Hamburg. Fußballer Benny Adrion hat nach seiner Karriere Viva con Agua aufgebaut – und die Pandemie in Südafrika erlebt.

Die Corona-Krise ändert alles – unsere Art zu leben, unsere Wirtschaft, unsere Städte, unsere Mobilität, unsere Kultur. In der Interviewreihe „Hamburg 2022 – Corona und dann“ sprechen wir über den Wandel, über Risiken, aber auch Chancen. Der frühere Fußballspieler Benjamin Adrion, 39, ist Gründer der Entwicklungsorganisation „Viva con Agua“.

Die Wasserinitiative setzt sich in vielen Ländern für einen sicheren Zugang zu sauberem Trinkwasser ein; das Projekt „Goldeimer“ will die sanitäre Grundversorgung verbessern. Adrion war gerade zum Aufbau einer Landesorganisation von „Viva con Agua“ in Südafrika, als die Pandemie ausbrach.

Herr Adrion, wird unser Leben nach Corona wieder so, wie es vor Corona war?

Benjamin Adrion: Nein, es wird nicht mehr so, wie es vorher war. Aber unser Leben verändert sich ja ohnehin ständig. Ein Satz, der mich bei Viva con Agua begleitet, lautet: „Die einzige Konstante ist der stete Wandel.“ Das wird uns im Alltagstrott oft nur nicht bewusst. Ich bin mir sicher, dass wir Covid-19 hinter uns lassen. Wir werden in Europa irgendwann eine Impfung haben. Aber ein Schatten wird bleiben.

Was für ein Schatten?

Zum einen fürchte ich, dass sich individuell in den Köpfen ein Schatten legt – wie unbedarft und sorglos werden wir nach Corona wieder werden? Gehen wir beispielsweise noch auf ein Festival, um mit 80.000 Menschen zu feiern? Ich hoffe, dass es so sein wird – und dass diese Konzerte oder Fußballspiele im Stadion euphorischer werden als jemals zuvor. Ich fürchte aber, dass das nicht für alle gilt und manche aus Angst diese Dinge nicht mehr erleben können.

Es wird aber auch gesellschaftliche Schatten geben: Damit meine ich die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise mit Arbeitslosigkeit und Insolvenzen. Das könnte auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt schmälern. Die Polarisierung in den Debatten könnte weiter zunehmen.

Wie trifft Corona denn Viva con Agua?

Hart, wirklich hart. Wir können froh sein, dass wir dezentral arbeiten. Mit unserem Projekt Goldeimer, das soziales Toilettenpapier vertreibt, konnten wir anfänglich sogar von den Hamsterkäufen profitieren. Aber das war ein kurzfristiger Effekt. Der Mineralwasserverkauf von Viva con Agua ist durch die Schließung der Gas­tronomie eingebrochen, erholt sich jetzt aber langsam wieder.

Getroffen hat uns auch die Absage von allen Events – Fußballspiele, Konzerte und Festivals, Netzwerkveranstaltungen. Das hat das Herz von Viva con Agua getroffen. Wir leben davon, dass sich Menschen treffen. Da fehlen nicht nur die Spenden, da fehlt auch vielen Ehrenamtlichen die Möglichkeit zum Engagement. Weder konnten wir Pfandbecher sammeln, noch etwas verkaufen, noch auf uns aufmerksam machen.

Trifft das die Projekte vor Ort? Oder sind die alle vorfinanziert?

Das wird sich nun entscheiden: Corona hat uns in den Projektgebieten in Uganda oder Südafrika noch einmal verdeutlicht, wie wichtig Hygiene und sauberes Wasser sind, um die Pandemie einzudämmen und um auch zukünftig die Gesundheit der Menschen und das Gesundheitssystem zu schützen. Sauberes Wasser und gute hygienische Bedingungen sind ein wirksamer Schutz – und ein Menschenrecht, dessen Umsetzung nun massiv gefährdet ist. Gerade in Südafrika steigt die Zahl der Corona-Infizierten weiterhin stark an.

