Hamburg. Noch heute sorgen Ideen von gestern für Erstaunen. Teil 5: Eine Kette von 16 Atomkraftwerken an der Unterelbe.
Beginnen wir mit einem kleinen Quiz. Welche Partei schrieb folgende Sätze in ihr Programm? „Die kontrollierte Kernspaltung und die auf diesem Wege zu gewinnende Kernenergie leiten den Beginn eines neuen Zeitalters für die Menschheit ein ...“ Und mit einer Prise Theatralik formulierten die Parteistrategen: „Die Atomenergie kann zu einem Segen für Hunderte von Millionen Menschen werden, die noch im Schatten leben. Deutschland muss in der Hilfe für diese Völker mitwirken, aber auch die Lebensmöglichkeiten des eigenen Volkes verbessern.“
Es war die SPD, die 1956 an eine strahlende Zukunft glaubte. Es war das Zeitalter des Wirtschaftswunders, des Wachstumsglaubens und der Begeisterung für neue Technologien. Atomkraft, die große Macht aus dem kleinsten Teil, klang nach Verheißung – nicht nur um den blauen Himmel über der Ruhr einst zu erreichen, sondern auch um die schwierigen Arbeits- und Lebensbedingungen der Kohlekumpel an Rhein und Ruhr zu verbessern.
Das Wirtschaftswunder benötigte Arbeitskräfte und billige Energie zugleich – die Kernkraft war ein doppeltes Versprechen. Das galt im Allgemeinen für die Sozialdemokratie und im Besonderen für die Hamburger SPD: Sie baute die Stadt zu einem Industriestandort aus und wollte Stahlwerke und Aluminiumhütten, Chemiebetriebe und Kupfererzeuger mit billigem Strom versorgen.
Regierung wollte 40 bis 50 AKW im Land verteilen
Damit nicht genug: Regionalpolitiker träumten bald von einem „Ruhrgebiet des Nordens an der Unterelbe, sie wollten das Marschland im „Wohlstands-Abseits der Republik“ (Der Spiegel) verwandeln: mit einem Tiefwasserhafen auf Neuwerk, mit großen Industriegebieten und einem Band von bis zu 16 Kernkraftwerken am Fluss. Es waren große Visionen: „Die Stromlandschaft, die sich über gut hundert Kilometer erstreckt, könnte, was die schiere Zusammenballung von Energie, Technik und Verkehr angeht, sogar das Ruhrrevier in zehn, zwanzig Jahren übertreffen, so alles realisiert wird, was auf dem Papier steht“, schrieb der „Spiegel“ 1974.
Erste Schritte waren gemacht: Im Dezember 1967 begann die Norddeutsche Kraftwerke AG in Stade mit dem Bau eines Druckwasserreaktors, der 1972 in Betrieb ging. Zu dieser Zeit bauten Preussen-Elektra und HEW schon an zwei weiteren Kernkraftwerken – das eine in Brunsbüttel, das den Betrieb 1977 aufnahm, das andere in Krümmel, ab 1984 am Netz. Die Planungen für Brokdorf liefen. Und das sollte erst der Anfang sein – bis 1980 wollte die sozialliberale Bundesregierung Anfang der Siebzigerjahre 40 bis 50 Kernkraftwerke im Land verteilen, ergänzt um Schnelle Brüter und Wiederaufbereitungsanlagen, geplant etwa in Gorleben im Wendland.
Mehrere Atomkraftwerke waren im Norden angedacht. Nach den Ideen der Planer bot die Unterelbe Platz für 40, zwölf waren neben den in Bau befindlichen schon konkreter in den Blick genommen: Vier Meiler sollten an der Oberelbe in Langendorf sowie Landsatz (Wendland), in Alt Garge bei Bleckede und Laßrönne gegenüber von Neuengamme entstehen. Weitere acht kamen an der Niederelbe hinzu und der Hansestadt nahe wie die geplanten Kraftwerke in Jork/Lühe oder Hetlingen in der Haseldorfer Marsch. Mit Stade, Glückstadt, einem weiteren Meiler in Brunsbüttel, Marne, Cuxhaven und Neuwerk hätten sich Kernkraftwerke wie Perlen an einer Kette um den Fluss gelegt.
