Hamburg. Tessa Aust leitet seit 2017 mehrere Bühnen, einen Club, eine Bar und zwei Restaurants. Wie sehr verändert das Virus die „geile Meile“?

Die Corona-Krise ändert alles – unsere Art zu leben, unsere Wirtschaft, unsere Innenstädte, unsere Mobilität, unsere Kultur. Für kaum eine Straße gelten diese Sätze so wie für die Reeperbahn. Dort betreibt Tessa Aust als Geschäftsführerin drei Bühnen: das Schmidt Theater, das Schmidts Tivoli und das Schmidtchen, dazu Angies Nightclub, eine Bar und zwei Restaurants. Ein Gespräch über einen fremden Kiez, Hoffnungszeichen und die Angst vor dem Winter.

Hamburger Abendblatt: Wird es nach Corona wieder so, wie es vor Corona war?

Tessa Aust: Bestimmt nicht, dafür sind diese Pandemie und ihre Folgen zu einschneidend. Vieles hängt davon ab, wann wir diese Nach-Corona-Zeit erreicht haben. Die wirtschaftlichen Folgen werden wir sicher noch länger spüren. Immerhin zwingt uns diese Krise zu kreativen Lösungen und zeigt auch, was wir derzeit vermissen: Danach werden wir es noch intensiver genießen, gemeinsam auszugehen und gemeinsam zu feiern, gemeinsam Kultur und Theater zu erleben.

Wann haben Sie gespürt, dass Corona keine Sache von wenigen Wochen ist?

Aust: Wir haben die Lage schon seit Anfang des Jahres sehr aufmerksam beobachtet. Als dann Großveranstaltungen ab 1000 Personen verboten wurden, wurde es ernst, auch wenn wir davon ja noch nicht betroffen waren. Wir hatten ausgebuchte Vorstellungen, und die Menschen sind weiter gekommen. Es war schon hart, dann ganz zu schließen. Im April war dann klar, dass uns das Ganze noch länger beschäftigen wird und die kommende Zeit sehr unsicher wird.

Wie haben Sie den Kiez in den vergangenen Corona-Monaten wahrgenommen?

Aust: Das Schlimmste war die Zeit des Lockdowns. Ein Bummel über den Kiez hatte etwas Gespenstisches. Sonst war immer der 1. Januar der ruhigste Tag des Jahres, da bin ich früher gern über den Kiez gelaufen. Aber nun war alles anders: Keine Kneipen, keine Lichter, keine Menschen – zu keiner Zeit. Immerhin hat schnell eine große Solidarität eingesetzt. Die Menschen auf St. Pauli haben einander geholfen, wo sie konnten. Das Miteinander ist wirklich großartig: Die IG St. Pauli macht einen tollen Job, der Elbschlosskeller hat sich in eine Suppenküche verwandelt, die Hotels für Obdachlose geöffnet.

Durch die Herbertstraße konnte man mit dem Rad fahren. Was man früher seltsam fand, wurde in der Corona-Normalität noch viel seltsamer, eben weil es nicht mehr da war.

Aust: Corona schärft unser Bewusstsein, was das Leben, den Alltag und die Stadt ausmachen.

Sehen Sie Licht am Ende des Tunnels?

Aust: Bis jetzt ging es seit Mitte Mai Schritt für Schritt voran. Die Öffnung der Gastronomie und dann die ersten Aufführungen im Juli waren wichtige Meilensteine für uns. Inzwischen wissen wir, dass es funktioniert. Wir hatten nicht einen einzigen Corona-Fall, weder in der Gastronomie noch im Theater. Wenn sich die Lage nicht weiter verschlechtert, habe ich Hoffnung, dass es mit weiteren Lockerungen vorangeht. Besonders viel verspreche ich mir von den Corona-Schnelltests, die gerade entwickelt werden. Aber um Licht am Ende des Tunnels zu sehen, ist es momentan noch zu früh.

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Wie ist denn die Stimmung auf dem Kiez?

Aust: Alle müssen kreativ mit der Situation umgehen und sich die Frage stellen, wie es weitergehen kann. Die Regeln sind zwar für alle gleich, aber die Umsetzung unterscheidet sich für die Betreiber: Wie sind die räumlichen Gegebenheiten, wie groß sind die Außenflächen? Unsere „Hausbar“ ist groß genug, aber unsere Bar „Glanz und Gloria“ ist zu eng. Deshalb bleibt sie noch geschlossen.

Manche ignorieren die Hygienekonzepte, wie inzwischen deutlich geworden ist.

Aust: Diese schwarzen Schafe machen vieles kaputt, auch in der Wahrnehmung unserer gesamten Branche. Eigentlich sollte allen bewusst sein, dass es nicht um die Einhaltung bürokratischer Regeln geht, sondern darum, dass sich andere Menschen nicht anstecken können.

Fürchten Sie eine Pleitewelle auf dem Kiez?