Nicht nur die lokalen Gesundheitssysteme stehen vor schwierigen Aufgaben, sondern auch die Wirtschaft bricht massiv ein. Dabei wollten wir dieses Jahr unser erstes selbst implementiertes Projekt dort umsetzen und 50 Schulen mit Trinkwasser, Handwaschbecken und Hygienevorrichtungen versorgen. Dafür fehlt Geld – und wir müssen jetzt erstmals aktiv nach Spenden fragen, um unsere Lücke zu schließen. Viva con Agua wird überleben, aber die Projekte leiden zweifelsohne.

Wie viel Geld fehlt denn?

Der deutsche Verein hat im vergangenen Jahr knapp 4,8 Millionen Euro umgesetzt. 2020 wären wir schon froh, wenn es deutlich über drei Millionen werden. Bleiben wir unter drei, müssen wir an die Rücklagen ran.

Also falls ein Millionär den Text liest – es fehlen rund eineinhalb Millionen ...

(lacht) Ja, immer her damit. Aber im Ernst: Es gibt Projekte, die wir einfach machen wollen, die können wir nicht wegen einer Krise stoppen. Zur Not finanzieren wie die aus den Rücklagen.

Sie waren in Südafrika, als Corona ausbrach.

Ja, das war schon sehr speziell. Wir sind im Januar hingeflogen, um ein Team für Viva con Agua aufzubauen und haben uns dann entschieden, dort zu bleiben. Wir hatten noch einiges zu erledigen und wollten das neue Team nicht im Stich lassen, sondern miterleben, was ein Lockdown vor Ort heißt.

Und was heißt ein Lockdown in Kapstadt?

In Kapstadt dauern die alten Apartheidstrukturen fort, die ethnischen Gruppen leben immer noch klar voneinander
getrennt. Die Schwarzen und die Co­loureds, das sind die Einwohner unterschiedlicher Abstammung, leben weiter in ihren eigenen Townships. Die Weißen wohnen oft in gesicherten Vororten, den sogenannten „Käfigen“. Wenn man immer von Sicherheitskräften abgeschirmt lebt, verstärkt das das Gefühl des Lockdowns. Wenn man hingegen im Township lebt, ist sozialer Abstand kaum möglich.

Mehrere Wochen durften die Menschen ihre Wohnung nur zwischen 6 und 9 Uhr morgens verlassen. Trotzdem kämpft Südafrika jetzt mit vielen Infektionen. Mittlerweile gab es weit über ein halbe Million positive Tests. Die Sterblichkeitsrate ist wegen der jungen Bevölkerung niedrig. Aber die wirtschaftlichen Folgen sind massiv – wenn Tagelöhner nichts mehr verdienen, können sie sich nichts mehr zu essen kaufen. Corona hat die ökonomischen Ungleichheiten noch zementiert.

Die UN fürchtet, dass Corona den Hunger auf der Welt verschärfen wird ...

Davon müssen wir ausgehen. Die Wirtschaft wird sich nicht so schnell erholen. Das wurde in Südafrika deutlich: Ganze Viertel sahen aus wie Geisterstädte, Restaurants waren geschlossen, es kamen keine Touristen mehr, überall waren Schilder „For Sale“ zu sehen. Und das sind die Eindrücke aus Kapstadt, sicher noch eine der wohlhabendsten Städte in Afrika insgesamt. Da stellte sich schon die Frage, ob die Folgen von Corona am Ende heftiger sind als das Virus selbst.

Wie wirkt denn aus Südafrika der Blick auf die Bundesrepublik?

Aus der Ferne hatten wir einen guten Eindruck: Am Anfang bestand ja eine große Einigkeit, die beeindruckend war. Deutschland ist mit seiner alten Bevölkerung und einer großen Risikogruppe durchaus herausgefordert. Doch die Politik hat über Parteigrenzen hinweg einen Weg mit Augenmaß gewählt: Der Lockdown war hierzulande deutlich weniger brutal als anderswo – in Spanien waren Freunde von mir über mehrere Wochen in ihrer Einzimmerwohnung eingesperrt. In Deutschland konnte man rausgehen, die Politik hat an die Eigenverantwortung appelliert. Das war ein sehr ausgewogener und ausbalancierter Weg. Er hat den Menschen einen Rest von Freiheit gelassen.

