Hamburg. Ex-Hockeytorhüterin hat Leukämie-Erkrankung überstanden. Wie sie sich trotz aller Probleme ihren Mut und ihre Hoffnung bewahrt hat.

Vor wenigen Wochen, als es noch Sommer war in Hamburg, da saß Silja Paul gemeinsam mit einer Freundin in einem Schlauchboot auf der Alster und fühlte sich, als sei sie der glücklichste Mensch der Welt. „Diese Momente sind es, in denen mir bewusst wird, dass ich viel Glück gehabt habe. Mich an diesen kleinen Dingen zu erfreuen, sie so bewusst wahrnehmen zu können, macht mich extrem happy“, sagt die 22-Jährige.

Wer ihre Geschichte kennt, der kann verstehen, warum sie diese Momente liebt. Im Januar 2017 hatte das Abendblatt das erste Porträt über Silja Paul mit den Worten „Die Hamburger Torhüterin, die den Blutkrebs abwehrte“ überschrieben. Acht Monate später war die akute myeloische Leukämie (AML) zurückgekehrt. Die damals 19-Jährige, die für den Großflottbeker THGC in der Bundesliga Hockey spielte und als großes Torhütertalent galt, brauchte eine Stammzellenspende. Es folgten bange Monate der Therapie, während der das Abendblatt sie für eine zweite Reportage auf der Krebsstation im Universitätsklinikum Eppendorf besuchen durfte. Im Frühjahr 2018 erschien dann ein dritter Artikel. Überschrift: „Silja Paul ist auf gutem Weg zurück ins Leben.“

2018 stieg Silja Paul (l.) mit den Damen des Großflottbeker THGC aus der Hockey-Bundesliga ab
2018 stieg Silja Paul (l.) mit den Damen des Großflottbeker THGC aus der Hockey-Bundesliga ab © WITTERS | ValeriaWitters

Aber wie findet man zurück in ein Leben, das niemals wieder so sein kann wie vor der Diagnose? In das man also kaum zurückfinden kann, sondern das man sich komplett neu aufbauen muss? Um diese Fragen zu beantworten, hat Silja Paul einem vierten Treffen zugestimmt. Sie ist beileibe kein Mensch, den es in die Öffentlichkeit drängt. Für den Fotografen zu posieren bereitet ihr sichtlich Unbehagen. Aber sie möchte mit ihrer Geschichte einerseits denen Mut machen, die ähnliche Schicksale wie sie erdulden.

Silja Paul gilt erst nach fünf Jahren als geheilt

Andererseits möchte sie, und das ist genauso wichtig, weil es zum Gesamtbild dazugehört, auch über die schwierigen Momente reden. Darüber, dass das Überstehen einer schweren Krebserkrankung nicht bedeutet, dass alles wieder gut ist. Sondern dass der Weg in ein neues Leben harte Arbeit mit sich bringt, dunkle Gedanken und viele Tränen.

Festzuhalten ist zunächst, dass Silja Paul noch nicht als geheilt gilt. Das ist erst der Fall, wenn über einen Zeitraum von fünf Jahren keine Krebszellen im Körper nachweisbar sind. Dennoch klingt ihre Antwort auf die Frage nach ihrem aktuellen Gesundheitszustand positiv. „Im Vergleich zu dem, was ich durchgemacht habe, ist der sehr gut“, sagt sie. Ihr Hormonhaushalt ist zwar komplett durcheinander, Darmschleimhaut und Zahnschmelz sind von den starken Medikamenten, die sie über viele Monate nehmen musste, angegriffen. Sie verträgt keinen Zucker, keinen Alkohol, keine Weizen- und Milchprodukte. „Natürlich nervt es, in meinem Alter so viele Kompromisse eingehen und immer vernünftig sein zu müssen“, sagt sie.

Andererseits galt sie in den vergangenen Monaten, in denen die Corona-Pandemie über die Welt kam, nicht als Risikopatientin. „Meine Lungenfunktion ist so gut, dass die Ärzte sagten, dass ich mir keine großen Gedanken zu machen bräuchte“, sagt sie. Dass sie es trotzdem tat, steht auf einem anderen Blatt. Die Kontrolluntersuchungen indes, die sie einmal pro Quartal absolviert, deuten
allesamt darauf hin, dass ihr Körper die fremden Stammzellen angenommen und den Kampf gegen die Leukämie gewonnen hat.