Aust: Das hängt davon ab, wie lange die Pandemie noch dauert. Wenn es in absehbarer Zeit einen Impfstoff gibt oder wir mit Schnelltests mehr Sicherheit beim Ausgehen bekommen, wird eine Pleitewelle hoffentlich vermieden.

Ihr Theater war immer stolz darauf, 30 Jahre ohne Subventionen ausgekommen zu sein. Das lässt sich in Pandemie-Zeiten nicht durchhalten, oder?

Aust: Nein. Wir sind sehr dankbar, dass die Kulturbehörde in dieser existenzbedrohenden Situation die Theater gestützt hat. Natürlich hoffen wir, schnell wieder aus dieser Lage herauszukommen, momentan sind wir aber auf die verschiedenen Unterstützungen, wie auch auf die Kurzarbeit, angewiesen.

Was ist mit den Gästen? Sie können ja nur ein überschaubares Kartenkontingent anbieten. Bekommen Sie diese Plätze voll, oder haben die Menschen Angst?

Aust: Wir konnten den Gästen mögliche Bedenken nehmen. Wir sind froh, wie „Paradiso“ im Tivoli läuft, wir sind fast immer ausverkauft. Im Oktober öffnen wir das Schmidt Theater mit „Schmidts Ritz“, der Vorverkauf läuft sehr erfreulich. Wir schaffen es, die geringe Kapazität – wir können nur 40 Prozent der früher verfügbaren Sitze anbieten – voll auszunutzen. Wir haben nicht nur ein paar Plätze herausgenommen, sondern ein ganz anderes Raumkonzept entwickelt. Dahinter steckt die Idee, etwas Spezielles für die Corona-Zeit zu entwickeln, was das Ambiente des Theaters erhält und eine tolle Atmosphäre schafft.

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Ist es in Corona-Bedingungen leichter, ein Theater als eine Bar zu betreiben?

Aust: Im Prinzip ja – es ist viel geregelter. Im Theatersaal ist es wie in einem Restaurant, da hält man Abstände leichter ein, und es gibt kein ständiges Kommen und Gehen. Zudem haben wir sowohl den Einlass als auch den Auslass aus dem Theater komplett neu konzipiert. Die Organisation dessen ist aber sehr viel aufwendiger als in einer Bar.

Bedarf es einer Retter-Aktion wie damals beim FC St. Pauli? Damals gab es 2003 nach dem Doppelabstieg die berühmten Retter-Shirts und Solidaritätsaktionen bis hin zu „Saufen für St. Pauli“. Sollte man über eine Neuauflage für den Kiez nachdenken?

Aust: Das findet im Kleinen von den einzelnen Betrieben und im Großen von der Regierung ja schon statt – wir haben im Lockdown viele Unterstützergutscheine verkaufen können. Die gesamte Gastrobranche hat höhere Kosten und zugleich niedrigere Umsätze. Natürlich hilft die Mehrwertsteuersenkung den Restaurants etwas. Aber ich hoffe langfristig auch auf Solidarität, wenn die Branche ihre Preise etwas erhöhen muss.

Bis Corona waren viele vom Partyvolk genervt­, das über die Meile zog. Wünscht man sich heute die Junggesellenabschiede zurück?

Aust: Der Besucherrückgang ist spürbar, wenngleich die Laufkundschaft in den vergangenen Wochen wieder zugenommen hat. Derzeit ist es sogar relativ voll, auch weil viel Außengastronomie angeboten wird. Aktuell haben wir am Spielbudenplatz ein sehr angenehmes Publikum. Aber der Kiez ist immer offen für alle gewesen. Wir spüren, dass deutlich weniger Touristen kommen. Es ist ruhiger geworden, es wird nicht gefeiert, es wird nicht getanzt, es wird nicht gegrölt, man sitzt friedlich zusammen.

Hat sich etwas durch die Wiederzulassung der Prostitution verändert?

Aust: Das war schon ein besonderer Moment, als das erste Mal wieder die Damen an der Davidstraße standen. Aber den Effekt zu bewerten wäre noch zu früh.

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Was bedeutet Corona für Ihr Haus? Im vergangenen Jahr zählten Sie über 450.000 Besucher. Wie viele werden es 2020 sein?

Aust: Wir haben uns in der Vergangenheit von Jahr zu Jahr steigern können. Aber in diesem Jahr dürfte es nicht einmal die Hälfte werden. Wir versuchen alles, um so gut es geht durch diese Zeit zu kommen. Mit kreativen Lösungen, einem enormen Engagement des gesamten Teams und der Unterstützung unserer Gäste gelingt uns das bisher ganz gut.

Wie kommen die Schauspieler damit klar?

Aust: Alle, die wieder auf der Bühne stehen können und Applaus bekommen, sind dankbar. Das war einer der wesentlichen Gründe, warum wir so schnell wie möglich wieder aufgemacht haben. Uns war das Signal wichtig, auch mit den Einschränkungen wieder arbeiten und auftreten zu können. Und trotz weniger Gästen ist die Stimmung jeden Abend super. Leider können wir nicht wie geplant unsere großen Eigenproduktionen wie die „Heiße Ecke“ spielen, denn die Hygieneregeln gelten ja nicht nur im Zuschauerraum, sondern auch auf der Bühne. Es gibt also viele Darsteller, die noch nicht wieder arbeiten können.

