Hamburg. Rückenschmerz soll durch Druck behandelbar sein. Hamburger Faszien-Expertin erklärt, was beim Training beachtet werden sollte.
Kaum aus dem Sommerurlaub zurück im Arbeitsalltag und der Rücken schmerzt wieder. Abhilfe soll ein Trainingswerkzeug schaffen: die sogenannte Faszienrolle. Immer mehr Fitnesstrainer, Heilpraktiker, Physiotherapeuten und Ärzte nutzen sie. Ob sich die Faszination um die Rolle medizinisch halten lässt, erklärt die Faszien-Expertin Dr. Sabine Bleuel im Interview.
Faszien wurden lange von der Humanmedizin verkannt und als überflüssiges Füllgewebe zwischen Knochen und Muskeln wahrgenommen. Was können Faszien denn wirklich?
Dr. Sabine Bleuel: Eine Menge! Sie dienen unter anderem als Stoßdämpfer, Schutz und halten den Körper in seiner Matrix zusammen. Das ist wie bei einer Brücke, die nicht nur aus einem Brückenbogen und Pfeilern besteht, sondern auch ineinander verspannt ist. Dieses verspannende Element hält die Teile zusammen, damit die Brücke auch wirklich hält.
Von Hängebrücken abgesehen, sind Brücken statisch, unser Körper dagegen bis zu einem gewissen Level formbar. Was passiert, wenn Faszien in der Körpermatrix verhärten und weniger elastisch sind?
Das kann zu Schmerzen führen. Durch mangelnde Bewegung staut sich Flüssigkeit an einem Punkt, das Gewebe verfilzt, wird dicker und verklebt. Dann entstehen Quervernetzungen, wo keine entstehen sollten.
Können alltägliche Schmerzen Faszienschmerzen sein?
Ja, zum Beispiel der klassische Rückenschmerz. Die Lendenfaszie am unteren Rücken ist oft chronisch verändert: Sie ist dicker und verfilzt. Das passiert, weil wir uns zu wenig bewegen, aber auch, wenn wir falschen Muskelaufbau betreiben: Bei starken verspannten Bauch- und schwachen Rückenmuskeln verfilzt die Faszie, weil sie den Rücken stützen muss. Dann tut der Rücken weh.
Wie trainieren gesunde Menschen ihre Faszien?
Entweder durch Dehnübungen an der langen Kette, also von Kopf bis Fuß wie beim Yoga und Klettern. Oder lokal durch eine Faszienrolle oder einen Ball: Wer flächig arbeiten möchte, greift zur Rolle, wer punktuell trainiert, nutzt zum Beispiel einen Tennisball für den Rücken oder einen Golfball für den Fuß. Dadurch stimuliere ich die Rezeptoren in der Faszie, rolle die angestaute Flüssigkeit und auch den Schmerz weg. Wer den Schmerz wegrollen möchte, muss aber zuerst den Druckschmerz ertragen.
Wie viel Schmerz darf sein?
So viel, dass Sie noch nicht die Stirn verziehen müssen und kurzatmig werden. Ich rate meinen Patienten, den Schmerz kontrolliert zu provozieren und sage: „Machen Sie die Übung, die sie am wenigsten mögen, denn die brauchen Sie am meisten.“ Auch wer bei der Übung einen Krampf bekommt, sollte genau dort weitermachen. Denn der Krampf ist ein Zeichen dafür, dass die Faszie verkürzt ist, der Muskel nicht richtig arbeitet und sich nicht entfalten kann.
Wie oft und wie lange muss ich die Rolle oder den Ball denn nutzen?
Am besten einmal täglich. Wer Rückenschmerzen hat, sollte gezielt auf der Faszienrolle den Rücken in eine Richtung entlangrollen – entweder im Stehen an der Wand oder im Liegen auf dem Boden. Wer gebrechlich ist, sollte die Wand vorziehen. Die Übung dauert zwei bis drei Minuten und verlängert sich mit jeder schmerzenden Stelle. Dort sollten Patienten den Schmerz 20 Sekunden lang aushalten, dabei aber ruhig atmen, denn unter Stress entspannt die Faszie nicht. Bleibt der Schmerz, kann die Übung noch zweimal wiederholt werden.
Wenn ich ohne Einweisung trainiere, kann ich mir als Laie mit den Übungen auch schaden?
Nein, nicht, wenn Sie gesund sind. Sie können Ihr System überreizen und einen sogenannten „Faszienkater“ bekommen, quasi das Pendant zum Muskelkater. Wenn Sie auf Ihr Körpergefühl hören, fügen Sie sich im schlimmsten Fall Blutergüsse zu.
Personal-Trainer, Physiotherapeuten und Orthopäden bieten Trainingsstunden bzw. Therapieeinheiten an. Wo liegen die Unterschiede in der Behandlung?
Die Methode ist ähnlich: Vom Prinzip her geht es darum, Druck aufzubauen. Die Unterschiede liegen an der Schwere der Übung. Im Fitnessstudio wird mit vollem Körpergewicht trainiert. Wer gesund ist, darf das machen. Wer aber Schmerzen hat, sollte auf die Diagnose vom Arzt warten und gegebenenfalls um eine Physiotherapie bitten.
Wer sollte kein Faszientraining betreiben?
Zum Beispiel Patienten mit Fibromyalgie oder einer anderen akuten Entzündung im Körper. Aber generell gilt: Wer vorerkrankt ist, sollte vor dem Training einen Arzt aufsuchen.
Coronabedingt sitzen viele im Homeoffice statt auf ihrem Schreibtischstuhl im Büro. Wenn ich Faszienschmerzen im Nacken oder Rücken vorbeugen möchte, was muss ich tun?
Der Bildschirm sollte auf Augenhöhe abschließen, die Ellbogen entspannt im 90-Gradwinkel auf dem Tisch liegen, die Oberschenkel im 80-Gradwinkel zum Boden abfallen und die Füße hüftbreit auftreten. Außerdem am besten alle
45 Minuten aufstehen und sich dehnen. Falls der Schmerz schon da ist, gezielt mit der Faszienrolle oder einem Ball arbeiten.
Die Faszination um die Faszienrolle wird nicht von allen Humanmedizinern geteilt. Warum?
Faszien werden im Medizinstudium fast gar nicht besprochen. Manche belächeln das Thema, weil das Fachgebiet um die Faszien noch jung ist und die Studien nicht evidenzbasiert durchgeführt worden sind. Das gilt aber auch für andere medizinische Bereiche. Im Gegensatz zur Faszientherapie zahlt die Krankenkasse solche Behandlungen aber trotzdem. Außerdem ist die Faszientherapie zeitaufwendig, da reichen keine zehn Minuten für eine Behandlung während der Sprechstunde.
- Dr. Sabine Bleuel (47) arbeitet als leitende Ärztin an der ATOS Klinik Fleetinsel und als niedergelassene Orthopädin und Unfallchirurgin in einer Gemeinschaftspraxis in Blankenese.
- Als international zertifizierte Faszienexpertin bildet sie Ärzte und Physiotherapeuten aus.
- Die von Bleuel praktizierte Faszientherapie wurde in den 1990er- Jahren vom Osteopathen Stephen Typaldos entwickelt.