Hamburg. Hans-Peter de Lorent hat seine Studie „Täterprofile“ über die Verantwortlichen im Schulwesen von 1933 bis 1945 abgeschlossen.
Zum Beispiel Hans Muchow, Jahrgang 1900. In der Weimarer Republik galt er als reformpädagogisch orientierter Lehrer, doch nach 1933 änderte er seine Überzeugung offensichtlich schnell. Er war seit 1934 Mitglied im Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) und trat 1937 in die NSDAP ein. Muchow unterrichtete zunächst unter anderem in der Oberschule St. Georg seine Fächer Deutsch und Geschichte und war dann von Oktober 1940 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Mitglied des Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg, jener NS-Organisation, die systematischen Kunstraub in den von den Nazis besetzten Gebieten betrieb.
Der Hamburger Lehrer war von 1942 an Leiter der Hauptarbeitsgruppe Belgien-Nordfrankreich und damit verantwortlich für die Beschlagnahme zahlreicher Bibliotheken, Gemälde, Möbel und Juwelen vorwiegend aus dem Besitz jüdischer Bürger, die vor den Nazis geflohen waren, sowie den Abtransport der Kulturgüter nach Berlin. Nach 1945 gelang es Muchow, im Entnazifizierungsverfahren die Legende zu stricken, er sei wider Willen zum Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg abkommandiert worden und hätte nur wissenschaftlich gearbeitet.
180 Biografien von Senatoren, Schulleitern und Lehrern
Muchow wurde, auch dank der Gutachten einflussreicher Bekannter, wieder in den Schuldienst übernommen, unterrichtete zunächst an der Walddörferschule in Volksdorf, dann am Gymnasium Eppendorf als Oberstudienrat und schrieb mehrere jugendpsychologische Bücher, die noch vor wenigen Jahren Neuauflagen erlebten.
Hans-Peter de Lorent, der die wechselvolle und widersprüchliche Entwicklung des Lehrers erstmals umfassend recherchiert hat, kommt zu dem Urteil: „Hans Muchow erwies sich in der NS-Zeit als Denunziant und Räuber jüdischen Eigentums“. Umso bemerkenswerter ist, dass er in den 50er-Jahren als „Nachlassverwalter“ und Ko-Autor seiner Schwester Martha Muchow in Erscheinung trat. Sie war eine enge Mitarbeiterin von Prof. William Stern, der bis 1933 an der Hamburger Universität Psychologie lehrte. Nach der Machtübernahme der Nazis sowie der Entlassung und Vertreibung des jüdischen Wissenschaftlers Stern nahm sich Martha Muchow das Leben.
Hans Muchow hatte in einem Vortrag 1939 noch gesagt, „dass man der Juden nicht bedürfe“. In den 50er-Jahren rühmte er sich dann laut de Lorent damit, bei dem berühmten jüdischen Professor studiert zu haben. „Hans Muchow hat nach 1945 so getan, als sei er eng mit seiner Schwester beieinander. Ein Mann mit zwei Gesichtern – ein Scharlatan“, sagt der Historiker.
Im Laufe der Jahre hat er Materialien über 300 Menschen gesammelt
Die Lebensskizze von Hans Muchow ist eine von 180 Biografien, die de Lorent im Laufe der vergangenen Jahre recherchiert und veröffentlicht hat. Mit dem dritten Band der „Täterprofile – Die Verantwortlichen im Hamburger Bildungswesen unterm Hakenkreuz und die Kontinuität bis in die Zeit nach 1945“, der allein 70 Biografien enthält, hat Hans-Peter de Lorent ein insgesamt 2700 Seiten umfassendes Werk vorgelegt. Seine Studie dürfte in ihrer Gründlichkeit und Breite einmalig in Deutschland sein. De Lorent ist nicht nur aufgrund seiner historischen Forschung, sondern auch dank seiner beruflichen Tätigkeit ein exzellenter Kenner des Hamburger Schulwesens: selbst Lehrer und Hauptseminarleiter, langjähriger Landesvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und bis zu seiner Pensionierung 2014 Leitender Oberschulrat. Bis 1989 gehörte er der DKP an, von 1997 bis 2001 war er Bürgerschaftsabgeordneter der Grünen.