Wie wird sich der Kiez verändern?

Aust: Kultur auf dem Kiez wird es auch in Zukunft geben. Was den Kiez aber immer ausgemacht hat, ist der Mix – St. Pauli muss ein Anlaufpunkt für verschiedenste Besucherinnen und Besucher bleiben. Es gibt derzeit keine realistische Option für Clubs, wieder zu öffnen. Sie waren die Ersten, die zumachen mussten, und werden wohl die Letzten sein, die wieder aufmachen. Gerade die Clubs hoffen darauf, dass die Stadt sie nicht aufgibt.

Die Verzweiflung bei manchen Bar- und Restaurantbetreibern ist so groß, dass die Kritik an den Schutzmaßnahmen wächst – bis hin zu Verschwörungstheorien.

Aust: Die Maßnahmen für die Betreiber sind sehr einschneidend. Viele Menschen realisieren sicher nicht, was Corona für die Unternehmen bedeutet. Für Verschwörungstheorien habe ich aber kein Verständnis, und die bekomme ich in der Branche auch nicht mit. Die Ereignisse in der „Katze“ und im Le Vou zeigen zugleich, wie wichtig Corona-Regeln sind.

Was wünschen Sie sich von Hamburg und den Hamburgern?

Aust: Der Kampf gegen die Pandemie ist nicht allein Aufgabe der Gastronomen, auch die Gäste müssen mitmachen. Wenn ein Kellner den Unterschriftszettel vergisst, dürfen die Gäste gern Bescheid geben – und Abstand halten ist Aufgabe für alle. Da würde ich mir manchmal mehr Mit­einander wünschen. Allgemein muss sich das Bewusstsein schärfen, dass wir nur gemeinsam möglichst gut durch diese Zeit kommen können.

Muss es bald weitere Lockerungen geben?

Aust: Wenn die Infektionslage es zulässt, würden wir uns sehr über eine Verringerung der Schutzabstände von 1,5 auf einen Meter freuen, wie es andere Länder schon machen. Das wäre für viele Gas­tronomen und Theater ein ganz wichtiger Schritt. Dann könnten wir statt 40 Prozent nämlich ca. 60 Prozent unserer eigentlichen Gäste ins Haus lassen. Auch die zulässigen Gruppengrößen sind für uns relevant – bislang dürfen nur zehn Menschen aus unterschiedlichen Haushalten zusammensitzen. Zu Hause dürfen es hingegen 25 Personen sein. Das ist schwer nachvollziehbar, gerade im Hinblick auf die Weihnachtszeit. Wenn Lockerungen vertretbar sind, würde es der gesamten Branche helfen.

Fürchten Sie den Herbst? Oder sind Heizpilze die Rettung?

Aust: Ich habe keine Angst vor dem Herbst, aber es wird eine knifflige Phase, die wieder neue kreative Lösungen braucht. Die Heizpilze werden dafür sorgen, dass ein Teil der bestehenden Außengastronomie auch im Winter genutzt werden kann.

Viele bleiben derzeit zu Hause. Könnte diese neue Häuslichkeit nach Corona bleiben?

Aust: Ich glaube, es gibt einen großen Wunsch nach Normalität, nach dem gemeinsamen Theaterbesuch, nach Kultur, nach einem Kneipenbummel und einer durchtanzten Nacht. Die Menschen werden wiederkommen. Unser Gästebuch steht online – und die Gäste loben, wie sicher sie sich fühlen und wie schön es ist, wieder etwas unternehmen zu können.

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Sie persönlich haben lange bei Apple gearbeitet und sich mit der Digitalisierung von Schulen befasst. Bereuen Sie, 2017 in die Theaterbranche gewechselt zu sein?

Aust: Ich habe zuletzt häufiger über den Schulbereich nachgedacht – und mich gefreut für die Schulen, die wir damals fit gemacht­ haben. Aber ich bereue den Schritt nicht. Nach meinen ersten drei Monaten in der Schmidt-Geschäftsführung hatte ich den G-20-Gipfel, nach den ersten drei Jahren nun eine Pandemie. Auch wenn ich danach sicher krisenerprobt bin, will ich die nächste Krise frühestens in 30 Jahren erleben – besser natürlich gar nicht.

Bei aller Digitalisierung: Theater und Gastronomie werden immer analog bleiben, oder?

Aust: Wir haben als Erste nach dem Lockdown eine eigene Streaming-Show ins Netz gebracht. Das war ein tolles Projekt, ein wichtiges Lebenszeichen, ein Kontakthalten zu unseren Gästen. Aber das kann nie ein Ersatz sein für den Theaterbesuch, für das Live-Erlebnis gemeinsam mit anderen. Es ist genau das, was uns gerade allen fehlt!