In Brokdorf kam 1973 alles anders
Warum Dörfer statt Metropolen erste Wahl waren, verriet der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Hans Leussink 1970: „Um auch dieses Restrisiko so weit wie möglich zu vermindern, hat man bisher auch bewährte Reaktoren weltweit nicht in unmittelbarer Stadtnähe errichtet, offensichtlich aus Sorge, dass an einem solchen Standort wirkungsvolle Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung in der Nahzone wegen der großen Bevölkerungszahl nicht rechtzeitig durchführbar sind“, sagte der Vorgänger von Klaus von Dohnanyi.
Vielleicht dachte man auch, auf dem Lande ließen sich derlei Großprojekte leichter durchdrücken. Doch in Brokdorf kam 1973 alles anders. Wie zur selben Zeit im badischen Wyhl opponierten die Menschen. Zwar begrüßten manche in der lokalen Politik der Wilstermarsch zunächst die Idee – vom Zukunftsbau am Elbstrand erhoffte man sich Arbeitsplätze, üppig sprudelnde Steuereinnahmen und eine verbesserte Infrastruktur. Doch in dem Bauerndorf überwog die Skepsis: Viele sprachen sich gegen den Bau aus und gründeten die Bürgerinitiative Umweltschutz Unterelbe (BUU).
Fürchteten sie anfänglich, ihr Dorf werde zu einem Industriegebiet verkommen, setzen sie sich bald intensiver mit der Materie auseinander, kontaktierten Wissenschaftler und befassten sich mit den Risiken der Kernspaltung. Sie mobilisierten, informierten, sammelten Unterschriften. Die Flugblätter der Initiative zeigen die Bodenständigkeit der Atomkraftgegner. Da wurde mit dem Märchen vom „Von dem Fischer un syner Frau“ umgedichtet: „As de Minschen dat seggen, wulln se sik wehren, versteken, weglopen, awer da wer dat to lat.“ Sogar ein Theaterstück bringen die Bürger auf die Bühne: Ein selbstverfasstes Kraftwerk-Drama mit dem Titel „Sein oder Nichtsein.“
Die Technik machte Angst
Im November 1974 endete in Wilster ein viertägiger Anhörungstermin im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren für das geplante Atomkraftwerk im Eklat. Bis zu 400 Anwohner verfolgten in der Gaststätte Colosseum die Schlacht der Sachverständigen. Während draußen Landwirte protestierten, debattierten drinnen die Experten. Behördenmitarbeiter wiegelten ab, Experten der Gegner zeichneten Schreckensszenarien: Eine Bremer Wissenschaftlerin betrachte es als erwiesen, dass selbst geringste Strahlendosen zu schweren Schäden führen, Dosen, wie sie jedes Atomkraftwerk beim Betrieb in Wasser und Atmosphäre abgibt.
Auch der „Spiegel“, dessen Redaktion nur 60 Kilometer südöstlich von Brokdorf saß, nahm sich der Sache an und berichtete mehrfach – und durchaus parteiisch. „Nicht nur das Schreckensbild vom ,durchgehenden‘ Atomofen, dessen tödliche Schmelze ganze Landstriche verstrahlt, oder die Vision eines im Nebel der aufgeheizten Elbe vor Brokdorf kollidierenden und explodierenden Gastankers haben bei Bewohnern der Wilster Marsch Ängste und Proteste freigesetzt.
Die hinter den Deichen lebenden Marschmenschen fürchten auch das Strahlenrisiko, das mit jeder neuen Kernanlage und mit jedem Transport radioaktiven Materials steigt“, heißt es da. Die Technik machte Angst: Bei der Planung des Kernkraftwerks in Brunsbüttel kurz zuvor hatte es sieben Einwendungen gegeben – in Brokdorf waren es bis 1976 mehr als zwanzigtausend.
