Hamburg. Schon seit 17 Jahren entstehen in der Schneiderwerkstatt in St. Georg wunderschöne Kostüme – auch für das Tivoli.
Was für eine phänomenale Plauze, ein Bild von einem Affenbauch. Die in die Jahre gekommene Orang-Utan-Dame lässt es sich im Dschungel gut gehen. Im neuen Familienmusical „Der achtsame Tiger“, dessen Premiere für den 14. November angesetzt ist, soll die wohlgenährte Primatenlady über die Bühne des Schmidts Tivoli hüpfen. Dass dieses kunstvoll geschneiderte Kostüm, ein Unikat mit Garantie für erstaunte Blicke, mit einem Dress von der Stange überhaupt nicht vergleichbar ist, wird auf den ersten Blick klar. Profis erwecken diesen Orang-Utan zum Theaterleben – inspiriert von Fantasie und kreativem Geist.
Geboren wurde der Affe mit dem rotbraunen Fell und dem formidablen Wanst in einem Atelier am Laufgraben in Uninähe; aufgewachsen ist er in einer urigen Schneiderwerkstatt im dritten Stock eines Altbaus an der Straße Koppel in St. Georg. Fünf Gewandmeisterinnen, die sich während ihrer Ausbildung an der Fachschule am Michel kennenlernten, betreiben seit 17 Jahren auf rund 100 Quadratmetern eine Werkstattgemeinschaft. Die unkonventionellen Räume haben Charme. Das kreative Quintett nicht minder. Lebenslust und Leidenschaft gehören dazu.
Der achtsame Tiger, die Orang-Utans, die Tapire und das Faultier sehen grandios aus
Entsprechend fröhlich und turbulent geht es beim Lokaltermin an diesem Vormittag zu. Kostümprobe steht auf dem Programm. Und da die Tivoli-Schauspieler wegen der Corona-Auflagen nicht persönlich erscheinen können, ist Improvisation angesagt. Keine Frage: Der achtsame Tiger, die Orang-Utans, die Tapire und das Faultier sehen grandios aus. Da kommt schon vor der ersten Vorstellung Freude auf.
Auch bei Dirk Zilken. Der freiberufliche Designer ist im Auftrag des Schmidts Tivoli für Kostümbild und Kostümproduktion verantwortlich. Was er in seinem Atelier entwarf und mit den Theaterleuten auf dem Papier im Detail verfeinerte, wird im „Gewandwerk“, so der Firmenname, in die Tat umgesetzt. Seit Wochen wird geplant, Maß genommen, geschneidert, geändert und genäht. Von der Stange ist hier gar nichts. Und was lässt sich das Theater diese fantastischen Originale kosten? Diskretion gehört zum Geschäft. Nur soviel: Jedes der neun Kostüme für dieses Familienmusical ist letztlich mit 80 bis 100 Stunden Arbeit verbunden.
„Wir wollen eben keine Art Schlafanzug, den man sich flugs überzieht“, sagt Dirk Zilken bei Kaffee und Keksen im Anproberaum. „Ein richtig gutes Kostüm besitzt eine Seele.“ Es sei so, als konstruiere man dem Theaterdarsteller eine „zweite Haut“. Derweil die Tapire erst mit dem Unterbau auf Bügeln hängen und auf Stoff warten, sind Affe und Tiger in ihrer Entwicklung fortgeschritten. Die Rundungen harmonieren entzückend.
„Das Zusammenwirken im Team und der permanente Austausch steigern die Kreativität“
Die Gewandmeisterinnen Merle Cordsen, Martina Ditzel, Stephanie Tödter und Katrin Wonka sind trainiert, effektiv Hand in Hand zu arbeiten. „Das Zusammenwirken im Team und der permanente Austausch steigern die Kreativität“, weiß Martina Ditzel aus Erfahrung.
Das Resultat kann sich sehen lassen: zum Beispiel ein Astronautenanzug für die lebensgroße „Weltraumkuh“ Stella des Planetariums, Kostüme für Zauberkünstler, Fantasiegewänder für Die Ärzte. Ulrich Tukur erschien in doppelter Rolle: privat sowie für seine Rhythmus-Boys. Weitere Auftraggeber sind Opern in Hamburg, Deutschland und Europa, Festspiele oder Fernsehsender. Privatkunden bestellen Brautkleider, Maßanzüge, Abend- und Ballgarderobe. Erlesene Qualität hat ihren Preis. Das Quintett eint die Hoffnung, dass nach trostlosen Corona-Monaten, zuvor randvollen und jetzt geleerten Auftragsbüchern alsbald Aufschwung naht.
Dass Dirk Zilken gerne ins Haus Koppel 38 kommt, liegt nicht nur an der dort tätigen Damenwelt: Mitte der 1990er-Jahre teilte sich der Kostümdesigner eben diese Räumlichkeiten mit einem Hutmacher. Nach seinem Auszug traten die fünf Meisterinnen ein – und legten los. „Wir entwerfen fulminante Bühnenauftritte mit Kostümen für einzigartige Charaktere, die das Publikum erreichen“, sagt Merle Cordsen. Nach Zilkens Entwürfen schufen sie auch unverwechselbare Kleidungsstücke für Winnetou, Old Shatterhand und Co. auf der Freilichtbühne in Bad Segeberg.
Die Kostüme müssen kunstvoll und zugleich praktisch sein
Die Anforderungen sind individuell und speziell. Funktionalität und Aussehen müssen im Einklang stehen. Was die Zuschauer in den Bann zieht, muss für die Darsteller praktisch benutzbar sein. Stichworte: bewegungstauglich, reißfest, unkompliziert waschbar, nach verschwitzten Einsätzen schnell zu trocknen, im Nu gegen ein neues Kostüm zu wechseln. Wegen Corona dürfen sich nur noch wenige Schauspieler auf der Bühne befinden. Im letzten Moment musste das Tivoli daher Rolf Zuckowskis mit vielen Personen besetztes Musical „Die Weihnachtsbäckerei“ gegen „Der achtsame Tiger“ austauschen. Vier Darsteller verkörpern dabei mehrere Tiere. Ein Segen, wenn man flexibel ist.
Neben dem Budget und zwei Dutzend verschiedenen Stoffen und Fellen geht es vor der Generalprobe um erstaunliche Probleme. Nicht so leicht, in die Masken einen Mund-und-NasenSchutz einzubauen. Auch das wurde vollbracht – Meisterstück für Meisterstück.
Zum Abschied hat die in jeder Beziehung pfundige Orang-Utan-Dame eine Streicheleinheit verdient. Ihr schwarzbraunes Bäuchlein, geschickt aus Füllwatte und Granulat geformt und mit passendem Stoff überzogen, ist ein Traum. Am liebsten möchte man ihn knuddeln. Warum eigentlich nicht?