2015 gab Silja Paul, hier bei einem Auswärtsspiel in München, ihr Bundesligadebüt.
2015 gab Silja Paul, hier bei einem Auswärtsspiel in München, ihr Bundesligadebüt. © imago/Philippe Ruiz | imago sport

„Negative Gedanken sind notwendig, um den Optimismus immer wieder neu aufnehmen zu können“

Die neue Schlacht, die in ihr tobt, hat dementsprechend keine physischen Wurzeln. Silja Paul steckt in einem psychischen Prozess, den man als Findungsphase bezeichnen kann, wie sie im Übergang vom Schul- ins Berufsleben üblich ist. Nur dass sie diese Zeit, die wahrscheinlich intensivsten Lebensjahre, auf Krankenstationen, in häuslicher Isolation oder in der Reha verbringen musste, anstatt sie zur Selbstfindung nutzen zu können. Sie will nicht von einer verlorenen Zeit sprechen, weil sie spürt, dass die schwere Krankheit ihre Persönlichkeitsentwicklung vorangetrieben hat. Aber eben auf eine Art, die ihrem Leben die Leichtigkeit genommen hat. „Ich merke, dass ich andere um diese Leichtigkeit beneide“, sagt sie.

Als die Leukämie sie das erste Mal traf, hatte sich Silja Paul in einer Mischung aus jugendlichem Elan und einer fast kindlichen Naivität geweigert, Angst zuzulassen. Ihr überschäumender Lebensmut beeindruckte alle, die sie begleiten durften, und trug einen guten Teil dazu bei, dass sie die Chemotherapie überstand. Aber als im Herbst 2017 der schwere Rückschlag kam, schlichen sich erste Zweifel in ihr sonniges Gemüt. „Rückblickend war das der Beginn der Phase, in der ich jetzt immer noch stecke“, sagt sie.

Nicht dass ein falscher Eindruck entsteht: Ihre Frohnatur und ihr Lebensmut sind ihr geblieben und haben bislang dafür gesorgt, dass die dunklen Gedanken sie nie mit sich gerissen haben. Aber dass sie heute negative Emotionen und Zweifel zulassen kann, empfindet sie als wichtigen Schritt. „Negative Gedanken sind notwendig, um den Optimismus immer wieder neu aufnehmen zu können“, sagt sie, „außerdem musste ich irgendwann zulassen, auch Hilfe von außen anzunehmen, damit ich die mit der Krankheit verknüpften Emotionen und Gedanken aufarbeiten kann“, sagt sie. Seit zweieinhalb Jahren ist sie in Behandlung bei einer Psychotherapeutin und plant, dies bis auf Weiteres fortzuführen, weil es ihr hilft.

Abschied vom Leistungssport

Ein Thema, das sie besonders beschäftigt, ist der Aufbau von neuen Beziehungen. Aber auch alte Freundschaften und Gewohnheiten galt es neu zu justieren. Bevor sie krank wurde, war Hockey ihr Leben. Aus Itzehoe, wo sie aufgewachsen ist, fuhr Silja Paul mehrmals in der Woche zum Training nach Hamburg. „Nach der Schule in den Zug, abends nach dem Training zurück, von 14 bis 22 Uhr unterwegs, das war normal für mich, und ich habe es geliebt“, sagt sie. Wieder auf den Hockeyplatz zurückzukehren, das war das große Ziel, das ihr im Verlauf der Krankheit Flügel verlieh.

Doch nach der Genesung spürte sie, dass Leistungssport nicht mehr das war, was sie konnte – und wollte. „Mein Körper hat auf die Trainingsbelastung mit Erschöpfung reagiert, ich hatte immer das Gefühl, dass meine Muskeln gezerrt seien und konnte nicht so durchziehen, wie ich es mir gewünscht hatte.“

Außerdem stellte sie fest, dass die Verpflichtung, ständig trainieren zu müssen, sie nicht mehr mit der Zufriedenheit erfüllte, die sie von sich gewohnt war, sondern zur Belastung wurde. „Ich hatte einfach mental nicht mehr die Stärke, nach jedem körperlichen Rückschlag wieder neu anzufangen.“ Also traf sie an Silvester die Entscheidung, mit dem Hockey aufzuhören.

Sie studiert inzwischen Maschinenbau

„Ich hatte wirklich große Angst, dadurch meine Freunde zu verlieren. Meine Mannschaft, die sich so großartig um mich gekümmert hat, war schließlich mein soziales Umfeld, ich bin unendlich dankbar für das, was die Mädels für mich getan haben“, sagt sie. Die Angst indes war unbegründet. Zu einigen Mitspielerinnen hat sie weiterhin einen engen Draht, andere aus den Augen verloren. Aber dafür sind neue Bekanntenkreise dazugekommen. An der Technischen Universität Hamburg, wo sie mittlerweile im vierten Semester Maschinenbau studiert, hat sie ebenso Freunde gefunden wie in ihrem neuen sportlichen Umfeld. Silja Paul spielt seit Januar Handball beim SC Teutonia. Natürlich im Tor. Bezirksliga, ohne großen Leistungsgedanken. Aber trotzdem mit viel Ehrgeiz.