Werbeagentur trommelte für Nutzung der Kernenergie
Am 26. Oktober 1976 wurde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion der Bauplatz besetzt – allerdings vom Bauherrn. Das Abendblatt, nicht eben atomkritisch, schrieb damals: „Das 30 Hektar große Areal ... ist mit Stacheldrahtrollen umzäunt worden. Nur wenige Meter hinter dem idyllischen Deich in der Wilstermarsch, der an den Wochenenden Hunderte zum Spaziergang bei Wind und Sonne einlädt, herrscht Belagerungszustand. Polizeibeamte und der Werkschutz der Kraftwerkbauer patrouillierten mit Schäferhunden. Schlagstöcke, Schutzhelme und -schilde der Ordnungshüter demonstrieren staatliche Macht.“
Innerhalb kürzester Zeit eskalierte die Lage, kommunistische und extremistische Gruppen sprangen auf den Zug auf. Zugleich verspielten Politik und Polizei durch Überreaktionen viele Sympathien und befeuerten den Widerstand. Was war das für eine Technik, was für ein Staat, der Atomkraftwerke gegen Zehntausende durchsetzen will? „Das hier mutet an wie eine Bürgerkriegsaktion“, protestiert der Hamburger Physiker Dr. Fritz Storim.
Die Serienteile:
- Teil 1 Autobahn auf dem Isebekkanal
- Teil 2 Schwebebahn durch Hamburg
- Teil 3 Wasserfluglinie nach Dresden
- Teil 4 Die verhinderten Sprünge über die Elbe
- Teil 5 Ein Band von Atomkraftwerken
Geradezu ungelenk versuchten die Betreiber Mehrheiten zu organisieren: So gründete sich mit dem „Bundesarbeitskreis Vernunft nach vorn“ eine Bürgerinitiative für Atomkraft. Ihre Botschaft: „Panikmache gehört zum teuflischen Rezept der Extremisten“, die jede Gelegenheit nutzten, „um ihre zerstörerischen Ziele zu erreichen“. Das sollte wohl nicht zufällig an die RAF erinnern, die damals mit ihrem Terror Deutschland in Atem hielt. Verantwortlich dafür war, wie der „Spiegel“ 1976 süffisant schrieb, eine Hamburger Werbeagentur und ein Frankfurter Rechtsanwalt.
Also verlegten sich die Kraftwerksplaner auf Sympathiekampagnen und verschenkten Blumentöpfe mit der Losung „Strom für die Waterkant“ oder Eis für die Kinder: „Das gab es noch nie: Eis ohne Energie“. Die Bemühungen aber verfingen kaum – immer mehr Menschen stellten sich den Planungen entgegen. Auch mit Gewalt. Wirksamer war der Lockruf des Geldes – sprudelnde Gewerbesteuereinnahmen und der Wohlstand anderer AKW-Standorte ließ manchen Einheimischen die Seite wechseln. Dafür wuchs eine neue Jugendbewegung heran.
Im Norden entstanden überall Anti-AKW-Gruppen
Überall in Norddeutschland entstanden Anti-AKW-Gruppen. Ende der Siebzigerjahre stieß Karsten Hinrichsen dazu – über eine Infoveranstaltung der Evangelischen Studentengemeinde in der Hansestadt. „Allein in Hamburg gab es sicher 30 Stadtteil-Bürgerinitiativen gegen Brokdorf“, erinnert sich Hinrichsen. „Brokdorf hat uns politisiert - das war unser Thema.“ Sachbücher von Holger Strohm („Friedlich in die Katastrophe“) oder Robert Jungk („Der Atomstaat“) prägen eine ganze Generation – auch Hinrichsen. Der Student und spätere Mitarbeiter des meteorologischen Instituts arbeitet sich in die Materie ein, forscht zur Ausbreitung von radioaktiven Stoffen. 1984 zieht er nach Brokdorf. „Damals zogen viele Akademiker aus der Stadt aufs Land – und die Anti-Akw-Bewegung war eine tolle Gemeinschaft.“
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Doch schon zuvor war das Klima rauer geworden. Demos wurden zu Schlachten, in denen beide Seiten ihre Verletzten zählen müssen. Mit Holzpontons, Leitern und Enterhaken versuchten Protestler Wassergraben, Stacheldraht und ein in den Boden zementiertes Sperrgitter zu überwinden. Die Polizei setzte Wasserwerfer, Tränengasbomben und die „chemische Keule“ ein. Gewalttätige Demonstranten hatten Molotowcocktails, Steine und Katapulte mit Stahlkrampen als Waffen. Sie sind eine Minderheit in dem anschwellenden Protest. Unter die Demonstranten in Brokdorf mischte sich schon im November 1976 auch der schleswig-holsteinische SPD-Landesvorsitzende Günther Jansen.
