Hamburg. Die Bischöfe Kirsten Fehrs und Stefan Heße nehmen Stellung zur Rolle der Kirche in der Corona-Krise und deren Folgen.

Wo waren die Kirchen in der Pandemie? Gottesdienste wurden abgesagt, Konfirmationen ebenso. Wie deuten hochrangige Geistliche die Corona-Naturkatastrophe aus theologischer Sicht – womöglich als Strafe Gottes? Dazu beziehen die Repräsentanten der evangelischen und der katholischen Kirche in Hamburg, Bischöfin Kirsten Fehrs und Erzbischof Stefan Heße, erstmals gemeinsam Stellung.

Hamburger Abendblatt: Bischöfin Fehrs, was war für Sie der bislang bedrückendste Tag dieser Corona-Pandemie?

Fehrs: Als sehr schmerzhaft empfand ich, neben all den persönlichen Tragiken, die mir Menschen erzählt haben, dass wir Ostern keine Gottesdienste mit der Gemeinde feiern konnten. Auch Karfreitag war die ökumenische Prozession in Lübeck gemeinsam mit Ihnen, lieber Erzbischof, nicht möglich. Dass wir die Gemeinschaft, die für Kirche ja konstitutiv ist, nur virtuell oder auf anderen Kanälen teilen konnten, hat mir Mühe gemacht.

Erzbischof Heße, wie war das bei Ihnen?

Heße: Als ich die erste Todesnachricht aus dem Bekanntenkreis hörte, es war kein Corona-Fall. Bedrückend war, dass die Enkelin nicht an der Beerdigung ihrer Großmutter teilnehmen konnte, weil die deutsch-österreichische Grenze geschlossen war. Trauern zu wollen, aber nicht trauern zu können, das schien mir ein ganz schmerzhafter Punkt zu sein.

Wie hat Corona Ihren Berufsalltag verändert?

Fehrs: Alle öffentlichen Termine wurden abgesagt. Stattdessen gab es neue Anforderungen im digitalen Raum sowie im Radio und im Fernsehen. Wir haben in Videobotschaften deutlich gemacht: Die Kirchen stehen an eurer Seite und sind für die Menschen da, die in besonderer Weise von Einschränkungen und Einsamkeit betroffen sind. Gleichzeitig war und ist nun die Kommunikation von Zoom-Konferenzen geprägt. Auf Dauer aber hat dieses Starren auf den Bildschirm in mir eine tiefe Sehnsucht nach analogen Formen der Kommunikation geweckt.

Bischöfin Kirsten Fehrs im Garten der Bischofsresidenz in Hamburg.
Bischöfin Kirsten Fehrs im Garten der Bischofsresidenz in Hamburg. © Roland Magunia

Heße: Am Anfang gab es bei mir diesen Moment der Entschleunigung.

Fehrs: Ach, tatsächlich?

Heße: Ich habe zweieinhalb Monate täglich den Gottesdienst aus meiner Hauskapelle übertragen. Dazu kamen, mehr als sonst, Telefonate, Telefon- und Videokonferenzen. Ich bin zehn Wochen nicht mit meinem Dienstwagen gefahren.

Fehrs: Ich habe gemerkt, dass die Dienstfahrten auch Pausen ermöglicht haben. Jetzt geht es Schlag auf Schlag – Akte 1, Videokonferenz. Akte 2, Videokonferenz. Die digitale Kommunikation beschleunigt enorm und erschwert bei all ihren Vorteilen kirchliche Arbeit dort, wo sie stark auf Beziehungen, von Angesicht zu Angesicht, angewiesen ist.

Warum haben sich die Kirchen den staatlichen Vorschriften im Shutdown gebeugt?

Heße: Es geht hier um den Schutz von Menschen. Das ist ein Dienst der Nächstenliebe. Wir haben uns nicht einfach gebeugt, sondern uns solidarisch gezeigt mit der Gesellschaft und den Menschen.

Fehrs: Ich kann den Vorwurf gar nicht teilen. An erster Stelle steht doch der Schutz eines jeden Lebens. Dass wir uns dem Druck des Staates gebeugt hätten, davon kann gerade in Hamburg keine Rede sein.

