Hamburg. Erste autonome Züge rollen noch dieses Jahr, von 2021 an auch mit Fahrgästen. Warum trotzdem neue Lokführer gesucht werden.

Die Hamburger S-Bahn hat sich große Ziele gesetzt. Welche Pläne die Deutsche-Bahn-Tochter hat und vor welchen Herausforderungen das Verkehrsunternehmen steht, diese Fragen beantwortet S-Bahn-Chef Kay Uwe Arnecke im Abendblatt-Interview.

Hamburger Abendblatt: Die digitale S-Bahn Hamburg soll im kommenden Jahr starten. Wie ist der Stand der Planungen?

Kay Uwe Arnecke: Wir werden auf der rund 21 Kilometer langen Strecke zwischen dem Berliner Tor und Bergedorf/Aumühle die erste hochautomatisierte S-Bahn einsetzen. Die Testfahrten sollen noch in diesem Jahr starten. Ab Oktober 2021 können dann auch Fahrgäste die digitale S-Bahn erleben. Der offizielle Startschuss wird parallel zum ITS (steht für Intelligent Transport Systems)-Weltkongress erfolgen, der am 11. Oktober in Hamburg beginnt. Das ist eine Deutschland-Premiere, wir sind damit Vorreiter. Wir haben den Abschnitt bereits technisch umgerüstet, damit das funkbasierte Zugsteuerungssystem European Train Control System, mit dem die Strecke überwacht wird, dort eingesetzt werden kann. Zurzeit wird gerade in vier Zügen der Baureihe 474 das Automatic-Train-Operation-System eingebaut, das ermöglicht den digitalen Betrieb.

Die S-Bahn fährt auf dieser Strecke dann ohne Zugführer?

Arnecke: Nein. Es wird weiterhin einen Lokführer an Bord geben. Der steuert zwar nicht den Zug, das übernimmt das Operation- System. Das heißt, das Fahrzeug fährt selbstständig von Haltestelle zu Haltestelle und erkennt, wann die Türen geöffnet und geschlossen werden müssen. Aber der Zugführer kann jederzeit eingreifen, wenn es Störungen geben sollte. Allerdings fährt die S-Bahn vom Bahnhof Bergedorf etwa 1000 Meter selbstständig ohne Fahrer in die Abstellanlage.

Was kostet dieses Pilotprojekt?

Arnecke: Die Kosten liegen bei rund 60 Millionen Euro und werden von der Stadt Hamburg, der Deutschen Bahn und Siemens getragen. Das Ziel ist es, dass der hochautomatisierte Betrieb auch auf weitere S-Bahn-Strecken in Hamburg ausgeweitet wird. Und darüber hinaus. Die Technik wird so entwickelt, dass sie auch auf anderen Strecken der Deutschen Bahn einsetzbar ist.

Die S-Bahn hat mit dem Hamburger Verkehrsverbund eine Pünktlichkeitsquote von 94 Prozent vereinbart, die im vergangenen Jahr nicht eingehalten werden konnte. Wie sieht es aktuell aus?

Arnecke: Wir hatten 2019 eine Pünktlichkeitsquote von knapp 93 Prozent. Das hing auch mit Einflüssen von außen, aber vor allem­ mit dem neuen Fahrzeugmodell ET 490 zusammen. Hier kam es häufiger zu Türstörungen, die wir inzwischen behoben­ haben. Zurzeit werden die Fahrzeuge noch einmal mit einer neuen Software ausgestattet, und wir sind zuversichtlich, dass die Züge dann sehr zuverlässig sind. Aktuell haben wir eine Pünktlichkeitsquote von 94,5 Prozent. Jede Verspätung ist ärgerlich, und wir arbeiten immer daran, noch besser zu werden. Was uns Sorge bereitet: Es gibt immer mehr externe Störungen. Dass sich zum Beispiel Menschen im Gleisbereich aufhalten. Deshalb haben wir auch schon zahlreiche Streckenabschnitte eingezäunt. Als Nächstes sind alle Abschnitte zwischen dem Berliner Tor und Bergedorf dran, die noch frei zugänglich sind.

Bei der Auslieferung der neuen S-Bahn-Baureihe 490 kam es zu Verzögerungen. Wie viele dieser Züge fahren inzwischen auf dem Hamburger Streckennetz?

Arnecke: Es wurden 68 dieser Züge ausgeliefert, die restlichen 14 werden bis zum Jahresende folgen. Wir haben aber bis Mai kommenden Jahres die Option darauf, weitere 64 Fahrzeuge dieser Baureihe beim Hersteller Bombardier Transportation zu bestellen. Davon würden wir gern Gebrauch machen.