„Der wird niemals verschwinden, und manchmal merke ich auch, dass mir zweimal Training in der Woche zu wenig ist“, sagt sie. Aber sie spüre gleichzeitig, dass es ihr guttut, mehr Zeit für andere Dinge zu haben. Sich nicht, wie damals im Hockey, einer Sache mit Haut und den längst nachgewachsenen Haaren zu verschreiben, sondern sich breiter aufzustellen. Nicht mehr Leistung in den Vordergrund zu stellen, sondern den Spaß, den sie zum Beispiel dabei empfindet, sich mit ihrer ehemaligen Teamkollegin Juli Brüning, die wegen einer schweren Verletzung ebenfalls mit dem Hockey aufhören musste, im Trail-Running auszuprobieren.

Die Ausweitung ihres Freundeskreises eröffne ihr neue Horizonte. Trotzdem brauche sie immer wieder auch Momente des Rückzugs, „meine speziellen zehn Minuten“, so nennt sie diese Phasen. Und weil sie diese brauche, geht sie mit ihrer Erkrankung entsprechend offen um. „Es ist jetzt nicht so, dass ich beim Kennenlernen allen sage: Hallo, ich bin Silja, und ich hatte Leukämie! Ich möchte auch weder Mitleid noch anders als andere behandelt werden. Aber ich möchte, dass meine Freunde wissen, warum ich bin, wie ich bin“, sagt sie.

Emotionales Treffen mit ihrer Spenderin

Besonders bewegt hat sie ein Treffen Ende vergangenen Jahres. Über die Deutsche Knochenmarkspender-Datei (DKMS) hatte ihre Spenderin, von der sie bis dato lediglich wusste, dass diese 1994 geboren ist und im Raum Köln lebt, einer Kontaktaufnahme zugestimmt. Silja Paul schrieb ihr also eine E-Mail, man verabredete sich in Hamburg. „Das war für mich ein unglaublich intensiver Moment. Auch wenn wir charakterlich grundverschiedene Menschen sind, war das Gespräch von Anfang an total vertraut“, sagt sie.

Irgendwann im Lauf der Unterhaltung habe die junge Frau darum gebeten, „dass ich endlich aufhöre, mich bei ihr zu bedanken. Aber ich konnte nicht anders. Wenn sie nicht bereit gewesen wäre, sich typisieren zu lassen, dann wäre ich einfach nicht mehr hier“, sagt Silja Paul. Dass ihre Lebensretterin trotz einer Spritzenphobie und ihrer Angst vor Blutentnahme ihre Bereitschaft zur Knochenmarkspende erklärt und nun tatsächlich ein Leben gerettet hat, solle beispielgebend sein, findet Silja. „Gerade jetzt, in der Corona-Zeit, braucht die DKMS Unterstützung. Und unsere Geschichte soll alle Menschen motivieren, sich als Spender zu melden“, sagt sie.

Motivation ist ein Faktor, der für ihr eigenes Leben enorm an Bedeutung gewonnen hat. Sie hat einen starken Antrieb aus sich selbst heraus, will Dinge manchmal mehr, als sie ihr möglich sind. „Geduld ist wirklich nicht meine Stärke“, sagt sie. Natürlich ist da diese Angst, dass die Leukämie doch noch einmal zurückkommt. Oder der Krebs, dieser grausame, stille Killer, an anderer Stelle zuschlägt. „Die Angst dominiert mich nicht, ist nicht mehr so präsent wie damals im Krankenhaus. Aber unterbewusst frage ich mich schon öfters, ob ich in einem Jahr noch lebe. Und das überfordert mich manchmal“, sagt sie.

Silja Paul hat aufgehört, langfristige Pläne zu machen

Silja Paul hat aufgehört, langfristige Pläne zu machen. Sie versucht, ihr Leben intensiv zu genießen, und ist glücklich über ihre Eigenschaft, die kleinen Freuden wie das Paddeln an einem Spätsommertag emotional als etwas Besonderes wahrnehmen zu können. „Ich hoffe
darauf, dass ich ein glückliches Leben führen kann“, sagt sie, „und dass die Auseinandersetzung mit mir selbst zu einem Ziel führt: dazu, glücklich zu sein. Aber herauszufinden, was einen glücklich macht, das ist nicht einfach.“

Nein, das ist es beileibe nicht, und daran scheitern auch viele Menschen, die kein so hartes Schicksal meistern mussten wie Silja Paul. Natürlich würde sie, wenn es möglich wäre, die Erlebnisse der vergangenen Jahre gern ungeschehen machen. „Aber es ist nicht so, dass ich die Krankheit weghexen will. Es ist meine Geschichte und wird es immer bleiben“, sagt sie. Für sie ginge es darum, „mich auf das Positive zu fixieren und mein Trauma in einer Form zu verarbeiten, dass ich daraus stärker zurückkomme, als ich es vor dem Ausbruch war.“

Das Gespräch ist beendet. Draußen hat es zu nieseln begonnen, ein durchdringender Wind weht. Der Sommer ist vorbei, es ist Herbst in Hamburg. Aber Silja Paul hat gute Aussichten, noch viele warme, leuchtende Tage erleben zu können.