Aber wie können Sie das Singen im Gottesdienst einfach verbieten?

Heße: Das ist tatsächlich eine Einschränkung. Solange man keinen Impfstoff hat, muss man sich schützen. Wir haben jetzt neue Formen gefunden: Die Orgel spielt, ein Kantor singt vor, ein Quartett musiziert.

Wie kann man den Jugendlichen die Konfirmationsfeiern vorenthalten? Sie wurden abgesagt.

Fehrs: Und viele hatten Verständnis – wer will denn die Großeltern einem tödlichen Risiko aussetzen? Wir haben stattdessen Konfirmanden besucht, Trostbriefe geschickt, mit ihnen telefoniert. Etliche wurden am Gartenzaun gesegnet. Und die jungen Menschen signalisieren uns: Nehmt uns wahr!

Wo waren die Seelsorger, die Kirchenleute, als die Altenheime geschlossen wurden?

Heße: Unsere Seelsorger haben ihre Dienste immer angeboten. Nicht die Seelsorger haben sich abgemeldet, sondern vielfach haben Krankenhaus- und Altenheimleitungen aus hygienischen Gründen dichtgemacht. Ein Priester in Mecklenburg, dessen Mutter im Sterben lag, durfte sie nicht besuchen. Dagegen waren Besuche in Hospizen wohl immer möglich.

Fehrs: Gesundheit und Würde des Menschen bezieht sich nicht nur auf den Körper, sondern umfasst auch die Seele. Es hat sich für die Seelsorger im Krankenhaus ganz fremd angefühlt, mit Schutzkleidung und Handschuhen am Krankenbett zu stehen und Sterbende auf diese Weise zu begleiten, ohne die gewohnte Nähe geben zu können. Wo Schutzkleidung mit FFP2-Masken vorhanden war, haben sie alles versucht, den Sterbenden beizustehen. In den Pflegeheimen waren es die Seelsorger, die noch Besuche machten und von den Bewohnern ersehnt wurden.

Heße: Die Seelsorger haben darüber hinaus viele Dienste für das Personal und die Angehörigen der Kranken und Sterbenden geleistet.

Fehrs: Ich habe in den vergangenen Monaten regelmäßig Menschen angerufen – in der Pflege, aus dem Bereich der Wirtschaft, Medien, Universität. Und ich habe sie gefragt, wie sie die Situation erleben. So ist für mich eine Art inneres Tagebuch der Pandemie entstanden.

Coronavirus – die Fotos zur Krise

Ist diese Pandemie eine Strafe, eine „Heimsuchung“ Gottes?

Fehrs: Ganz deutlich: Nein! Das behauptet zum Glück auch niemand, den ich kenne. Was ich dagegen richtig finde, ist die Frage, ob diese Pandemie nicht eine Prüfung ist. Denn alles wird derzeit auf den Prüfstand gestellt, was unser Leben ausmacht: unsere Beziehungen, unsere Art zu wirtschaften, zu reisen, wie wir kommunizieren, die Stabilität des Gesundheitssystems. Unsere gesamte Art zu leben muss nun neu betrachtet werden. Und natürlich ist das auch eine Gottesfrage. Es ist die Frage, wie weit die Würde, die Gott uns als Menschen geschenkt hat, in dieser Pandemie geachtet wird.

Heße: Der Gedanke der Strafe ist mir gar nicht gekommen. Er legt sich nicht nahe. Es ist vielmehr eine Situation, in der wir merken, wie zerbrechlich unser Leben ist. Worauf baue ich mein Leben, was ist verlässlich, wie gehe ich mit den Bruchstücken meines Lebens um? Die Pandemie bringt noch einmal zum Ausdruck, was im Leben Realität ist. Sie bringt nicht etwas Neues hervor, sondern beschleunigt und wirkt wie ein Katalysator. Sie fragt uns wie im Brennglas: Wie gestaltest du dein Leben und wie gehst du damit um?

