Hamburg. 2020 wird in die Geschichte eingehen. Für Redakteurin Juliane Lauterbach Grund, diese Zeit in einem Corona-Tagebuch festzuhalten.
Erst schien das Coronavirus weit weg zu sein – doch von einem Moment auf den anderen waren wir alle mittendrin. Die Einschnitte kamen Schlag auf Schlag. Und sie trafen alle gleichermaßen und doch jeden anders. Jeder wird irgendwann seine eigene Corona-Geschichte erzählen. Und eine von ihnen beginnt so:
27. Februar: Hamburg
Wir haben an diesem Abend Besuch zum Kartenspielen, als ich auf dem Handy eine Eilmeldung sehe: erster Corona-Fall in Hamburg. Ich lese laut vor. Einer der Gäste, ein Arzt, sagt: „War ja klar. Aber lustig wird das erst, wenn die Stadt die Kitas dichtmacht.“ Und dann spielt er einfach weiter. Das kann ja nur ein Witz gewesen sein.
8. März: 4 Neuinfektionen in Hamburg
WhatsApp-Nachricht von einer Freundin: Wollen wir uns mit den Kindern auf dem Spielplatz treffen? Ich antworte: Wir sind gerade auf dem Weg in den Skiurlaub. Kommen nächste Woche wieder. Dann gern!
10. März: Bayern
Einen Tag Pause von der Skipiste. Wir schauen uns Schloss Neuschwanstein an und gehen danach in ein öffentliches Schwimmbad. SMS von meiner Mutter: „Irgendwas von Corona zu spüren im Allgäu?“ Ich antworte: „Nö.“
13. März: 43 Neuinfektionen in Hamburg
Am frühen Morgen machen wir uns auf den Weg aus dem Allgäu zurück. Und starten in einer normalen Welt. Einer Welt, die mit jedem Kilometer Richtung Heimat in sich zusammenfällt. Auf der Fahrt lesen wir uns die Nachrichten vor: Schule und Kitas schließen; die Geburtstagsparty, auf der ich am selben Abend eingeladen bin: abgesagt; das mit Freunden geplante Wochenende an der Nordsee: abgesagt. Was bedeutet das alles? Ich schreibe an die Redaktion: „Ich kann dann nächste Woche nur am Nachmittag reinkommen.
Am Vormittag muss ich auf das Kind aufpassen.“ Antwort: „Bitte vorerst gar nicht mehr reinkommen und lieber von zu Hause aus arbeiten.“ Okay… Ich schreibe eine WhatsApp-Nachricht an eine Freundin aus der Kita: „Wir müssen uns die Tage mal zusammensetzen und überlegen, wie wir uns zusammentun mit den Kindern, wenn die Kita dicht hat.“ (Mir ist die Nachricht heute peinlich. Ich hatte es einfach nicht begriffen.)
14. März: 35 Neuinfektionen in Hamburg
An diesem Abend begleite ich für eine Reportage zwei Polizisten der Soko „Autoposer“ bei ihrem Dienst. Einer der beiden Beamten möchte mir nicht die Hand geben. Ich finde das befremdlich. Die Kontrollfahrt, die ich mit einem Kollegen zusammen begleite, führt uns auch auf den Kiez. Hier ist alles so weit normal. Bars gut gefüllt, türkischer Imbiss lecker.
15. März: 38 Neuinfektionen in Hamburg
Ich gehe mit meinem Kind auf den Spielplatz. Wie viele andere auch. Wir treffen einen Bekannten, tauschen uns etwas aus. Irgendwann schaut mich der Vater ernst an: „Dürfen wir eigentlich hier sein?“ Ich sage: „Ich weiß es nicht.“ Wenig später verlassen wir den Spielplatz. Nach ein paar Metern drehe ich mich noch einmal um, so wie man es bei einem Abschied tut. Und man weiß, dass man sich lange nicht sehen wird.
Und so kommt es auch. Später an diesem Tag erfahre ich: Öffentliche und nicht öffentliche Veranstaltungen sind verboten, Restaurants dürfen nur öffnen, wenn Abstand eingehalten werden kann, Clubs und Discos schließen, Theater, Kinos, Museen, Sportbetrieb auf allen öffentlichen und privaten Sportanlagen. Ach ja, und Spielplätze natürlich auch.
