Hamburg.
Der Karton auf dem Tisch quillt fast über mit DVDs, das Einräumen in die Regale muss noch warten. Denn an seinem ersten Arbeitstag in seinem neuen Büro an der Großen Elbstraße hat Hubertus Meyer-Burckhardt Besuch vom Abendblatt.
Millionen Fernsehzuschauer kennen ihn vor allem als Gesicht der „NDR Talk Show“, rund 450-mal hat Hubertus Meyer-Burckhardt die Sendung moderiert, seit Jahren an der Seite von Barbara Schöneberger. Nur wenige wissen, dass der Hamburger auch zu den erfolgreichsten TV- und Filmproduzenten Deutschlands gehört.
Mit Filmen wie „Das Urteil“ und „Meine fremde Freundin“ hat der 63-Jährige bedeutende Preise gewonnen. Hubertus Meyer-Burckhardt arbeitet zudem als Autor, im vergangenen Jahr erschien sein berührendes Buch „Diese ganze Scheiße mit der Zeit: Die Entdeckung des Jetzt“. Darin thematisiert er auch die Krebserkrankung, die 2017 bei ihm diagnostiziert wurde.
Hubertus Meyer-Burckhardt serviert noch drei Espressi, dann beginnt das zweistündige Gespräch auf Corona-Abstand – und doch mit großer Nähe.
Herr Meyer-Burckhardt, Sie arbeiten als Autor, TV-Produzent und Talk-Gastgeber. Was schreiben Sie bei Formularen in das Feld Berufsbezeichnung?
Hubertus Meyer-Burckhardt Ich habe mich manchmal als Reisender eingetragen. Im Grunde ist dies faktisch nicht falsch, weil ich in meinen Berufen viel unterwegs bin. Aber in der Regel schreibe ich TV-Produzent.
Ist das derzeit Ihre wichtigste Rolle?
Meyer-Burckhardt: Auf dem heutigen Weg in mein neues Büro habe ich mir genau diese Frage gestellt: Wie sieht eigentlich gerade deine berufliche Lebenssituation aus? Da ist mir der Vergleich zu einem Maler eingefallen, der mit einer Palette zum Mischen seiner Farben arbeitet. So ungefähr ist das bei mir auch. Ich bin in der vergnüglichen Lage, an der Seite von Barbara Schöneberger für die „NDR Talk Show“ Gespräche zu führen. Dann darf ich für NDR-Info in meiner Reihe „Frauengeschichten“ mit beeindruckenden Persönlichkeiten wie jüngst der evangelischen Bischöfin Kirsten Fehrs reden. Zudem sitze ich an zwei Filmprojekten. Und ich habe Anfragen von Verlagen für neue Bücher. Das alles bin ich. Aber natürlich wird diese Zeit irgendwann vorbeigehen. Deswegen genieße ich sie umso mehr.
Gehen wir zurück an Ihre Anfänge in Hamburg. Sie haben nach dem Studium Ende der 1970er-Jahre als Regieassistent am Thalia-Theater gearbeitet. Was verbinden Sie mit dieser Zeit?
Meyer-Burckhardt: Einen mittellosen Studenten der Geschichte und Philosophie, der die Atmosphäre im Seminar nicht wirklich prickelnd fand. Es gab einfach zu viele brave Lehramtsstudenten. Und da ich schon als jugendlicher Statist am Theater in Kassel wusste, dass ich gern etwas mit Unterhaltung machen möchte, habe ich mich dann beim damaligen Thalia-Intendanten Boy Gobert als Regieassistent beworben. Als Praktikant hat er mich genommen.
Ich habe mich wirklich zerrissen. Ich war morgens der Erste, der die Kaffeetassen gespült und die Bühne gefegt hat. Und nachts habe ich noch die Schauspieler nach Hause gefahren. Irgendwann fragte mich Boy Gobert: Sie machen einen guten Job. Was verdienen Sie eigentlich? Ich habe wahrheitsgemäß gesagt: nichts. Dann hat er mir einen Verrechnungsscheck über 2000 Mark ausgestellt.
Das war für mich, der von 400 Mark BAföG gelebt hat, unvorstellbar viel Geld. Ich habe mit den Tränen gekämpft und sofort aus der Telefonzelle meine Mutter angerufen und ihr gesagt: Mami, ich habe 2000 Mark bekommen. Von Professor Gobert persönlich!
