Hamburg. Wir funktioniert ein Therapiespaziergang? Das Abendblatt durfte bei der ungewöhnlichen Behandlungsmethode mitlaufen.
Der Jenisch Park wirkt an diesem Vormittag wie eine Tablette Tavor. Anders als das Beruhigungsmittel hat ein Spaziergang hier allerdings keine Nebenwirkungen. Die Umgebung hilft sogar dabei, gesund zu werden. Das zumindest behauptet Andrea vorm Walde. Die Therapeutin aus Altona setzt auf „Openair-Behandlung“, und eine Klientin von ihr hat dem Abendblatt erlaubt, für eine Stunde mithören zu dürfen.
Bei dem gefürchteten Wort Therapie denken manche gleich an eine Couch, auf der ein Mensch liegt und von einem anderen im Sitzen befragt wird. Eine im allgemeinen eher unnatürliche Kommunikationsform. Doch nun im Park sieht man zwei Personen, die nebeneinander gehen und miteinander sprechen. Ganz normal irgendwie. „Versuche tief zu atmen, hol‘ mehr Luft als sonst und nimm dir Zeit, ein gutes Schritttempo zu finden“, sagt Andrea vorm Walde zu Beginn der „Sitzung“ – ein unter diesen Umständen unpassendes Fachwort für eine Zeiteinheit. „Sprechstunde“ würde passen; „Freigang“ trifft es allerdings auch.
Unsicherheit durch die Corona-Krise
Maria Schmidt (Name geändert) geht ein paar Minuten schweigend und atmend vor sich hin und beginnt dann, von ihren Sorgen zu erzählen. Die 51-Jährige arbeitet in einer Branche, die stark von der Coronakrise betroffen ist. Während sie eigentlich ein eher zuversichtlicher Mensch zu sein scheint, machen ihr die Kurzarbeit und die damit verbundene Unsicherheit zunehmend zu schaffen. „Das wird doch nicht ewig so weitergehen, irgendwann beginnen die Entlassungen“, fürchtet sie.
Ihre berufliche Situation würde nun alles überlagern, die Angst um den Arbeitsplatz laufe bei allem, was sie nun tut, im Hintergrund mit. Während Maria Schmidt ihre Gedanken schildert, spaziert sie an Eichen, Goldlärchen und Rotbuchen vorbei. Kastanien liegen auf dem Boden. Eine Schulklasse veranstaltet ein Wettlaufen. Frau Schmidt scheint all das nicht zu bemerken, sie schreitet voran in ihren Überlegungen. Nur selten schaut sie ihre Therapeutin an. Die beiden haben die gleiche Blick- und Marschrichtung.
Das sei vor allem für Patienten, die sich zum ersten Mal Hilfe holen, extrem erleichternd, wird Andrea vorm Walde später erklären. Nicht jeder mag es, direkt angeschaut zu werden, wenn es um die dunkelsten Geheimnisse geht. Auge um Auge. „Bei einem Spaziergang ist das Therapiegefühl weg, viele öffnen sich so leichter“, sagt vorm Walde, eine staatlich geprüfte Heilpraktikerin für Psychotherapie. Die Bewegung mache die Klienten schon nach wenigen Minuten entspannter. Gleichzeitig erfolgen die Abläufe beim Laufen automatisch, man kann sich also in Ruhe auf das Gespräch konzentrieren.
Viele verlieren den Bezug zur Realität
„Handelt es sich denn wirklich um deine Angst, oder ist das die Angst deiner Kollegen?“ fragt vorm Walde und nimmt eine Abzweigung nach links. Nur wer genau hinschaut, stellt fest, dass einer von den beiden die Richtung vorgibt. Maria Schmidt stellt fest, ihre Sorgen treten vornehmlich an den Tagen auf, an denen sie ins Büro geht. Im Homeoffice grübelt sie weniger.
„Bei der Arbeit sehe ich die Kollegen und frage mich, wer als Erster gehen muss. Außerdem stelle ich dann fest, wie viel weniger ich jetzt zu tun habe als vor Corona“, sagt Schmidt, und ihr Coach fragt sie, warum sie keine Sicherheit dadurch fühle, dass sie schon viele Jahre in dem Unternehmen sei und ihr Chef sie ständig lobe.
