die Dampfer, Teil geht mit seiner US-Uniform in das Büro und kommt mit den Männern ins Gespräch. „Wann fahren die Schiffe wieder?“, fragt er seine alten Landsleute. „Wenn ihr uns endlich Kohlen gebt. Aber warum interessiert Sie das überhaupt?“, bekommt er zur Antwort. Kurt erzählt seine Jugenderinnerung, und tatsächlich kann sich einer der Männer erinnern an den „kleinen Judenjungen“. Teil baut sich vor ihm auf und sagt nicht ohne Genugtuung: „Und dieser kleine Judenjunge schaut jetzt auf euch herab.“

Nach der Kapitulation jagt er deutsche Kriegsverbrecher

Als deutscher Muttersprachler hat die US-Army vielerlei Verwendung für Kurt Teitelbaum, der in den USA seinen Namen zu „Teil“ ändern ließ. Er wird Nazi-Jäger der War Crimes Commission, versucht Größen des Terrorregimes dingfest zu machen. Was er über die Ermittlungsarbeit wusste, hatte er sich zuvor in Krimis angelesen. „In Zusammenarbeit mit den Kollegen haben wir in gut zwei Jahren sicher 100 Fälle aufgeklärt“, sagt Teil. Meist versucht er, die Ehefrauen der gesuchten Täter zu überzeugen, dass es klüger ist, sich zu stellen. Er stellte klar, dass es nach einer möglichen Haftstrafe eine Zukunft für die Familie geben kann.

„Die Frauen haben ihre Männer selten verraten. Das wollte ich auch gar nicht, mir reichte ein Hinweis.“ 1947 trifft er sogar den SS-Standartenführer Jürgen Stroop von der Division Totenkopf, der den Aufstand im Warschauer Getto mit aller Brutalität niedergeschlagen hatte und stolz seinem Führer telegrafierte: „Das ehemalige jüdische Wohnviertel Warschau besteht nicht mehr.“ Er kommt mit dem Mörder ins Gespräch: „Wieso können Sie so gut Deutsch?“, wunderte sich Stroop. Teils Antwort: „Weil böse Menschen mich rausgeworfen haben.“ Dann stellt sich heraus, dass die beiden in Hamburg Nachbarn gewesen waren: Jeden Freitag lief Kurt auf dem Weg zur Synagoge an Stroops Haus vorbei. „Nehmen Sie doch den Strick von meinem Hals“, bittet Stroop nun Teil und wünscht, er solle seiner Frau einen wärmeren Wintermantel schicken. Dem Wunsch kommt er nicht nach.

Als Flieger bei der US Air Force auf der Framlingham Air Base.
Als Flieger bei der US Air Force auf der Framlingham Air Base. © Privat | Privat

Teil hat zahlreiche Verwandte im Holocaust verloren. Dennoch schimmert bei ihm immer auch Verständnis für seine Landsleute durch: Männer wie Stroop repräsentierten für ihn nicht das ganze deutsche Volk. „Es ist ja ein großer Streit, wie viel die Deutschen von den Kriegsverbrechen und dem Völkermord wussten“, sagt er. „Gerade nach dem Krieg haben mir sehr viele Bürger erzählt, dass sie nichts wussten oder die entsprechenden Gerüchte für Feindpropaganda hielten. Man muss wissen: Lügen gegenüber US-Soldaten konnten mit Gefängnis bestraft werden.“ Nach seiner beruflichen Tätigkeit als Diplomat, die ihn etwa nach Thailand und Taiwan, Italien und Vietnam führen, lässt er sich mit seiner Frau erst in Österreich, dann in Ettlingen nieder. „Wir hatten Heimweh“, sagt er. Auch seine beiden Kinder leben als US-Bürger inzwischen in der Bundesrepublik. Sein Sohn Peter erklärt die Liebe seines Vaters zu Hamburg so: „Die Menschen in Pittsburgh fand er immer etwas ungehobelt. Er kommt ja auch aus dem Beverly Hills Deutschlands.“

Der Senat lud ihn und seine Mitschüler zum Klassentreffen

Bis heute zieht es den 97-Jährigen, der in einem Altenheim in Baden-Württemberg lebt, immer mal wieder in seine Heimatstadt. Bei einem Besuch vor fünf Jahren entdeckte er an der Haynstraße ein Fahrrad der Marke Bismarck – genau dasselbe Modell fuhr Kurt bis zu seiner Emigration. Als Kind teilte er Schuhe für den Schuster vom Eppendorfer Baum aus. Und nun lehnte das alte Rad plötzlich verrostet an einem Gartenzaun.

Der kleine Kurt mit seiner Mutter und Schwester an der Alster.
Der kleine Kurt mit seiner Mutter und Schwester an der Alster. © Privat | Privat

Durch den Einsatz eines Klassenkameraden kam er in Kontakt zu den alten Mitschülern der Breitenfelder Schule: Dankward Sidow hatte in jahrelanger Arbeit die Adressen seiner jüdischen Klassenkameraden recherchiert, alte Telefonbücher durchsucht, Menschen angeschrieben. Den Brief an Kurt Teitelbaum warf ein pfiffiger Briefträger in den Achtzigerjahren bei Kurt Teil in Ettlingen ein. Der Hamburger Senat lud schließlich 1996 die Senioren, die seine Vorgänger sechs Jahrzehnte zuvor vertrieben hatten, zu einem Klassentreffen in ihre Heimatstadt ein.

Im Juni dieses Jahres nun wurde ein Herzenswunsch von Kurt Teil wahr. Im Gespräch mit dem „Spiegel“ hatte er 2018 gestanden, dass er sich einen Stolperstein wünsche. Der Kölner Künstler Demnig machte es möglich und verlegte ihn vor seinem Geburtshaus – neben zwei anderen Steinen, die zweier ermordeter Frauen gedenken. „Ich bin so froh, dass sich deutsche Kinder mit der Geschichte beschäftigen und sogar die Stolpersteine putzen“, sagt Teil. Seiner glänzt golden in der Herbstsonne.