Warum sind Sie nicht Intendant oder Regisseur am Theater geworden?
Meyer-Burckhardt: Ich hatte mir in meiner Zeit in Kassel geschworen, dass ich in einer Großstadt leben möchte mit mindestens einer Million Einwohnern. Und ich dachte mir, vielleicht bist du doch nicht gut genug für diesen Job in einer Metropole. Ich wollte nicht wieder zurück in die Provinz. Und deswegen habe ich mir gesagt: Ich mache lieber Film. Und bin zum Glück an der Hochschule für Fernsehen und Film in München angenommen worden. Übrigens auch dank eines sehr freundlichen Empfehlungsschreibens von Boy Gobert.
Nach dem Abschluss haben Sie Werbefilme produziert. Wie haben Ihre Kommilitonen reagiert?
Meyer-Burckhardt: Entsetzt. Man ging damals als Absolvent einer so renommierten Hochschule nicht in die Werbung. Das wäre heute ungefähr so, als würde ich der AfD beitreten. Aber für mich war es eine ganz klare strategische Entscheidung. Ich wollte ins Ausland. Ich wollte Routine erwerben. Und ich wollte Geld verdienen. Wir mussten in meiner gesamten Kindheit jeden Pfennig umdrehen, davon hatte ich genug, obwohl meine Mutter das meisterlich gemacht hat. Ich wollte nie reich sein, aber unabhängig. In der Werbebranche konnte ich sagen: Jetzt fliegen wir für einen Dreh nach London. Das fand ich faszinierend.
Es war der Startschuss für Ihre Karriere als Produzent. Auf welche Werke sind Sie stolz?
Meyer-Burckhardt (lacht): Dann schauen wir doch mal in Hubertus Meyer-Burckhardts Musterkoffer (greift in die Kiste mit DVDs). Ich bin stolz auf „Blaubeerblau“ mit Devid Striesow, ein Film über das schwierige Thema Hospiz. Ich bin aber auch stolz auf „Das Urteil“ mit Klaus Löwitsch und „Mein letzter Film“ mit Hannelore Elsner. Und über „Der Klügere zieht aus“ lache ich mich noch immer kaputt. In Wahrheit könnte ich hier endlos so weitermachen.
In der Kiste könnten auch Hunderte „Rote Rosen“-DVDs liegen, die Daily Soap haben Sie als Produzent ebenfalls verantwortet. Ist Ihnen diese Serie peinlich?
Meyer-Burckhardt: Nein, im Gegenteil. Ich darf mich da zwar nicht mit fremden Federn schmücken, weil es diese Serie schon gab, als ich zur Studio Hamburg Gruppe kam. Mit „Rote Rosen“ werden moderne Frauenthemen einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Es war die erste deutsche Telenovela, die sich um eine Frau mit Mitte 40 dreht.
Aber Sie haben mit „Rote Rosen“ auch Ihre Fernsehspiele quersubventioniert.
Meyer-Burckhardt: Ja, klar. Eine erfolgreiche Firma braucht eine solche Serie. Fernsehspiele sind schwierige Stoffe. Wenn wir heute einen schwierigen Stoff etablieren, brauchen wir Jahre. Der Film „Das Versprechen“ über Psychiatrie, der im Herbst im ZDF ausgestrahlt wird, hat einen Vorlauf von fünf Jahren. Darüber macht sich kaum jemand Gedanken. Wenn Sie heute einen Sender oder einen Kinoverleiher überzeugen wollen, viel Geld in ein solches Projekt zu investieren, brauchen Sie einen exzellenten Autoren, einen exzellenten Regisseur und exzellente Schauspieler. Die stecken aber allesamt in Projekten. Auf jeden müssen Sie warten, manchmal ein halbes Jahr. Serien wie „Rote Rosen“ sorgen dafür, dass in dieser Zeit frisches Geld in die Firma kommt.
Worum geht es in Ihrem Film „Das Versprechen“?