Fehrs: Die Pandemie zeigt: Leben heißt, mit den Unwägbarkeiten umzugehen und zu wissen, dass wir in all unserer Verwundbarkeit in Gottes Hand sind.

Was sagen Sie den Menschen, die jetzt um ihre wirtschaftliche Existenz kämpfen müssen?

Heße: Ja, diese Pandemie geht ins Existenzielle. Dafür gibt es keinen billigen Trost. Wir werden die wirtschaftlichen Folgen dieser Pandemie solidarisch tragen müssen.

Fehrs: Wir dürfen diese Menschen nicht aus dem Blick verlieren. Kauft in den kleinen Läden ein, geht ins Café und Restaurant und setzt euch für die Kultur ein! Unbedingt etwas ändern muss sich in der Pflege und im Gesundheitswesen - wer dort arbeitet, verdient mehr Anerkennung, auch finanziell.

Experten rechnen, dass die wirtschaftliche Krise rasch auch die Kirchen erfasst.

Heße: Das Erzbistum befindet sich schon seit einiger Zeit in einem Sanierungsprozess, bei dem wir auf jeden Bereich unserer Aktivitäten schauen. Deshalb haben wir jetzt keine Haushaltssperre verhängt – wir bleiben in der Spur und gehen unseren Weg weiter. Gleichzeitig sehe ich, wie aktiv und kreativ die Gemeinden werden – zum Beispiel mit Online-Gottesdiensten. Es gibt also nicht nur ein Weniger, es wächst auch manches Neue.

Sind die Kirchen überhaupt noch systemrelevant?

Heße: Ich weiß nicht, ob dieser Begriff uns weiterhilft. Wir versuchen den Menschen Hoffnung zu vermitteln und Sinn zu gehen, das ist für eine Gesellschaft höchst relevant. Am Ende müsste man fragen: Ist Gott systemrelevant? Die Theologie würde an dieser Stelle antworten: Gott sprengt alle Systeme!

Fehrs: Ein weiterer Aspekt dazu: Religionsfreiheit ist ein Grundwert unserer Verfassung, und deshalb waren die Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts von vielen Beschränkungen ausgenommen. Unsere Gremien konnten sich treffen, viele Kirchen waren für die stille Einkehr geöffnet. Wir waren mit Seelsorgern präsent. Das alles hat der Staat als systemrelevant anerkannt, gut so.

Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde

  • Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum und halten Sie Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen
  • Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
  • Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
  • Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
  • Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden

Fürchten Sie die prognostizierte Finanzkrise?

Fehrs: Die Kirchensteuereinnahmen werden in den nächsten Jahren sinken, darauf hatten wir uns eingestellt. Jetzt geht das leider schneller. Noch ist nicht klar, wie hoch die Einbußen in den nächsten Monaten sind – ob es zwölf oder 15 Prozent sind. Genau werden wir es nach der Steuerschätzung im Herbst wissen. Die Pandemie bringt uns aber in die Lage, schneller also zuvor Entscheidungen über Prioritäten zu treffen. Das wird sicherlich bittere Folgen haben.

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Wann wird die Pandemie zu Ende sein?

Heße: Sie wird uns so tief im Gedächtnis bleiben, dass sie nicht einfach abzulegen ist. Wenn wir den Impfstoff haben, wird es wohl wieder eine gewisse Leichtigkeit geben. Die Erfahrungen, die wir jetzt machen, werden uns aber prägen. Neu justiert wird zum Beispiel die Frage, wie viel Nähe und Distanz braucht der Mensch. Vielleicht wird die Art und Weise, wie wir uns begrüßen und verabschieden, nach Corona anders als früher sein. Auch die Zahl die Dienstreisen dürfte zurückgehen.

Fehrs: Die Pandemie wird uns prägen. Ich merke im Moment, dass die Sehnsucht nach Nähe sehr groß ist. Es braucht gar nicht die unmittelbare Berührung, sondern die freundliche Geste, die menschliche Wärme. Ich glaube, dass eine Gesellschaft auch künftig Orte der Nähe braucht, in denen echte, analoge Begegnung eine besondere Rolle spielt.