Oder ob es um das Gefühl des Gebrauchtwerdens ginge? Weil die Kinder inzwischen auch schon alleine zu ihren Terminen fahren und nicht mehr kutschiert werden müssen? „Nein, das empfinde ich eher erleichternd. Ich weiß nur nicht, was ich anderes machen sollte. Und Bewerbungen machen ja zurzeit ohnehin keinen Sinn.“
Andrea vorm Walde stellt eine Frage, die sie ihren Klienten sehr häufig stellt: „Ist das wirklich so?“ Viele verlören den Bezug zur Realität. Gerade in der Coronakrise habe die Therapeutin es auch bei an sich gesunden Menschen vermehrt festgestellt. „Das ist so schlimm, dass wir keinen Urlaub mehr machen dürfen“, meinten beispielsweise einige. „Dabei entspricht das nicht der Realität“, sagt vorm Walde. „Niemand verbietet uns, Urlaub zu machen. Wir müssen uns nur die Reiseziele genauer anschauen.“
Das Gefühl des Gebrauchtwerdens zurückerlangen
Die beiden Frauen gehen am Jenisch Haus vorbei. Von hier sieht man viel Natur und in der Ferne die Elbe. Containerschiffe ziehen vorbei. Auf dem Rasen laufen Hunde. Die Farbe Grün hebt nachweislich die Stimmung, sie strahlt Harmonie und Ruhe aus. Doch selbst in Schwarz-Weiß habe die Aussicht einen positiven Effekt auf die Therapie, erklärt der Coach: „80 Prozent unserer Gedanken entstehen durchs Sehen. Eine wechselnde Szenerie regt unser Gehirn an. Draußen komme ich auf jeden Fall auf bessere Gedanken, als wenn ich auf eine weiße Wand starre.“
Therapeutin und Klientin besprechen nun berufliche Alternativen. Bei wem könnte man sich bewerben? Wie anderweitig das Gefühl des Gebrauchtwerdens zurück erlangen? Und vor allem: Wie die Situation nun so zu akzeptieren, wie sie ist, und sich nicht von anderen runterziehen zu lassen? „Du rutschst zu leicht ins Außen,“ sagt Andrea vorm Walde. „Hör auf dich, nicht auf die anderen. Du bestimmst deine Stimmung, nicht die anderen.“
Realisten sind dauerhaft glücklicher
Man selbst würde sich langsam setzen, doch die Bewegung öffnet das Gehirn für Neues, also wird noch eine weitere Runde im Park gedreht. Sogar bei Regen und im Schnee hält Andrea vorm Walde ihre Spaziergänge ab. Am liebsten arbeitet sie im Forst Klövensteen wegen der vielen Bäume. Die wirken wie ein Halt. Einige Klienten präferieren allerdings das Wasser. Die Weite!
Wenn die Spaziergänge an der Elbe entlang führen, dann schlägt vorm Walde vor, die Schuhe auszuziehen. Es ginge darum, wieder das Ursprüngliche zu fühlen, eine Verbindung zu sich selbst zu spüren. Barfuß sei man wie von selbst geerdeter, und die Berührung von Natur in Form von Erde oder Gras vereinfache uns. Für viele knüpfe das auch an Kindheitserinnerungen an.
„Das hat alles eine positive Wirkung. Auf Highheels hat man ganz sicher weniger Erfahrung als mit Sand unter den Füßen“, sagt vorm Walde, die ihren Klienten auch mal die Hand aufs Herz legt, damit sie wieder eine Verbindung zu sich herstellen.
Im Jenisch Park Licht scheint inzwischen die Sonne. Die Sitzung im Gehen endet an einem Seiteneingang, Maria Schmidt hat einen Plan und schaut ein wenig zuversichtlicher. Aber ist sie auch optimistisch? „Ich muss nicht immer ein Optimist sein, das habe ich gelernt“, sagt Frau Schmidt und lacht. Tatsächlich seien die Realisten dauerhaft glücklicher. „Die sind vor Tiefschlägen besser gewappnet“, erklärt vorm Walde.
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Gerade in der Coronakrise sei noch einmal klar geworden, wer mit Krisen besser zurecht kommt. Es gab eine Welle an neuen Klienten kurz vor den Sommerferien, darunter viele Mütter, die unter der Doppelbelastung aus Homeoffice und Homeschooling zusammen gebrochen waren, aber auch Optimisten, die mit den permanent schlechten Nachrichten eine Enttäuschung nach der anderen einstecken mussten. Und jetzt im Herbst scheint die psychische Belastung für viele wieder anzusteigen.
„Im März dachten alle, wir sind in wenigen Monaten durch, und nun stellten wir fest, es könnte wohl noch etwas dauern“, sagt die Therapeutin, an die sich fast nur Frauen wenden. Männer kommen eher selten. Weil sie keine Probleme haben? Weil sie die Natur nicht mögen?
„Nein, die halten einfach länger aus, was aus meiner Sicht nicht positiv ist, weil es in einem Krankheitsbild münden kann,“ sagt Andrea vorm Walde. Und manche würden sich ihren Problemen auch einfach nicht stellen wollen.
Vielleicht probieren die es mal im Park. Eine Eiche kann schweigen.