Meyer-Burckhardt: Um einen alleinerziehenden Vater, der U-Bahn-Fahrer ist und unter Depressionen leidet. Er hofft so sehr, dass das nicht entdeckt wird, da er dann seinen Job verlieren würde. Und um seinen Sohn, der ebenfalls hofft, dass die Krankheit verborgen bleibt, da er sonst zu Pflegeeltern gegeben würde. Ich wollte das Thema Psychiatrie noch einmal für ein breites Publikum öffnen. Ich kenne im privaten Umfeld Menschen, die Depressionen haben und stigmatisiert sind. Dies ist noch schlimmer geworden durch den Absturz der Germanwings in den West-Alpen im März 2015. Der psychisch kranke Copilot hat die Maschine absichtlich abstürzen lassen und mit seinem Suizid insgesamt 150 Menschen in den Tod gerissen. Mit dieser Tat hat der Copilot dafür gesorgt, dass es Menschen, die diese Krankheit haben und eine Verantwortung in ihrem Job tragen, nun noch schwerer haben.
Ist der Produzenten-Alltag härter geworden?
Meyer-Burckhardt: Man muss sicherlich mit dem Budget noch sorgfältiger umgehen. Andererseits haben wir jetzt neue Unternehmen in der Branche wie Amazon oder Netflix, die selbst produzieren. Til Schweiger konnte seinen Dokumentarfilm über Bastian Schweinsteiger an Amazon verkaufen, nachdem der geplante Kinostart durch Corona abgesagt werden musste. Diese unglaubliche Angebotsvielfalt gab es vor zehn, zwanzig Jahren noch nicht. Wobei ich mir ohnehin geschworen habe, dass man den Satz „Früher war alles besser“ von mir nicht hören wird.
1997 haben Sie dem Abendblatt einmal gesagt: Mein Traum ist nicht, mit 50 in der Toskana zu leben, sondern mit 80 noch täglich ins Büro zu fahren. Würden Sie dies immer noch sagen?
Meyer-Burckhardt: Ja, wenn es das Büro eines Freiberuflers ist, dann würde ich das immer noch sagen. Ich werde nicht mehr das ganz große Rad in einer Firma drehen, deswegen habe ich mich auch aus Geschäftsführung der Polyphon verabschiedet. Aber ich wollte nie als 50-Jähriger, was ja auch schon 13 Jahre her ist, irgendwo in Italien rumhängen. Und auch nicht mit 70 noch dasselbe machen, was ich mit 50 gemacht habe. Ich glaube, ich habe ein gutes Gefühl dafür, wann ich den Leuten auf die Nerven gehen könnte. Der Indikator ist für mich mein Handy. Solange noch Leute initiativ fragen: Hast du Lust auf ein neues Projekt, auf eine Lesung, auf ein Filmprojekt, ist alles gut. Ich bin in der glücklichsten Phase meines Lebens, weil ich jetzt ernten darf. Ich hab gut gesät, da ist einiges gewachsen.
Talk-Gastgeber und Grimme-Preis-Träger:
- Vor allem durch die „NDR Talk Show“ zählt Hubertus Meyer-Burckhardt (geboren am 24. Juli 1956 in Kassel) zu den bekanntesten deutschen Fernsehgesichtern. Rund 450 Sendungen hat er bislang moderiert. Auf NDR Info hat er mit „Frauengeschichten“ eine eigene Radiosendung.
- Meyer-Burckhardt zählt zu den erfolgreichsten deutschen Produzenten. Allein sein Film „Das Urteil“ mit Klaus Löwitsch erhielt drei Adolf-Grimme-Preise, fünf Goldene Löwen sowie den Bayerischen Fernsehpreis und war nominiert für den Emmy.
- 2017 wurde ihm der Hamburger Produzentenpreis („Meine fremde Freundin“) verliehen, 2019 der Goldene Kompass als Gastgeber der „NDR Talk Show“. Von 2001 bis 2004 war er als Mitglied des Vorstands der Axel Springer AG zuständig für elektronische Medien und Buch, später Vorstand von ProSiebenSat.1. Von 2007 bis 2012 lehrte er als Professor an der Hamburg Media School.
- Er schreibt auch Romane. Erschienen sind bislang: „Die Kündigung“, „Die kleine Geschichte einer großen Liebe“ und „Meine Tage mit Fabienne“.
Sie sprechen von dem glücklichsten Lebensabschnitt trotz des 13. Oktobers 2017, als Sie Ihre Krebsdiagnose erfahren haben?
Meyer-Burckhardt: Ja, denn der Krebs ist im Griff. Ich habe keine Beschwerden. Die beiden Karzinome sind verkapselt und in einem sehr frühen Stadium erkannt worden. Ich gehe alle vier Monate zur Kontrolluntersuchung, bislang waren die Nachrichten gut oder zumindest nicht schlecht.
