Hamburg. Angeklagter hielt langen Monolog mit Manifest-Charakter. Deswegen gab es keine Zeit mehr für das Plädoyer des Staatsanwalts.
Als die Fotografen in den Gerichtssaal kommen, hält sich Loic S. zum Schutz ein Spielbrett vor das Gesicht, eine große buntbemalte Pappe, vom Angeklagten in der Haftanstalt selbst gefertigt. Sie sei dem Gesellschaftsspiel „Risiko“ nachempfunden, erklärt Loic S. Jetzt und hier ist das Spiel mehr als das, es ist eine Art symbolischer Vorgriff auf eine politische Erklärung, die der Angeklagte im Prozess um die Ausschreitungen auf der Elbchaussee während des G-20-Gipfels zunächst eine Stunde in seiner französischen Muttersprache abgibt.
Anschließend wird sie ins Deutsche übersetzt. In „Risiko“ geht es darum, Länder zu erobern, Herrschaft zu zerstören – in Loic S.’ Leben geht es um den revolutionären Kampf gegen „das System“. In seinen Worten: „Wir sind die Natur, die sich wehrt.“ Loic S. ist einer von fünf Angeklagten in dem Prozess.
Linksautonome zünden beim G-20-Gipfel in Altona 19 Autos an
Rund 220 vermummte, schwarz gekleidete Linksautonome griffen am Morgen des 7. Juli 2017 auf ihrem Marsch von Donners Park bis zur Altonaer Altstadt so ziemlich alles an, was ihnen in die Quere kam, darunter Restaurants, Bürogebäude, eine Ikea- und eine Targobank-Filiale; allein 19 Autos gingen in Flammen auf.
Acht Menschen erlitten Schocks, der Sachschaden lag bei rund einer Million Euro. Nachdem die Polizei glaubte, mit Roni S., Khashjar H., Ibrahim K., Can N. und Loic S. fünf Beteiligte ermittelt zu haben, klagte die Staatsanwaltschaft sie wegen schweren Landfriedensbruchs und Mittäterschaft bei Brandstiftung und gefährlicher Körperverletzung an. Mit Rücksicht auf die Jugend zweier Angeklagter hatte das Landgericht die Öffentlichkeit Ende 2018 vom Prozess ausgeschlossen. Gestern waren erstmals wieder Zuschauer zugelassen.
Angeklagter gab Monolog mit Manifest-Charakter ab
Das Recht des Angeklagten, sich zu jedem Zeitpunkt zu äußern, nutzte Loic S. am 64. Verhandlungstag für einen Monolog mit Manifest-Charakter. In seiner mit Zitaten von Brecht, Einstein und Focault gespickten und von 15 Unterstützern im Saal beklatschten politischen Erklärung pflügte der 24-Jährige durch eine tief im linksextremistischen Spektrum verankerte Themen- und Ideenwelt.
Da ging es um Polizeigewalt, um Klassenjustiz, um die Zerschlagung der Atom- und Nahrungsmittelindustrie, um Kolonialismus, Enteignung der Reichen, um ungerechte Verteilung des Wohlstands und eine Komplizenschaft zwischen Polizei und Gericht.
Keine Zeit für Plädoyer des Staatsanwalts
Den gewaltsamen Protest während des G20-Gipfels rechtfertigte er mit den gesellschaftlichen Verhältnissen im Kapitalismus. „Jede Gesellschaft hat die Kriminellen, die sie sie verdient“, sagte Loic S., der in Frankreich zunächst ein Semester Jura studiert hatte, bevor er Gemüsebauer wurde. Im Sommer 2018 nahm ihn die französische Polizei in Nancy (Frankreich) fest. Von August 2018 bis Dezember 2019 saß er in Hamburg in U-Haft. Zweimal sei er – zu Unrecht – in Isolationshaft gekommen. Er sei 23 von 24 Stunden in der Zelle eingesperrt gewesen. Die „Wärter“ hätten sich verhalten wie „Nazis“ und „Roboter“.
Zur Elbchaussee-Randale äußerte sich der 24-Jährige nicht. „Ich werde nicht erklären, was ich nicht getan habe“, so der Angeklagte. Allerdings gab Loic S. zwei Steinwürfe auf einen Wasserwerfer und zwei Flaschenwürfe auf Polizisten am 7. Juli zu. Er wolle sich entschuldigen – dafür, dass die Flaschen die Polizisten nicht getroffen hätten. Eigentlich sollte gestern auch Staatsanwalt Tim Paschkowski sein Plädoyer halten. Nach der langen Erklärung reichte die Zeit nicht mehr aus. Er soll am Montag plädieren.