Inzwischen ist von dieser Einigkeit nicht viel geblieben. Auch in den sozialen Netzwerken toben die Schlachten um den richtigen Umgang mit Covid-19. Sie haben sich gerade eine Facebook- und Instagram-Diät verordnet. Warum?

Der Absolutismus im Netz nervt mich zunehmend. Natürlich sind die sozialen Medien für Viva con Agua wichtig, aber für mich persönlich sehe ich die Selbstinszenierungen und deren gesellschaftliche Auswirkungen schon kritisch. Ich habe etwa Instagram spät für mich entdeckt und konnte lange gar nicht verstehen, warum die Menschen 15-Sekunden-Schnipsel ihres Lebens für alle ins Netz stellen. Und die Unbarmherzigkeit mancher Debatte schreckt mich schon.

Ein Beispiel: Ich habe zur Black-lives-matter-Debatte, die ich für absolut wichtig und notwendig halte, einen unbedachten Kommentar abgegeben und wurde von Menschen, die mir eigentlich ganz nah stehen, öffentlich diskreditiert. Das war für mich eine persönliche Enttäuschung. Bei aller gerechtfertigten Kritik, falsche Hashtags sollten uns nicht spalten. So polarisieren wir jede Debatte maximal und vertiefen die Gräben. Die Welt ist etwas komplizierter, und oft ist der Mittelweg nicht verkehrt: Viva con Agua versöhnt ja auch Soziales und Wirtschaft – wir machen ein soziales Geschäft.

Stichwort Fußball: Sie sind mehrere Jahre für den FC St. Pauli am Millerntor aufgelaufen. Da muss Ihnen das Herz bluten angesichts von Geisterspielen.

AKK: Gibt es eine zweite Corona-Welle?

Ja, da leiden wir alle drunter. Wie viele Hunderttausende Menschen bewegt der Fußball, in allen Ländern, durch alle Altersgruppen und sozialen Schichten? Es ist nicht gut, wenn die Stadien leer sind. Unter professionellen Gesichtspunkten hingegen finde ich Geisterspiele schon interessant: Der FC Bayern hat auch deshalb die Champions League gewonnen und fast perfekten Fußball gespielt, weil in einem vollen Stadion die Kommunikation arg beschränkt ist. Du musst extrem laut schreien und doch hört dich nur der Nebenmann, der Trainer erreicht nur die Spieler vor der Bank. Man hört sich sonst einfach nicht.

In einem leeren Stadion hört hingegen jeder jeden. Wenn eine Mannschaft eine gute, kollegiale und klare Kommunikation pflegt, profitiert sie von den leeren Stadien – sie bekommt ein zusätzliches Mittel für Kommandos, für motivierende Zurufe, für Abstimmungen. Thomas Müller beispielsweise ist ein Spieler, der ständig kommuniziert – das ist nun ein Vorteil. Man konnte die Kommandos und das synchrone Handeln bei Bayern geradezu sehen. Es gilt auch das Gegenteil: Wo nicht kommuniziert wird, leidet das Spiel. Bei Paris St. Germain gab es viele Sprachen, aber wenig Verständnis. Es ist wirklich spannend, was Corona mit dem Fußball macht.

Wird Corona auch den Fußball strukturell verändern?

Das hoffe ich sehr. Es ist wichtig, dass sich nicht auch noch der Fußball von den Menschen entfernt. Der Fußball wirkt wie Kitt in unserer Gesellschaft. Der FC St. Pauli, aber auch der DFB, stellen sich nun ja einer Wertedebatte, die überfällig ist. Wir brauchen substanzielle Reformen. Zumindest werden diese Punkte jetzt erstmals ernsthaft diskutiert. Bei der Uefa und vor allem bei der Fifa bin ich aber noch skeptisch. Wir stehen an einer Wegmarke, was den Fußball betrifft, aber auch gesellschaftlich – und wir sollten nicht falsch abbiegen.