Sie waren damals sehr entsetzt über die Art und Weise, wie Sie über Ihre Diagnose informiert wurden.
Meyer-Burckhardt: Ich hatte den Arzt ausdrücklich gebeten, mich nicht vor dem 13. Oktober und auf keinen Fall an diesem Tag selbst anzurufen. Denn an diesem 13. Oktober haben wir eine sehr enge Freundin beerdigen müssen. Und meine Frau hatte Geburtstag. Der Arzt hat dennoch angerufen und mir die Diagnose ohne jede Empathie mitgeteilt. Er ist handwerklich bestimmt hervorragend, dennoch sollte man ihn besser nicht auf Patienten loslassen.
Was hat Sie bewogen, Ihre Diagnose öffentlich zu machen?
Meyer-Burckhardt: Ganz stimmt das nicht, denn die Krebsart behalte ich für mich, das geht die Öffentlichkeit nichts an. Ich steckte damals in einer kniffeligen Situation, denn ich saß an einem Buch über Lebenszeit. Ich hatte 70, 80 Seiten geschrieben, dann kam die Diagnose. Ich wusste, dass ich ein solches Buch nicht schreiben kann, ohne die Diagnose zu erwähnen. Aber ich wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass ein Fernsehonkel nun seine Krebserkrankung vermarktet. Also habe ich sie erwähnt, aber nicht in den Mittelpunkt gestellt. Die Krankheit macht vielleicht zehn bis 15 Prozent des Buches aus.
Dennoch weiß nun fast jeder, der Sie kennt, dass Sie an Krebs erkrankt sind.
Meyer-Burckhardt: Krebs ist doch nichts, wofür man sich schämen muss. Auf der anderen Seite sollte man damit natürlich auch nicht vor die Tür gehen und damit kokettieren. Ich hoffe, dass mein Umgang mit der Krankheit Betroffenen Mut machen kann. Ähnlich war meine Überlegung, als ich öffentlich gemacht habe, dass ich von meinem Vater regelmäßig verprügelt wurde. Vielleich kann ich damit jemanden ermutigen, der das gleiche Schicksal erlebt, sich Hilfe zu suchen. Und sich nicht zu verkriechen.
Wie hat die Diagnose Ihr Leben verändert?
Meyer-Burckhardt: Ich wusste immer, dass das Leben endlich und kostbar ist. Aber dies war eher eine intellektuelle Erkenntnis, aus der seit dem 13. Oktober 2017 ein mich täglich begleitendes Gefühl gewachsen ist. Das ist etwas, was mich positiv animiert. Meine Frau und ich machen jetzt oft schöne Dinge. Die sind gar nicht spektakulär. Wir haben einen Fahrradträger für unseren Volvo gekauft und genießen es total, durch die Lüneburger Heide zu radeln. Ich freue mich über die Birken, die blühen, genieße den Duft der Natur. Ich mache das mit dem Gefühl eines satten, zufrieden lächelnden Babys.
Ihre Frau hat Ihnen geraten, den Karzinomen Namen zu geben. Nur Gegner mit Namen könne man bekämpfen. Aber dann hätten Sie doch eigentlich Namen wählen müssen, mit denen Sie Personen verbinden, die Sie nicht leiden können. Stattdessen heißen Ihre Karzinome nun nach Ihren beiden Lieblingsautoren Kafka und Shaw.
Meyer-Burckhardt: Da legen Sie den Finger in die Wunde. Denn eigentlich sind die Karzinome keine Gegner mehr, sondern meine Untermieter. Mit denen ich jetzt durchs Leben gehe. Das ist ja auch alternativlos. Ich habe mit ihnen eine friedliche Koexistenz geschlossen. Zwei Sätze aus meinem Buch geben dieses Gefühl gut wieder. Der eine lautet: „Seitdem ich so glücklich bin, bin ich häufiger traurig.“ Meinend, dass ich weiß, dass diese so schöne Lebensphase irgendwann vorbei sein wird. Der andere Satz lautet: „Seitdem ich nicht weiß, wie lange ich bleiben darf, gehe ich häufig früher.“ Ich bin kompromissloser geworden in der Gestaltung meiner Zeit.
Was bedeutet das?
Meyer-Burckhardt: Ich möchte meine Zeit nicht mehr mit Menschen verbringen, die auch nur einen Hauch Falschheit in ihrem Spiel haben.