Mit dem dritten Band der „Täterprofile“ findet ein Projekt seinen Abschluss, dass vor 40 Jahren begann. „Ich habe damals mit Kolleginnen und Kollegen zum Thema Schule unterm Hakenkreuz Interviews mit Zeitzeugen geführt und dazu Bücher veröffentlicht“, sagt de Lorent. Damals sei es ihnen vor allem darum gegangen, den Schulalltag von 1933 bis 1945 zu beschreiben und diejenigen aus der Anonymität zu holen, die Opfer der Nazis wurden. De Lorent fing danach an, personenbezogene Daten von Verantwortlichen im NS-geprägten Hamburger Schulwesen zu sammeln.
Im Laufe der Jahre hat er aus Archiven, Gesprächen und Familienchroniken Materialien über 300 Menschen gesammelt – fast ausschließlich Männer, die während der Nazizeit meist in leitenden Positionen tätig waren: im Senat, in der Schulverwaltung, in der Aus- und Fortbildung der Lehrer sowie Schulleiter. Aber darunter waren auch „einfache“ Lehrer, die besonders überzeugte Nazis waren und ihre Schüler indoktriniert und drangsaliert haben. Auf dem Dachboden seiner Wohnung lagert ein in dieser Vollständigkeit wohl einmaliges Archiv. „Ich habe einen Mittelklassewagen an Kopierkosten investiert“, sagt de Lorent. Jedes kopierte Blatt im Staatsarchiv kostet 60 Cent, wie er anfügt.
Entstanden sind differenzierte und häufig beklemmende Porträts von Männern, die sich nach 1933 mal als anpassungsfähige Karrieristen erwiesen, mal als glühende Nationalsozialisten und schlimme Rassisten. De Lorent konnte die Unterlagen der Entnazifizierungsverfahren und die Personalakten auswerten und so die zum Teil bemühten oder auch dreisten Retuscheversuche dokumentieren, mit denen die Pädagogen ihre Rolle in der NS-Zeit herunterspielen wollten.
Eine Klage von Angehörigen endet mit einem Vergleich
Vielen der belasteten Männer gelang die Wiederaufnahme in den Schuldienst oder sie erhielten Pensionen, die sie sich in der NS-Zeit erdient hatten. De Lorent spricht angesichts der vielfach laxen Praxis von einem „unvollendeten Entnazifizierungsverfahren“. Aber der Historiker räumt ein: „Wissenschaft ist Klugheit im Nachhinein.“ Und er zitiert den Nachkriegs-Bürgermeister Max Brauer (SPD), der selbst emigrieren musste und gesagt hat, „dass 95 Prozent der Deutschen auf irgendeine Weise mit dem NS-Regime zusammengearbeitet hatten und mit den restlichen fünf Prozent nun mal kein Staat aufzubauen war“.
Die Veröffentlichung der Biografien führte dazu, dass sich Familienmitglieder oder ehemalige Schüler der Porträtierten meldeten. „Die Reaktionen zeigen: Es gibt ein hohes Maß an Dankbarkeit, dass aufgeklärt wurde, was der Großvater oder Vater zwischen 1933 und 1945, aber auch danach gemacht hat“, sagt de Lorent.
Nur einmal lief es anders: im Fall des Rechtsanwalts Oscar Toepffer, der während der NS-Zeit einige Monate lang Schulsenator war. De Lorent hatte von einem Enkel und einer Tochter Toepffers dessen Briefwechsel mit seiner Frau Gretchen erhalten und daraus im zweiten Band umfassend zitiert. Eine weitere Enkelin Toepffers klagte dagegen, weil sie eine Verletzung des Urheberrechts sieht, unter anderem weil nicht die Zustimmung aller Nachkommen eingeholt worden war. Nach der mündlichen Verhandlung vor einer Zivilkammer des Landgerichts am Donnerstag kommt es nun wohl zu einem Vergleich.
Die Briefpassagen sollen bei verbliebenen Exemplaren geschwärzt werden. Bei einer Neuauflage wird de Lorent den Inhalt paraphrasieren. Mit der Forderung, die Toepffer-Biografie ganz aus dem Buch zu streichen, weil er nicht in die Reihe der „Täter“ gehöre, konnte sich die Klägerin dagegen nicht durchsetzen. Das Gericht machte deutlich, dass der Täterbegriff hier weit gefasst sei und keine Verletzung der „postmortalen Persönlichkeitsrechte“ vorliege.
„Es ist zufriedenstellend, dass es in diesem Fall keinen postmortalen Persönlichkeitsschutz geben kann. Oscar Toepffer ist belastet, auch wenn er nicht der Schlimmste gewesen ist“, sagte de Lorent nach der Verhandlung.