16. März: Deutschland macht die Grenzen dicht
Gute Freunde von uns Hamburgern haben ein Haus in Schleswig-Holstein, das sie seit einer ganzen Weile schon renovieren. Auch jetzt sind sie da, und in ihrem Ort stört das auch niemanden. Aber dann das: Unter anderen Nordfriesland und Ostholstein fordern Zweitwohnungsbesitzer per Allgemeinverfügung auf, ihre Kreise zu verlassen. Weil unsere Freunde nichts Illegales tun wollen, kommen sie zurück – und können die Welt nicht verstehen … Statt auf dem Land im Garten, sitzen sie nun mit dem kleinen Kind in der Stadtwohnung fest. Kann das so richtig sein? Und apropos richtig: Dass mir Bekannte jetzt in den frühen Morgenstunden verschämt und nicht grüßend mit drei Paketen Klopapier unter dem Arm entgegenkommen, lasse ich einfach mal unkommentiert ...
17. März: 52 Neuinfektionen in Hamburg
Mein Bruder schickt mir einen Link zu, in dem steht, dass die Corona-Krise bis 2021 dauern kann. Ich lese die Zahl 2021. Immer wieder. Und kann es mir nicht vorstellen. Als ob in meinem Kopf eine Schranke runtergeht. Es kann nur eine Erklärung geben: Es stimmt nicht. Ich ahne, dass es so einfach nicht ist. Aber alles andere halte ich nicht aus.
18. März: 102 Neuinfektionen in Hamburg
Nachmittags bin ich in der Kinderboutique um die Ecke. Die Verkäuferin sagt: „Wir sollten einfach mal zwei Wochen lang alles dichtmachen – und dann ist doch gut.“ Das glauben jetzt viele. (Bis heute ist mir nicht klar, woher die Annahme mit den zwei Wochen genau kam. War das jemals eine Option? Also eine echte?)
20. März: 158 Neuinfektionen in Hamburg
Okay, das Wort Allgemeinverfügung muss ich mir offensichtlich merken: Die von heute besagt: Ansammlungen von mehr als sechs Leuten im öffentlichen Raum sind untersagt, Gaststätten müssen schließen. An diesem Tag schreibe ich in einer WhatsApp-Nachricht: „Wenn ich wüsste, dass das in vier Wochen vorbei ist, würde ich das irgendwie einfach schlucken. Aber so fällt es mir wirklich schwer, das so zu akzeptieren.“
22. März: 119 Neuinfektionen in Hamburg
Kontaktverbot. Noch so ein Wort! Das besagt nun, dass man nur noch mit Menschen draußen sein darf, die im selben Haushalt leben, oder einer Person aus einem anderen Haushalt. Das ist: wenig … Einziger Lichtblick heute könnte das hier werden: Musiker hatten im Netz dazu aufgerufen, um 18 Uhr von den Balkonen „Freude schöner Götterfunken“ zu spielen. Ich schnappe meine Gitarre, setze mich pünktlich auf den Balkon. Und komme mir albern vor. Doch da öffnet sich auch auf der Straßenseite gegenüber die Balkontür. „Freude?“, ruft er rüber und zeigt auf seine Gitarre. Ich rufe: „Lieber Beatles.“ Und dann fangen wir einfach an. Beatles, Simon & Garfunkel und viele mehr. Etwa 20 Menschen hören auf den Balkonen zu. Ein riesengroßer Glücksmoment an diesem sonst so tristen Tag.
23. März: 102 Neuerkrankungen in Hamburg
Unsere Freunde mit der Wohnung in Schleswig-Holstein hätten mal dableiben sollen statt zu gehorchen. Denn: Wären sie einfach nicht weggefahren, dürften sie nun weiter bleiben. Erneut nach Schleswig-Holstein dürfen sie aber nicht mehr. Kann das wirklich richtig sein? Jemand von der Behörde gibt ihnen den Tipp: „Am besten immer Werkzeug im Auto dabeihaben, das sieht nach Handwerkerarbeiten aus.“ Ah ja ...