Das muss schwierig in Ihrer Branche sein, die von schneller Nähe lebt.
Meyer-Burckhardt: Das stimmt. Wenn Sie Filme produzieren und Talkshows moderieren, brauchen Sie die Kunst des Verbindlichen und das Talent des Unverbindlichen. Das ist Segen und Fluch zugleich.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie zu Beginn Ihrer Zeit in Hamburg oft gehört haben: Wenn du hier einen Freund hast, dann hast du den für immer.
Meyer-Burckhardt: Am Anfang habe ich gedacht: Wie furchtbar, das klingt wie lebenslänglich. Ich kenne Ehepartner, die sich nicht trennen, weil sie finden, dass sich das nach so vielen Jahren nicht mehr lohne. Nein, eine Freundschaft hat unter Umständen ihre Zeit. Und verlangt manchmal die Kraft zu Abschied.
Sie engagieren sich als Pate für ein Hospiz. Viele Menschen bereuen in ihrer letzten Lebensphase, dass sie sich zu wenig Zeit für ihre Familie genommen haben. Wie wird das bei Ihnen sein?
Meyer-Burckhardt: Ich kann natürlich nicht antizipieren, was ich in den letzten Stunden sagen werde, bevor der Vorhang fällt. Da kann eine Bewusstseinsveränderung stattfinden, die ich jetzt nicht einschätzen kann. Aber Stand jetzt werde ich nichts bereuen. Wenn wie bei mir eine Ehe scheitert, ist das für alle Beteiligten ein sehr schmerzhafter Prozess. Und es gibt natürlich nie immer nur den einen Grund. Aber natürlich weiß ich, dass der Produzentenberuf alles andere als familienfreundlich ist. Aber er hat mich erfüllt. Warum sollte ich das bereuen? Und der Konjunktiv ist ohnehin nicht meine Lebensart.
Ihr Freund, „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo, sagt, Sie seien der optimistische Mensch, dem er je begegnet sei. Wenn Sie an einer Mülldeponie vorbeifahren, würden Sie irgendwo eine blühende Rose entdecken.
Meyer-Burckhardt: Es stimmt, ich habe kein Interesse an Pessimismus. Ich vermeide auch das Wort Problem. Wenn wir beide Kollegen wären, würden Sie das Wort Problem aus meinem Mund nicht hören. Mir geht es um Herausforderungen. Im Ruhrgebiet gibt es den schönen Satz: Irgendwas geht immer.
Wäre Corona ein guter Stoff für einen Film?
Meyer-Burckhardt: Die Buchverlage werden in einem halben Jahr nur noch Krimis veröffentlichen, die in Corona-Zeiten spielen. Es wird auch Romane und Serien mit Titeln geben wie „Liebe in Zeiten von Corona“. Die werden allesamt Ladenhüter, weil die Leute die Nase voll haben von dieser Pandemie. Ich werde das Thema Corona jedenfalls nicht anfassen. Weder als Produzent noch als Autor.
Eigentlich ist es erstaunlich, dass Sie ein so optimistischer Mensch geworden sind angesichts Ihrer schwierigen Jugend. Ihr Vater, ein Alkoholiker, hat Sie oft verprügelt, als Scheidungskind wurden Sie gehänselt.
Meyer-Burckhardt: Ich glaube, ich hatte sehr früh die Absicht, dass ich mich selber nicht traurig sehen will. Das heißt nicht, dass ich wie ein Animateur aus dem Robinson Club durch das Leben tanze. Ein Mensch, der nicht auch mal Angst hat, der nicht mal traurig ist, ist kein Mensch. Diese Phasen habe ich auch. Aber generell will ich mich nicht traurig sehen. Das ist eine Entscheidung, die ich getroffen habe. Und ich mag es auch nicht, mich selbst schwach zu sehen. Schon als Schüler mochte ich die klassischen Western, deshalb wollte ich später ja auch Filme machen. Das Gute und das Böse, das hat mich fasziniert. So war es ja auch daheim. Das Böse war mein Vater. Das Gute meine Mutter. Ich hatte das Glück eine Mutter zu haben, die einen vorbehaltlos liebt. Ich wollte ihr nie Scherereien machen. Sie musste in der Altenpflege das Geld verdienen, um uns durchzubringen. Und kam dennoch immer gut gelaunt nach Hause.