Es steht das Ende einer Ära an?

Arnecke: Ja, die Hamburger müssen sich von den Zügen der Baureihe 472 verabschieden, die seit den 70er- und 80er-Jahren in Hamburg fahren. Davon sind noch 20 Fahrzeuge im Einsatz, die aber bis Ende des Jahres aus der Flotte rausgenommen werden. Unterdessen werden wir bis Ende 2021 die Modernisierung der kompletten Baureihe 474 abgeschlossen haben. Wir haben bereits rund 70 der 112 Fahrzeuge mit komplett neuer Innenausstattung und einem modernen Fahrgastinformationssystem ausgestattet. Die Wagen wurden so umgebaut, dass sie komplett durchgängig sind.

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Die S-Bahn braucht Nachwuchs?

Arnecke: Ja, wir suchen jedes Jahr 100 neue Lokführer. Und dabei setzen wir vor allem auf Quereinsteiger. Wir haben zum Beispiel Tischler oder Verkäufer aus dem Einzelhandel, die sich dann innerhalb einer acht Monate langen Ausbildung umschulen lassen. Voraussetzung sind eine abgeschlossene Berufsausbildung und grundlegendes technisches Verständnis.

Welche Großprojekte stehen bei der S-Bahn an?

Arnecke: Das größte Bauvorhaben ist die S 4, die zwischen Altona und Bad Oldesloe verkehren wird. Es ist ja bekannt, dass die Finanzierung für das 1,8-Milliarden-Euro-Projekt inzwischen gesichert ist. Das Planfeststellungsverfahren für den Bau der zwei neuen Gleise zwischen Hasselbrook und Ahrensburg läuft. Die Bauarbeiten sollen noch in diesem Jahr beginnen, und die Fertigstellung bis Rahlstedt ist Ende 2025 geplant. Außerdem soll die S 21 von Eidelstedt bis Kaltenkirchen verlängert werden. Dafür muss dieser Streckenabschnitt elektrifiziert werden, auch hierzu läuft gegenwärtig das Planfeststellungsverfahren. Ein Gewinn für alle, die im Bezirk Altona wohnen und arbeiten, wird der neue S-Bahnhof Ottensen zwischen Altona und Bahrenfeld entlang der Linie S 1 und S 11 sein. Mit dem Bau wurde bereits begonnen, die Eröffnung ist für 2021 geplant.

Die Fahrgastzahlen innerhalb des HVV waren auf dem Höhepunkt der Corona-Krise Anfang April um rund 76 Prozent zurückgegangen. Wie ist der aktuelle Stand bei der S-Bahn?

Arnecke: Wir haben zurzeit etwa 40 Prozent weniger Fahrgäste im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Wir gehen davon aus, dass wir nach dem Ende der Hamburger Sommerferien und wenn das Schuljahr beginnt und auch wieder mehr Menschen aus dem Homeoffice in die Büros zurückkehren, einen weiteren Anstieg der Fahrgastzahlen haben werden. Wir rechnen aber auf das gesamte Jahr gesehen mit einem deutlichen Rückgang der Fahrgastzahlen. Im vergangenen Jahr sind mehr als 700.000 Fahrgäste täglich mit uns unterwegs gewesen. Unser Ziel muss sein, dass wir diese Zahl im kommenden Jahr wieder erreichen. Wir setzen darauf, dass immer mehr Menschen vom Auto auf die S-Bahn umsteigen. Das geht natürlich nur, wenn wir unser Angebot noch attraktiver gestalten. So werden wir zum Beispiel zum Fahrplanwechsel im Dezember die Zahl der Fahrten auf der S 31 nach Harburg und Neugraben um rund 20 Prozent ausweiten.

Die Maskenpflicht gilt auch in Bus und Bahn. Halten sich die Fahrgäste daran und wie lange soll diese Regelung noch gelten?

Arnecke: Unser Sicherheitspersonal stellt nur selten fest, dass Fahrgäste ohne Maske mit der S-Bahn fahren. Die Akzeptanz ist sehr hoch, und die Fahrgäste achten auch darauf, dass die Mitfahrenden sich an diese Regelung halten. Ich sehe die Maskenpflicht als eine Übergangsregelung, bis es beispielsweise einen Impfstoff gibt. Aber wann diese aufgehoben wird, bestimmt der Senat und nicht die Verkehrsunternehmen.