24. März: 248 Neuinfektionen in Hamburg
Ich gehe jetzt am Vormittag immer mit meinem Sohn eine Runde mit dem Laufrad raus. Was sollen wir auch sonst machen? Wir können ja nicht nur in der Bude hocken. Aber da draußen weht ein eisiger Wind. Es ist kein Spaß mit einem Kind, das in Schlangenlinien auf dem Bürgersteig fährt, unterwegs zu sein. Heute starte ich selbstbewusst: Sollen die Leute doch Abstand halten, das ist doch ein Kind, und ich kann es schlecht anleinen. Doch der ersten Ecke gerät mein Sohn recht nah an einen Mann. Der zischt: „Na, das hat ja wohl mal überhaupt nicht geklappt!“ Okay, andere Taktik: Das Kind muss jetzt lernen, besser zu fahren. Ich halte es alle paar Meter fest und sage: „Du musst aufpassen, Platz machen, du darfst nicht so schnell fahren.“ Nun kommt ein anderer Mann vorbei und schüttelt den Kopf: „Das ist doch ein Kind, da können doch die Älteren Platz machen.“ Wie man es macht ...
25. März: 213 Neuinfektionen in Hamburg
Nach den ersten Tagen im Homeoffice bin ich völlig geschafft – und schreibe eine Story als Protokoll auf, wie anstrengend es ist, Kind und Arbeit zu managen, wenn weder Kita noch andere einem was abnehmen. Prompt bekomme ich bei Facebook und per Mail ordentlich Gegenwind („Es ist schon erstaunlich, wie überfordert Frau Lauterbach ist. Man kann nur hoffen, dass dieses Negativbeispiel nicht stellvertretend für viele Eltern ist, die im Homeoffice tätig sind“/ „Noch Zeit für ein Minutenprotokoll gefunden?“) und habe nun zusätzlich ein schlechtes Gewissen, weil ich die Zeit nicht „genießen“ kann mit dem Kind zu Hause. Und wütend bin ich auch. Auf alle. Und alles.
26. März: 164 Neuinfektionen in Hamburg
Eine Freundin schreibt mir, dass ein Bekannter von ihr einen Schrebergarten habe, den wir ein paar Wochen nutzen könnten. Das wäre doch die Lösung! Für ganz schön vieles. Zum Beispiel dafür, dass mein Kind sich mal wieder frei bewegen kann. Und ich sehe mich Kräuter zupfend und glücklich Hecken schneidend, während der Kleine auf dem Baum herumklettert. Der Garten ist nicht besonders gut in Schuss, die Laube ziemlich runtergekommen, und der Sandkasten fällt fast auseinander. Aber es fühlt sich an wie das Paradies. Ich taufe es auf den Namen Coronien.
29. März: 143 Neuinfektionen in Hamburg
In manchen Momenten weiß ich nicht mehr, was ich denken soll. Ich ändere meine Meinung mehrmals am Tag, je nachdem, mit wem ich spreche, was ich gerade gelesen oder im Fernsehen geschaut habe. Das geht dann etwa so: Herdenimmunität ist das Zauberwort. Man sollte die Maßnahmen schnell lockern. Ja, genau. Stopp! Das ist viel zu gefährlich, man muss doch die Alten schützen. Um jeden Preis. Nein, alles hat seine Grenzen. Man muss über den Grenznutzen der Maßnahmen sprechen. Das darf man noch nicht mal denken!
Man muss darüber nachdenken dürfen! Nein! Doch! Nein! Doch! Lasst es uns machen wie in Schweden! Da geht es doch auch. Da geht es überhaupt nicht! Wenn man die Zahlen hochrechnet, dann wäre das hier eine Katastrophe. Wäre es? Ich war immer schlecht in Mathe. Wir sollten alle Mundschutz tragen! Na ja, es kommt drauf an. Die, die nicht zur Risikogruppe gehören, sollen sich doch anstecken. Wer soll denn das bitte sein? Alle sind Risikogruppe. Nein! Für Kinder ist es nicht gefährlich. Das weiß man doch noch gar nicht!
Welche Rolle das Alter spielt, ist unklar. Die Risikogruppe ist nur 60 plus. Und Raucher. Quatsch! Eine Studie sagt, dass Nikotin sogar eine schützende Wirkung haben könnte. Soll ich jetzt wieder anfangen mit dem Rauchen, oder was? Natürlich nicht. Viel wichtiger: Wir sollten Schulen wieder öffnen. Das dürfen wir auf keinen Fall! Lehrer zählen auch zur Risikogruppe. Na und? Kassiererinnen müssen ja auch zur Arbeit. Wir sollten besser gutes Homeschooling machen. Aber wer geht dann arbeiten, wenn die Kinder alle zu Hause sind? Das geht nicht. Die Kitas müssen öffnen! Aber ... und so weiter.
