Hamburg. Rund 3000 niederländische Freiwillige kamen zwischen 1941 und 1945 nach Langenhorn – viele überlebten den Faschismus nicht.
Den Haag, d. 12. Juni 1941. Liebe Mutti. Anstelle eines Universitätsausfluges war es der Aufruf der Waffen-SS, nach Den Haag abzureisen. Wenn Du diesen Brief erhältst, bin ich bereits in Deutschland. Ich hätte Dir dies lieber alles erspart. Du wirst Vorteile dadurch haben, dass dein Sohn bei der SS ist. Ich vermute aber, dass Du es mir nie vergeben und keinen Wert auf einen weiteren Briefwechsel legen wirst.“
Diese Worte schrieb der Niederländer Willem K. an seine Mutter, nachdem er sich für die Waffen-SS gemeldet hatte und er mit einem Zug voller Niederländer nach Langenhorn reiste. Willem studierte an der Universität von Amsterdam, war vom Nationalsozialismus begeistert und hatte das Gefühl, etwas Großem anzugehören, als er sich mit 18 Jahren freiwillig meldete. Seine Kriegserinnerungen seit dieser Fahrt behielt er fast 75 Jahre für sich, aus Scham, der SS angehört zu haben.
Langenhorn: 3000 Niederländer wurden zu SS-Soldaten ausgebildet
Bis heute ist vielen unbekannt, dass zwischen Januar 1941 und Mai 1945 etwa 3000 Niederländer in Langenhorn zu SS-Soldaten ausgebildet wurden. Sie gehörten den Waffen-SS-Verbänden Germania, Westland und Nordwest an. Viele dieser Soldaten kamen zur sogenannten Wehrgeologen-Einheit, andere zu einer Einheit, die sich „Zur besonderen Verwendung“ nannte. Im April 1945 kamen als „letztes Aufgebot“ sogar 15-jährige Niederländer nach Langenhorn.
Wer der Verkehrsader Tangstedter Landstraße entlangfährt, dem wird das Krankenhaus nicht entgehen. Es ist eine ehemalige SS-Kaserne, in der heute die Asklepios Klinik Nord Heidberg ansässig ist. Zur Straßenseite sind die großen Wände des damaligen Kasernengebäudes schneeweiß gestrichen.
Das aus großen Steinblöcken geformte graue Eingangstor wirkt auch heute noch eindrucksvoll. Unter dem Torbogen an der Wand findet man eine Erinnerungstafel. Sie berichtet von der Errichtung des Komplexes in den Jahren 1937–38, der für die SS-Standarte Germania bestimmt war. Wo heute in der Asklepios Klinik Menschen geheilt werden, wurden damals in der SS-Kaserne Menschen zu „Tötungsperfektionisten“ ausgebildet.
40-Kilometer-Märsche mit Gasmasken durch Hamburg
Der aus Helmond stammende Anton W. war bereit, über seine SS-Zeit zu sprechen. In einem Interview sagte er Folgendes: „Frühmorgens um 6 Uhr wurden wir aus den Betten gejagt, und es gab endlosen Frühsport. Erst Abends um 22 Uhr, als wir fix und fertig waren, war der Dienst vorbei.
Als Rekruten wurden wir von unseren Ausbildern nie angefasst und immer mit „Sie“ angeredet. 40-Kilometer-Märsche mit Gasmasken, Gewehr und Rucksack mit drei Backsteinen gehörten zum Alltag. Wem die Disziplin fehlte, dem erschien der „Heilige Geist“, und er wurde von den Kameraden nachts verprügelt.”
„Während wir durch Hamburg marschierten, schrien unsere Ausbilder immer ,Sarie Marijs‘. Dies ist ein altes Lied aus Südafrika, wo bereits jahrhundertelang niederländische Siedler wohnen. Da den Deutschen das Lied gefiel und man auf das Lied gut marschieren konnte, wurde es immer häufig angestimmt“, so Anton W. weiter.
Bei minus 50 Grad "ballerte er auf russische Angriffswellen los"
Ein Jahr später war er mit gerade 20 Jahren bereits ein abgehärtetes „Frontschwein“. Bei minus 50 Grad“ ballerte er auf die russischen Angriffswellen los“; mit einer Panzerabwehrkanone schoss er mehrere russische Panzer ab und erschlug mit seinem Pionierspaten einen Russen, der im Graben plötzlich vor ihm auftauchte.
Zwischen Januar und März 1941 kamen etwa 1000 Niederländer zur Ausbildung nach Hamburg, welche unter der Aufsicht des SS-Regiments Germania vollzogen wurde. Der Amsterdamer Cornelis M., der sich seit März 1941 in Langenhorn aufhielt, schildert, wie einer der niederländischen Kameraden einen Fluchtversuch unternahm.
"Dann wurde er tatsächlich vor unseren Augen erschossen"
Der Junge wurde von einer SS-Streife im Hafengebiet aufgegriffen und zurück in die Kaserne gebracht: „Dann mussten wir uns an einer Grube aufstellen, wo er an einem Pfahl gefesselt stand. Man sagte, dass er Fahnenflucht begangen habe – er wollte mit einem Schiff aus Hamburg fliehen, und deswegen war er zum Tode verurteilt. Dann wurde er tatsächlich vor unseren Augen erschossen. Als wir diesen elendigen Moment hinter uns hatten, mussten wir an ihm vorbei und bekamen den Befehl, ihn uns anzuschauen. Zurück in der Kaserne, fiel kein einziges Wort. Alle waren völlig schockiert von dem, was soeben passiert war.“
SS-Oberführer in Langenhorn war unbeliebt
Als die SS-Ergänzungsstelle Den Haag im Mai 1940 öffnete, meldeten sich mehr als 3000 Niederländer für die Waffen-SS – es wurde jedoch nur die Hälfte angenommen. Viele der Niederländer entsprachen während der strengen Musterung nicht den damals extremen körperlichen Tauglichkeitserwartungen.