Als Zwölfjähriger haben Sie Ihren Vater rausgeworfen …
Meyer-Burckhardt: Ich bin an dem Tag über mich hinausgewachsen. Mein Vater hatte wieder zu viel getrunken, machte beim Mittagessen wieder seine reaktionären Sprüche. Dann bin ich aufgestanden und habe ihm gesagt: Du gehst jetzt. Er wollte mich wieder verprügeln. Aber dann ist er gegangen. Ich habe ihn nie wiedergesehen.
Gab es einen Versöhnungsversuch?
Meyer-Burckhardt: Er hat es versucht. Aber ich konnte nicht mal mehr Hass auf ihn empfinden. Dieser Mensch war in mir neutralisiert. Mit dem heutigen Wissen, was er in Russland durchgemacht hat, dass er amputiert wurde, würde ich es vielleicht anders sehen. Aber damals nicht. Er ist Mitte der 1980er-Jahre gestorben, ich war nie an seinem Grab.
Sie haben mit „Kündigung“ ein Buch über einen Workaholic geschrieben, der nach dem Verlust seines Arbeitsplatzes einen völligen Selbstverlust erlebt und in die gefühlte Bedeutungslosigkeit abstürzt. Spiegelt das auch eigene Erfahrungen?
Meyer-Burckhardt: Gar nicht. Ich bin sehr dankbar, dass ich zwei Zurückweisungen nie erlebt habe. Weder „Ich liebe dich nicht mehr“ im Privatleben. Noch „Ich brauche dich nicht mehr“ im Berufsleben. Ich habe auch aus freien Stücken meine Vorstandsposten bei Axel Springer und bei ProSiebenSat.1 aufgegeben. Es gibt ein Vorbild für diese Figur, aber dieses Vorbild war kein Springer-Manager. Ich habe diesen Mann allerdings während meiner Springer-Zeit kennengelernt und erlebt, dass er sich nur über den Job definierte. Das fand ich spannend.
Wie verläuft ein Fernsehabend bei Ihnen?
Meyer-Burckhardt: Meine Frau und ich haben uns meist so viel zu erzählen, dass wir viele Wendungen verpassen. Sie ist ja wie ich Autorin und war Chefredakteurin. Der Gesprächsstoff geht uns nie aus.
Und wie ist es beim „Tatort“?
Meyer-Burckhardt: Ich bin kein Krimi-Fan. Da fällt am Anfang irgendjemand tot um. Und wir fragen uns 85 Minuten: Wer war der Täter? Dieses Gesellschaftsspiel hat mich nie interessiert. Entsprechend wenig Thriller habe ich auch produziert. Mich interessiert einfach nicht, wer der Mörder ist. Ich bin im Freundeskreis fast isoliert, weil ich nur von „Tatort“-Fans umgeben bin. Stattdessen bin ich ein totaler Talkshow-Junkie. ich gucke Lanz, Maischberger, Plasberg, Illner, Will, alles.
Gibt es nicht viel zu viele Talksendungen?
Meyer-Burckhardt: Diese Frage finde ich immer spannend, weil sie nur beim Talk gestellt wird. Niemand fragt: Gibt es zu viele Krimis? Niemand fragt: Gibt es zu viele Komödien? Dieses Programmdirektoren-Gen, was manche Journalisten in sich tragen, finde ich absurd. Wir Fernsehleute fragen die Printleute doch auch nicht, warum in Bahnhofskiosken Hunderte Zeitschriften und Zeitungen liegen und ob man die alle wirklich braucht. Stattdessen sagt man da mit Recht: Was für eine tolle Vielfalt.
Durch die Pandemie finden Ihre NDR-Talksendungen derzeit ohne Publikum statt. Reinhold Beckmann hat in seiner Reihe von sich aus auf Publikum verzichtet, weil er die Sendungen dann intimer fand.
Meyer-Burckhardt: Da ist was dran. Ich fand die Atmosphäre ohne Publikum bei uns sehr konzentriert. Ich kann mir vorstellen, dass wir auch in der Nach-Corona-Zeit bei besonders schwierigen Gesprächen mal auf Publikum verzichten. Was mich aber wirklich stört, ist der große Abstand zu unseren Gästen. Man kann nicht jemandem mal die Hand auf den Unterarm legen und sagen, zu diesem Thema kommen wir gleich.
Wie einigen Sie sich mit Barbara Schöneberger, wer welchen Gast übernimmt?
