Hamburg. Melanie Leonhard (SPD) über Partys in der Schanze, das Leiden der Kinder in der Pandemie und die Vor- und Nachteile von Homeoffice.
Mitten in der Corona-Pandemie hat Sozialsenatorin und SPD-Chefin Melanie Leonhard auch die Verantwortung für die Gesundheitspolitik übernommen. Im Interview spricht die promovierte Historikerin und Mutter eines fünfjährigen Sohnes über Maßnahmen gegen den aktuellen Wiederanstieg der Corona-Infektionen, die neue Stärke der Hamburger SPD und ihre persönlichen Entspannungstechniken.
Hamburger Abendblatt: Frau Senatorin, die Corona-Infektionszahlen sind zuletzt so stark gestiegen wie seit Mitte Mai nicht. Wie erklärt sich das?
Melanie Leonhard: Eine wesentliche Ursache ist die Zahl der Urlaubsrückkehrer, die sich im Urlaub infiziert haben. Außerdem haben wir Fälle in Pflegeheimen und in einer öffentlichen Wohnunterkunft.
Welche Länder sind bei den Rückkehrern besonders betroffen?
Leonhard: Nach unseren ersten Beobachtungen sind die Türkei, Serbien, Kroatien und Mazedonien, also die Balkan-Region, stärker betroffen.
Muss man jetzt alle diese Länder zu Risikogebieten erklären?
Leonhard: Nach dem, was ich jeden Morgen hier sehe, müssen wir bei gleichbleibenden Zahlen in den kommenden Tagen darüber diskutieren, alle Balkan-Staaten zum Risikogebiet zu erklären.
Müssen auch wir mit der oft bemühten „zweiten Welle“ rechnen, mit der Staaten wie Israel bereits kämpfen?
Leonhard: Wir tun viel dafür, dass es die zweite Welle nicht gibt, sind aber schon auf die Unterstützung der Hamburgerinnen und Hamburger angewiesen, insbesondere auf die Reiserückkehrer, die die 14-tägige Quarantäne ernst nehmen müssen. Das haben wir nicht ohne Grund angeordnet.
Wäre es nicht sinnvoll, alle Urlaubsrückkehrer gingen für zwei Wochen in Quarantäne oder würden getestet, zum Beispiel gleich am Flughafen?
Leonhard: Das wollen wir gerne machen. Man muss aber wissen, dass eine Person infiziert sein kann, auch wenn der Test direkt nach der Einreise negativ ausfällt. Sicher kann man erst nach vier, fünf Tagen sein. Trotzdem werden wir das machen, auch über das Ende der Sommerferien hinaus. Viele Hamburger sind ja nicht auf die Ferien angewiesen, um zu verreisen.
Was will Ihre Behörde tun, um einen weiteren Anstieg auch nach Ende der Ferien und zu Beginn des Herbstes zu vermeiden?
Leonhard: Wir werden streng die Einhaltung der Maskenpflicht und der Quarantäne überwachen. Wir werden an den Abstandsgeboten festhalten müssen, weil sich herausgestellt hat, dass das das wirksamste Mittel ist. Weitere Lockerungen müssten wir verschieben, wenn deutlich mehr Fälle auftreten.
Es gab viele kritische Berichte über ausgelassene Partys am Ballermann auf Mallorca, bei denen es an jeglicher Vorsicht gemangelt haben soll. Zugleich aber haben wir mitten in Hamburg, in der Schanze und auf dem Kiez Situationen, wo Menschen in großer Zahl eng zusammenstehen. Das wird bislang geduldet. Wie ist das zu rechtfertigen?
Leonhard: Diese Sorglosigkeit ist nicht gut. Die Menschen nehmen in Kauf, nicht nur sich, sondern auch andere zu gefährden. Das ist unsolidarisch. Es gibt Menschen, die wegen der Auflagen vor den Trümmern ihrer Existenz stehen, und es gibt andere Menschen, die diese Auflagen nicht ernst nehmen. Deswegen sind wir mit den Bezirken im Gespräch, gegebenenfalls wieder stärkere Restriktionen einzuführen. Das heißt zum Beispiel, Alkoholverkaufsverbote durchzusetzen – entweder im Einzelfall oder per Allgemeinverfügung für ganze Straßenzüge.
Dieses Wochenende soll es aber bei der milderen Variante der Prüfung vor Ort bleiben.