30. März: 136 Neuinfektionen in Hamburg
Alle reden nun davon, dass die Maßnahmen bis zum 20. April dauern sollen. Das sind noch mehr als drei Wochen. Immerhin: Mein Sohn bleibt nicht mehr vor jedem Spielplatz stehen. Vor der Kita auch nicht mehr. Manchmal beneide ich ihn darum, dass er einfach alles so nimmt, wie es ist. Die Dinge haben keinen Grund. Die Kita hat zu, weil die Kita zu hat, wir gehen nicht mehr auf Spielplätze, weil wir nicht mehr auf Spielplätze gehen, und wir waschen uns so oft die Hände, weil wir das so toll finden.
31. März: 76 Neuinfektionen in Hamburg
Wir sitzen abends auf dem Sofa und schauen in eine Netflix-Serie rein. „Unorthodox“ heißt die, bisschen sperriges Thema, aber gut. Immer wieder ertappe ich mich bei allen möglichen Szenen dabei, dass ich denke, dass die da ganz schön nah beieinanderstehen. Auch am Badesee. Und das in ganz und gar ungechlortem Wasser.
1. April: 147 Neuinfektionen in Hamburg
Ich stehe an der Schlange im Supermarkt, mein Blick fällt auf das Cover einer Frauenzeitschrift. Titel: „Kochen für Gäste. Gemeinsam schmeckt’s am besten“. Welche Gäste genau? Kein Produktionsteam der Welt hätte voraussehen können, dass dieser banale Satz einmal so aus der Zeit fallen kann.
2. April: 120 Neuinfektionen in Hamburg
Jetzt also doch: Das Robert-Koch-Institut ändert seine Meinung. Man soll jetzt doch Masken tragen. Ah ja ... Schützen die jetzt plötzlich besser? Im Grunde ist es ja egal. Wenn eh schon alles doof ist, ist es auch egal, dass ich mir noch so ein Ding aufsetzen muss. Eigentlich. Doch irgendwie spüre ich inneren Widerstand und weiß nicht, warum.
Coronavirus-Pandemie – Bilder der Krise
3. April: 182 Neuinfektionen in Hamburg
Schockstarre und Tatendrang wechseln sich ab. Es ist zumindest in dieser frühen Phase irgendwie lustig, per Videokonferenz Kontakt zu Freunden zu halten. Wir erzählen uns beim Wein, wie wir unseren neuen Corona-Alltag bestreiten. Wir sind erschöpft, aber froh, dass wir uns zumindest so austauschen können. Es fühlt sich dennoch absurd an. Das alles.
5. April: 137 Neuinfektionen in Hamburg
Wie inzwischen jeden Sonntagabend gehe ich um 17.58 Uhr auf den Balkon und sehe eine leere Straße. Ich höre auf damit. Ich mache das nicht mehr. Niemand kommt mehr. Das ist peinlich. Ich geh wieder rein. Und um Punkt 18 Uhr spiele ich dann doch. Vor gar nicht mal so wenigen Menschen. Und das heißt ja in diesen Zeiten: mehr als zwei. Und während ich „far, far away“ singe, frage ich mich, wie viele Menschen eigentlich eine Ansammlung sind. Ist das da unten eine? Oder nicht? Oder sind das einfach Menschen, die mit viel Abstand auf einer Straße stehen? Und dann singe ich „Über den Wolken. Muss die Freiheit wohl grenzenlos sein.“ Klingt kitschig. Ist es auch. Aber auch schön.
7. April: 129 Neuinfektionen in Hamburg
Für das Hamburger Abendblatt spreche ich mit Einzelhändlern und wie sie die Pandemie trifft. Es ist fürchterlich. Viele sagen: Wir schaffen das so nicht. Der Corona-Rettungsschirm greift bei uns nicht oder nicht ausreichend. Ein Freund, der ein Reisebüro betreibt, weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll. Ein anderer Freund, der Musiker ist, weiß nicht, wie er seine Miete zahlen soll. Eine Freundin kommt fast um vor Sorge um ihr Kleinkind, das aufgrund einer Erkrankung zur Hochrisikogruppe zählt. Ich werde nicht mehr meckern! Bei mir zu Hause sind alle gesund, und wir haben Arbeit. Alles gut!