Meyer-Burckhardt: Das entscheidet die Redaktion. Und wir legen dann fest, wer eröffnet – heute mal du, das nächste Mal wieder ich. Die ganze Atmosphäre in der Redaktion, mit den Autoren, zwischen Barbara und mir, ist wirklich das Paradies. Wir haben mal unterschiedliche Auffassungen, logischerweise hier und da. Aber wir hatten in zwölf Jahren Zusammenarbeit nie einen Streit, nie einen Konflikt. Es passiert ja höchst selten, dass man sich mit Menschen im Berufsleben befreundet. Das ist zwischen mir und Barbara passiert. Wir haben uns gerade wieder Buchtipps gegeben.
In Ihrem Buch schreiben Sie: „Neulich, nach zwölf Jahren Freundschaft und Zusammenarbeit, sagte sie, dass wir, wenn wir nicht endlich mal miteinander ins Bett gehen, sie nicht mehr wolle und ich nicht könne. Das Schlimme ist, sie hat recht.“
Meyer-Burckhardt: Dem ist nichts hinzuzufügen. Jetzt bin ich auf Ihre Frage gespannt.
Okay, der Punkt geht an Sie … Welche Frage würden Sie jetzt als Talk-Gastgeber stellen?
Meyer-Burckhardt: Da werde ich Ihnen jetzt nicht helfen. Aber im Ernst. Unsere Freundschaft bezieht unsere beiden Ehepartner mit ein. Es ist bei „Harry und Sally“ ja untersucht worden, ob Mann und Frau auch nur befreundet sein können. Dieser Beweis ist mit Barbara Schöneberger und mir hiermit erbracht.
Vermissen Sie die Skandale bei früheren Talksendungen? 1985 fragte Klaus Kinski die Moderatorin Alida Gundlach immer wieder nach ihrer Unterwäsche. 1987 enthüllte die italienische Pornodarstellerin Ilona Staller ihren Busen vor laufender Kamera. Alles leider vor Ihrer Zeit als Talk-Gastgeber passiert.
Meyer-Burckhardt: Mit dieser „Früher war mehr Skandal“-Theorie kann ich gar nichts anfangen. Das würde doch heute keine Sau mehr interessieren. Charlotte Roche, die Autorin von „Feuchtgebiete“, hat in unserer Sendung über Schamlippen-Piercing gesprochen und mir gesagt, dass ihr Buch doch für mich eine prima Wichs-Vorlage sei. Da wäre vor 20 Jahren der Rundfunkrat zusammengetreten. Heute kriegen Sie dazu noch nicht mal eine Mail. Eine Talkshow ist das Spiegelbild der Gesellschaft, in der sie stattfindet. Die großen ideologischen Kämpfe bei uns sind Gott sei Dank vorbei. Ein anderer Vorwurf nervt mich allerdings noch mehr …
Welcher?
Meyer-Burckhardt: Dass unsere Gäste ja nur kommen, wenn sie etwas zu verkaufen haben. Dieser Vorwurf ist in sich einfach absurd. Wenn ich einen Sänger in die Sendung einlade, der nie singt, oder einen Autor, der gar nicht sagt, welches Buch er gerade geschrieben hat, würden die Zuschauer doch fragen, warum sind die Gäste überhaupt da. Wenn Til Schweiger zu uns kommt, will er natürlich seinen neuen Film über Bastian Schweinsteiger vorstellen. Und dann zeigen wir auch einen Ausschnitt aus diesem Film, das ist doch völlig klar. Die Kritik daran ist so wohlfeil und verlogen.
Reden wir noch über Frauen. Sie haben ein ganzes Buch über Ihre Begegnung mit starken Frauen geschrieben. Sind Sie ein Frauenversteher?
Meyer-Burckhardt: Ich mag das Wort Frauenversteher nicht, weil es impliziert, dass Frauen alle einen Charakter haben. Blödsinn. Es gibt viele Frauen, die ich nicht verstehe, Frauenversteher hat was unglaublich Arrogantes.
Aber ich bin zwischen zwei sehr starken Frauen groß geworden, meiner Mutter und meiner Großmutter. Frauen, die ihrer Zeit weit voraus waren. Und ich bin sicher, dass die Welt friedlicher wäre, wenn es mehr weibliche Regierungschefs geben würde. Denken wir nur an die USA, an Russland, Brasilien oder die Türkei.