Leonhard: Die Einzelanweisung ist im Zweifelsfall auch sehr streng. Ein Alkoholverkaufsverbot trifft den jeweiligen Kioskbesitzer sehr hart. Wir haben für dieses Wochenende eine höhere Kontrolldichte im Schanzenviertel und auf dem Kiez vereinbart. Es muss jedem klar sein, es ist nicht nur nicht gewünscht, es ist auch nicht erlaubt und nicht gut für die gesamte Stadt. Ich glaube, unsere Botschaft ist schon angekommen. Uns erreichen viele Anfragen von besorgten Gewerbetreibenden, die sich vor dem generellen Verkaufsverbot fürchten und sich für dieses Wochenende eine andere Geschäftspraxis überlegen.
Das Infektionsgeschehen ist wieder dynamisch …
Leonhard: Ja, aber wir haben keine galoppierende Entwicklung. Am Freitag haben wir 16 Neuinfizierte bei täglich mehreren Tausend Testungen verzeichnet. Aber die Lage ist so, dass ich sage: Vorsicht an der Bahnsteigkante.
Lässt sich diese Vorsicht mit der Wiederöffnung von Kitas und Schulen vereinbaren? In Israel hat man erlebt, dass auch Schulen zu Hotspots werden können.
Leonhard: Die Schulbehörde hat alle Eltern bereits zu Ferienbeginn streng darauf hingewiesen, dass die zweiwöchige Quarantänepflicht gilt, wenn man in ein Risikoland verreist war. Für die Kindergesundheit ist es jedoch unheimlich wichtig, dass wir wieder zu einem geregelteren Betrieb zurückkommen – für Kita wie Schule. Die Kosten im übertragenen Sinn für die Kinder sind durch den Lockdown extrem hoch. Vor allem für die Grundschule ist es wichtig, dass die Kinder wieder einen regelmäßigen Rhythmus bekommen.
Wann wird die Entscheidung letztlich fallen, ob die Schulen, wie geplant, in vollem Umfang oder doch mit Einschränkungen für einzelne Jahrgänge geöffnet werden?
Leonhard: In den nächsten zwei Wochen, abhängig von der weiteren Entwicklung.
Können derzeit in Hamburg noch alle Infektionsketten exakt nachvollzogen werden?
Leonhard: Wir gehen jedem einzelnen Fall nach und tragen jeden Morgen zusammen, ob und welche Zusammenhänge bestehen.
Immer wieder fragen uns Leser, wo genau sich die Menschen angesteckt haben. Wäre es nicht sinnvoll, das offen zu sagen, um Menschen zu warnen, Orte zu meiden?
Leonhard: Zum einen gibt es Fälle, bei denen es die Menschen nicht wissen. Zum anderen gibt es Fälle, in denen sie es manchmal nicht sagen wollen. Manchmal stellt sich erst später heraus, dass es zum Beispiel doch eine Party gegeben haben muss, weil fünf infiziert sind, die sich alle kannten. Das schlechte Gewissen kommt dann bei einem positiven Ergebnis.
Wie bewerten Sie das Verhalten der Hamburger in der Pandemie?
Leonhard: Ich finde, dass wir bisher eine sehr disziplinierte Stadt waren alle miteinander. Es gab ein großes Verständnis für die Maßnahmen und eine große Bereitschaft, sich selber einzuschränken zugunsten von anderen.
Die Pandemie trifft neben der Wirtschaft vor allem Kinder aus ärmeren Verhältnissen. Wie kann die Politik da gegensteuern?
Leonhard: Zunächst einmal ist es wichtig anzuerkennen, dass diese Pandemie sich sehr stark auf Kinder ausgewirkt hat. Das passiert noch viel zu wenig. Das Zweite ist: Wir machen zusätzliche Angebote, wie etwa die Lernferien. Es muss vieles für die Kinder nach- und aufgeholt werden. Auch leistungsstärkere Schüler haben gelitten, manche kamen mit der Situation, alleine ohne die Gruppe lernen zu müssen, nicht zurecht. Wir sind als Menschen tatsächlich nicht dafür geschaffen, alleine zu Hause zu sein.
Rechnen Sie mit einer Verschärfung der Kinderarmut durch die Pandemie?
Leonhard: Ich glaube, da werden wir zu einer Stabilisierung auf einem etwas höheren Niveau kommen. Sorgen muss einem die Arbeitsmarktlage ja insgesamt bereiten. Viele Menschen sind in Kurzarbeit, viele haben ihre Arbeit verloren - und wir rechnen leider damit, dass das noch mehr Menschen betreffen wird. Da kann es sein, dass auch die Zahl der Kinder steigt, die auf Hilfe angewiesen sind.