Dass dadurch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft waren, war für Himmler Grund, am 10. April 1941 die SS-Standarte Nordwest zu gründen. Damit war das Schicksal dieser Niederländer besiegelt, von denen mehr als 1400 sogenannter Beutegermanen ab Mitte April 1941 für ein halbes Jahr in der Hansestadt wohnten. Nachdem sie die Grundausbildung abgeschlossen hatten, erhielten sie gelegentlich Ausgang, um Hamburg zu erkunden. Schon damals war die Reeperbahn ein beliebter Ausflugsort.
Der SS-Oberführer der Standarte Nordwest in Langenhorn hieß Otto Reich. Bereits von Anfang an war er bei den Niederländern unbeliebt, obwohl sein Spitzname „Papa Reich“ lautete. Reich galt als engstirnig, war ein Haudegen, und es fehlte ihm jegliches Fingerspitzengefühl für die ungewohnt lockere niederländische Mentalität. Er gab offen von sich, dass er es für eine unglückliche Aufgabe hielt, aus diesen Auszubildenden tüchtige SS-Männer zu machen.
Niederländer bewiesen sich als zähe Frontsoldaten
Als am 22. Juni 1941 das Deutsche Reich die Sowjetunion überfiel, wurde die Freiwilligenlegion Niederlande gegründet, der die Nordwestler unter großem Protest angeschlossen wurden. Bald kam es deswegen sogar zu einem Aufstand: Es wurde noch schlimmer, als Standartenführer Reich während des ersten Einsatzes an der Ostfront im Januar 1942 aus reiner Sturheit immer wieder Niederländer an russischen Stellungen opferte.
Als es nach vier Wochen schon 87 Tote und 130 Verwundete zu verzeichnen gab, wurde Reich seines Amtes enthoben. Die Niederländer, die als schlampige Kasernensoldaten galten, bewiesen sich in den nächsten Jahren als zähe Frontsoldaten. Sie kämpften von dem Kaukasus und Leningrad zurück bis nach Berlin und gehörten vielen verschiedenen Waffen-SS-Verbänden an der Front an. Auffällig ist, dass Gerardus Mooyman, Derk Bruins, Caspar Sporck und Hans Havik, die einzigen Niederländer, die mit dem damals so begehrten Ritterkreuz ausgezeichnet wurden, 1941 bei der Hamburger Standarte Nordwest ausgebildet worden waren.
Einige wurden später zu Kriegsverbrechern
Viele Tausende der in Hamburg ausgebildeten niederländischen SS-Freiwilligen blieben einfache Frontsoldaten. Andere wurden während des Krieges zu Tätern, entweder an der Front oder nach der Heimkehr in den Niederlanden. SS-Offizier Andries Pieters führte beispielsweise am Kriegsende sein privates Verhör-, Folter- und Mordkommando in Brummen und Loosdrecht (NLD). SS-Unterscharführer Siert Bruins gelang es in den letzten Kriegstagen, nach Deutschland zu entkommen, er war der ältere Bruder des vorgenannten Ritterkreuzträgers Derk.
Nach zwei Jahren Einsatz an der Ostfront kam Siert 1943 zum Sicherheitsdienst (SD) und führte in den Niederlanden verschiedene Exekutionen durch. Bis 1978 lebte er unbehelligt unter dem Decknamen Siegfried Bruns im Ruhrgebiet, bis er von Simon Wiesenthal aufgespürt wurde. 1980 wurde er vom Haager Gerichtshof zu fünf Jahren Haft verurteilt, weil er am 25. April 1945 zwei jüdische Brüder hingerichtet hatte. Bis heute bleibt unbekannt, wo sich die Gräber befinden. 2013 kam Bruins erneut vor das Gericht – er hatte den Widerstandskämpfer Aldert Dijkema am 22. September 1944 ermordet.
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Die freiwilligen SS-Soldaten sind ein Tabuthema
Viele Niederländer entkamen sogar nach dem offiziellen Ende ihrer Dienstzeit nicht dem Griff der SS. Im März 1941, zur gleichen Zeit wie Bruins, kamen die Brüder Sander und Johannes Borgers nach Hamburg. Nachdem Johannes im November 1941 an der Front fiel, wurde auch Sander schwer verwundet und war dadurch kriegsunfähig. Zurück in den Niederlanden, wollte Borgers aus der SS austreten, wurde aber gezwungen, sich dem Sonderkommando Feldmeyer anzuschließen. Dies war ein Mordkommando, das in den Niederlanden unter dem Decknamen „Silbertanne“ operierte und vermeintliche Widerstandskämpfer erschoss. Borgers führte wenigstens zwei solcher Aktionen durch.
1951 wurde Borgers aufgrund zwei dieser Morde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Zusammen mit sieben anderen Verurteilten gelang ihm Weihnachten 1952 die Flucht aus dem Gefängnis in Breda nach Deutschland, wo diese durch einen Führererlass aus dem Jahr 1943 die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen konnten. Eine Anfrage auf Auslieferung seitens der Niederlande wurde durch die Bundesrepublik Deutschland abgelehnt, wodurch sich die Kriegsverbrecher in Deutschland absetzen konnten.
Obwohl die meisten europäischen SS-Freiwilligen Niederländer waren, war dieses Thema nach dem Krieg in den Niederlanden tabu, weswegen es kaum aufgearbeitet wurde. Bis heute ist vieles ungeklärt geblieben, doch jetzt, da es mehr Zugang zu Akten und Archiven gibt, werden immer mehr Fakten bekannt, und es gelingt allmählich, Licht ins Dunkel der Geschichte zu bringen.