Was haben Sie von starken Frauen gelernt?
Meyer-Burckhardt: Von meiner Mutter habe ich gelernt, dass nicht geklagt wird, dass man nicht durchhängen sollte. Sie hat zu mir gesagt: Wenn du wirklich traurig bist, kannst du immer zu mir kommen. Aber dann sollte es auch wirklich um ein richtiges Problem gehen. Nicht nur, weil man gerade den Blues hat.
Und dann habe ich gelernt, dass sich Frauen immer mehr über die Person und Männer mehr über die Funktion definieren. Wenn Frauen älter werden, das sehe ich mit großer Sympathie und Liebe auch bei meiner eigenen Frau, werden die Frauen oft anarchischer, humorvoller, radikaler und lustbetonter. Und die Männer häufig bedeutungsschwanger. Männer finden es verdrießlich, dass die Funktion im Alter dann häufig weg ist. Ich habe es mehr als einmal bei älteren männlichen Talkshow-Gästen erlebt, dass sie mich vor der Sendung zur Seite gezogen haben, so als ob man mir Rauschgift verkaufen wolle. Dann hieß es: Könnten Sie gleich noch einmal erwähnen, dass ich in meiner Laufbahn dies und das erreicht habe?
Diese Bitte habe ich von einer Frau noch nie gehört.
Antworten männliche Gäste bei Ihnen anders als bei Barbara Schöneberger?
Meyer-Burckhardt: Es wäre doch doof, wenn sich ein Mann von einer so klugen und schönen Frau nicht etwas bezirzen ließe. Er wird jetzt wahrscheinlich in der Substanz keine andere Aussage treffen, aber sich anders ausdrücken.
Sie sagen über sich selbst, dass Sie zwei Macken haben. Eine Macke ist, dass Sie nur Zahnpasta, die Sie im Ausland gekauft haben, benutzen.
Meyer-Burckhardt: Das stimmt, derzeit benutze ich eine aus Schweden. Einmal hatte ich eine aus Thailand, giftgrün, die war schrecklich. Aber ich habe die komplette Tube verbraucht, das ziehe ich dann durch.
Die andere Macke besteht darin, dass Sie überall auf der Welt Steine sammeln und dann in Ihrer Heimatstadt Kassel verteilen.
Meyer-Burckhardt: Wenn ich heute bei einer Fahrt Richtung Süden an Kassel vorbeifahre, dann denke ich, dort liegen bestimmt 400 Steine, die ich überall auf der Welt gesammelt und anschließend im Habichtswald verteilt habe. Gerade liegen wieder zehn Steine bei mir in der Schublade, die darauf warten, dass ich sie dort freilassen werde. Manche sind so klein, die passen in mein Portemonnaie. Sie könnten mir zehn Millionen Euro bieten, ich würde dennoch nicht mal 80 Prozent wiederfinden. Denn manche Steine schmeiße ich auch einfach ins Dickicht. Die Vorstellung, dass sich vielleicht in 200 Jahren ein Geologe fragt, warum da ein Stein aus Russland liegt, amüsiert mich. Das ist ein Stück Unsterblichkeit, das ich mir leiste.
Das Buch:
Die Warnung steht im Klappentext: „Dies ist kein Roman, keine Biografie, keine Erzählung. Es ist das, was Unfallopfer berichten, wenn das Leben in Sekundenschnelle an einem vorbeizieht.“
„Diese ganze Scheiße mit der Zeit – meine Entdeckung des Jetzt“ (Gräfe und Unzer, 19,99 Euro) hat Hubertus Meyer-Burckhardt sein im vergangenen Jahr erschienenes Buch genannt. Ungefähr die Hälfte hatte er bereits geschrieben, als er im Oktober 2017 von der Krebsdiagnose erfuhr. Mit seiner Krankheit beginnt und endet das Buch. Im Mittelpunkt aber steht eine Zeitreise durch das Leben. Es schließt mit dem Satz: „Das Leben ist eine leicht verderbliche Ware und nur zum sofortigen Verzehr geeignet.“
Im Anhang spricht der Autor über den „Soundtrack zu meinem Lebensfilm“. Rod Stewart habe zu jeder Phase genau das passende Lied geschrieben, etwa „She Makes Me Happy“ („Sie macht mich glücklich“), als er 2012 seine spätere Frau Dorothee Röhrig kennenlernte.