Er stellte später Strafantrag und Strafanzeige wegen Körperverletzung gegen den Innenminister, die Einsatzleitung der Polizei und eine Hubschrauberbesatzung. Der CDU-Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg hingegen kritisierte die „schweren Ausschreitungen anarchistischer und kommunistischer Gruppen“ scharf. Und mittendrin die „honorigen Männer“ (Abendblatt) der „Bürgerinitiative Umweltschutz Unterelbe“ – sie grenzten sich von der Gewalt ab und brachen mit den Chaoten. Denn auch in der Politik wuchsen die Zweifel, ob der hohe Preis für die Durchsetzung der Kernkraftwerke noch angemessen war. Auf Drängen der Basis musste sich ein außerordentlicher Landesparteitag der SPD in Hamburg am 25. Februar 1977 mit Brokdorf und der Kernenergie befassen. Die FDP war schon einen Schritt weiter – sie hatte sich für einen Baustopp in Brokdorf ausgesprochen. Der kam dann wirklich – 1977 vom Oberverwaltungsgericht Lüneburg verfügt.
SPD versprach 1979 den Ausstieg aus der Kernenergie
In Schleswig-Holstein ging die SPD klar auf Distanz zu Bundeskanzler Helmut Schmidt und versprach im Landtagswahlkampf 1979 den Ausstieg aus der Kernenergie – nur Wochen zuvor hatte die Kernschmelze im US-Atomkraftwerk Harrisburg die Debatte weiter angeheizt.
Die SPD verpasste mit einem Rekordergebnis nur knapp den Regierungswechsel. In Brokdorf und vor Gericht gingen die Kämpfe weiter. Im Februar 1981 hebt das OVG Lüneburg den Baustopp auf. Die Großdemonstration am 28. Februar 1981 mit mehr als 100.000 Bürgern gegen 10.000 Polizisten, mit massiven Scharmützeln und Dutzenden Verletzten wird zum Fanal.
„Aus meiner Sicht war das Krieg“, erinnert sich Hinrichsen. „Das war für mich ein Schock – ich war damals „Welt“-Leser, politisch konservativ. Und ich sah, wie der Staat bei den Demos agierte und welche Klimmzüge er vor Gericht machte, um Fakten zu verdrehen.“ Hinrichsen war Prozessbeistand von Gemeinden und Bewohnern der Wilstermarsch und hat selbst 13 Jahre lang gegen die Betriebserlaubnis für das AKW Brokdorf geklagt. Man kämpft am Ende vergeblich – im Oktober 1986 geht Brokdorf in Betrieb.
Nach 1982 ging kein Reaktor mehr in Bau
Die Heftigkeit der Auseinandersetzungen zeigt die Emotion, die Brokdorf weckte. Auch in der Hamburger SPD. Bürgermeister Hans-Ulrich Klose und viele Parteimitglieder gingen immer stärker auf Distanz zur Kernenergie, mächtige Genossen hingegen machten sich für den Weiterbau stark, auch ermuntert durch Helmut Schmidt. Wie die Gewerkschaften fürchteten sie um die Versorgungssicherheit und Jobs.
Zudem hätte ein Ausstieg aus dem Kraftwerk die stadteigene HEW massiv getroffen. Im Mai 1981 warf Klose hin, weichgekocht von den innerparteilichen Grabenkämpfen. Die Proteste aber waren nicht so vergeblich, wie sie schienen – nach 1982 ging kein Reaktor mehr in Bau, die Planungen einer Kette von Kernkraftwerken war längst verworfen.
Mit dem Gang in die Opposition 1982 verabschiedete sich die SPD auch von der Atomenergie – zusätzlich beschleunigt durch den Super-GAU 1986 in Tschernobyl. Der Atomausstieg 2001 wurde ein Meilenstein der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder. Ende kommenden Jahres wird die Kernspaltung in Brokdorf Geschichte sein – so wie längst schon in Stade, Krümmel oder Brunsbüttel. Hinrichsen sieht darin einen späten Triumph der Anti-AKW-Bewegung. Er sagt aber auch: „Der Rückbau ist gut, er muss aber sicher sein und ohne Strahlenbelastung. Der Kampf ist noch nicht zu Ende.“