Was halten Sie von der Idee, das in Not geratenen Krankenhaus Groß Sand mithilfe niedergelassener Ärzte in ein medizinisches Versorgungszentrum umzuwandeln?
Leonhard: Es ist gut, dass das Bistum sich überlegt, welche Ideen es gibt, dort die Versorgung zu erhalten. Wir sind seit Langem im Gespräch. Es gibt mehrere denkbare Varianten. Zunächst muss das Bistum klarstellen, was es möchte. Danach werden wir gemeinsam klären, was die beste Lösung sein kann. Wir als Behörde sind sehr, sehr interessiert daran, dass dort eine Versorgung erhalten bleibt.
Sie gelten als souveräne und eiserne Verhandlerin und beliebte SPD-Parteivorsitzende. Lange hieß es allerdings, ein Regierungschef müsse auch seine Partei führen. In Hamburg ist das nun nicht mehr so – es gibt wieder das alte „eiserne Dreieck“ Bürgermeister, Parteichefin, Fraktionschef. Wie verändert das die Politik?
Leonhard: Natürlich müssen der Bürgermeister und ich uns über alle wichtigen Fragen verständigen – und das gelingt sehr gut. Ich würde meiner Partei auch empfehlen, weiterhin einen eigenständigen Parteivorsitz zu wollen. Das hat der SPD gut getan, wir haben viele Arbeitsformen wiederbelebt und sind sehr diskussionsfreudig. Es geht darum, Regierungspolitik in die Partei hineinzutransportieren und umgekehrt Ideen aus der Partei in Regierungspolitik zu verwandeln. Das gelingt gut – ein Beispiel ist das Jugendticket, eine Idee der SPD-Basis.
Sie haben es 2018 mit Hinweis auf Ihre Familie abgelehnt, Bürgermeisterin zu werden. Nun haben Sie kaum weniger zu tun als der Bürgermeister. Haben Sie Ihre Entscheidung bereut?
Leonhard: Nein. Manchmal kommt es, wie man es plant – und manchmal kommt es, wie es kommt.
Ist es ein Armutszeugnis, dass Spitzenämter und Familie nicht zu vereinbaren sind?
Leonhard: Das ist eine Lebenslüge, die wir in ganz Deutschland haben. Wir wollen immer eine moderne, junge Politik von Menschen, die mit beiden Beinen im Leben stehen. Die Anforderungen sind aber so, dass sich das nicht gut einlösen lässt. Stellen Sie sich vor, ich ließe mich in zwei Ausschusssitzungen vertreten, weil mein Kind krank ist. Das würde nur oberflächlich akzeptiert. Hintenrum würde es doch als eine Art Arbeitsverweigerung gedeutet. Die unterschiedlichen Anforderungen passen da in unserer Gesellschaft noch nicht richtig zusammen.
Hilft Homeoffice dabei?
Leonhard: Es hilft und es hat auch viele Vorteile. Zum Beispiel laufen die Konferenzen der Landesminister über Video- oder Telefonkonferenzen viel stringenter ab und man muss nicht zur Konferenz etwa nach Süddeutschland fahren. Aber Homeoffice lädt auch zu Entgrenzung ein. Wenn Sie zwar zu Hause sind, aber doch ununterbrochen mit der Arbeit befasst, dann hilft das den Kindern und dem Familienleben auch nicht. Darauf müssen wir auch Rücksicht nehmen.
Können Sie sich vorstellen, doch irgendwann den Senat anzuführen?
Leonhard: Es ist eines der höchsten und schönsten Ämter, das einem so angeboten werden kann: Bürgermeister von Hamburg zu sein. Da darf man nicht pauschal sagen, das will man nie machen.
Sie haben mal erwähnt, dass Sie zur Stressbewältigung drei Methoden anwenden: Öfter zum HSV gehen, eine gute Currywurst essen – und Kassetten der „Drei Fragezeichen“ hören. Zum HSV kann man ja derzeit nicht und es macht auch wenig Spaß. Gehören Currywurst und „Drei Fragezeichen“ noch zu Ihrem Entspannungsprogramm?
Leonhard: Ja, absolut. Mein Hang zu Currywurst und Pommes nimmt eher noch zu. Außerdem habe ich mittlerweile Kreuzworträtsel zur Entspannung für mich entdeckt. Und den „Drei Fragezeichen“ bin ich natürlich immer noch treu.
Was ist Ihre Lieblingsfolge?
Leonhard: Es gibt mehrere sehr gute Folgen, auch neuere. Aber mein „All-time-favourite“ ist und bleibt „Der Karpatenhund“.