9. April: 148 Neuinfektionen in Hamburg
Die Ergebnisse der sogenannten Heinsberg-Studie sind da. Dort hatte es ja zu Anfang besonders viele Fälle gegeben. Ergebnis: Rund 15 Prozent der Menschen dort könnten infiziert gewesen sein. Die Todesrate würde „nur“ noch bei 0,37 Prozent legen. Virologe Hendrik Streeck sagt: Lockerungen sind möglich! Ich denke an: Kitas, Schulen, Restaurants, Geschäfte. Aber vor allen Dingen an die Kitas. Jeder hat eben seine Brille auf. Und meine heißt: Ohne Kita ist kein echtes Arbeiten möglich. Und eine altersgerechte Kinderbetreuung auch nicht, wenn dabei gearbeitet werden muss.
10. April: 124 Neuinfektionen in Hamburg
Eine Freundin schreibt mir, dass sie sauer wird, wenn jemand im Supermarkt telefoniert, weil über das Sprechen auch Viren übertragen werden. Wir streiten uns nicht, aber ich halte dagegen: Sprechverbot gibt’s ja schließlich nicht. Und solange der Abstand gewahrt wird, ist doch alles gut – höre ich mich sagen, und es klingt doch genervt. Das bin ich schnell in diesen Tagen. Von der Panik, die ich nun bei vielen spüre. Dabei weiß ich doch auch nicht, was richtig ist. Ich hab eine Freundin, die mag mit ihrem Kind nicht mehr auf die Straße gehen, weil ihr alles zu eng ist. Und eine andere, die sagt: „Wenn mein Kind auf dem Laufrad unterwegs ist, dann ist doch immer 1,50 Meter Abstand.“ Wieso? „Na, Abstand nach oben. Wieso denken denn immer nur alle in die Breite?“ Welche Freundin hat recht? Keine Ahnung. Ich bin müde davon, zu allem eine Haltung haben zu müssen.
12. April: 78 Neuinfektionen
„Wir sind jetzt viel im Garten.“ Höre ich mich sagen. Ich hatte immer geahnt, dass ich eigentlich einen grünen Daumen habe. Das ist so richtig toll! Klar, dass wir auch Ostersonntag hier verbringen. Hier in Coronien, wo es nur eine Allgemeinverfügung gibt: Einmal am Tag gibt’s Eis. Bisher haben wir uns noch immer dran gehalten.
13. April: 70 Neuinfektionen in Hamburg
Mein Handy brummt. Neuer Eintrag in der Mütter-WhatsApp-Gruppe. Da steht: „Okay, dann bleibt wohl nichts anderes, als sich bis zu den Sommerferien krankschreiben zu lassen.“ Hä? Was ist da los? Ein weitergeleiteter Link führt zum Gutachten der Leopoldina-Akademie. Merkel hatte gesagt, dass das wichtig sei. Und da steht: Kitas bis zu den Sommerferien dicht, nur Notbetrieb. Noch mehr als zwei Monate??? Kann mir mal jemand einen Schnaps bringen?
15. April: 53 Neuinfektionen in Hamburg
„Epidemologisch gesehen ist jede Lockerung falsch“, schmeißt mir Michael Meyer-Hermann im „Heute-Journal“ entgegen. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Zusammengefasst sagt er etwa das: Ist ja toll, dass die Zahlen nun niedrig sind, aber das heißt auch, dass sich in diesem Jahr maximal zehn Millionen Menschen anstecken. Und für eine Herdenimmunität bräuchte man das Fünf- bis Sechsfache.
Okay... Mit dieser Taktik würde eben nur ein Impfstoff Lockerungen möglich machen. Aber was, wenn es keinen Impfstoff gibt? Ich bin kein Epidemiologe und kein Politiker und kein Virologe, aber bei mir löst die Vorstellung Beklemmungen aus, dass wir gerade mit Plan A auf Sicht fahren, ohne dass es einen Plan B gibt. Kann jetzt nicht einfach noch ein anderer Experte kommen, der das Gegenteil behauptet? Aber dann ist die Sendung vorbei. Und ich bleibe noch eine ganze Weile im dunklen Wohnzimmer sitzen.
16. April: 86 Neuinfektionen in Hamburg
Wir machen jetzt jeden Abend einen Video-Anruf bei den Großeltern. Und jedes Mal steht die Frage im Raum: Wann können wir uns endlich mal wiedersehen? Wir wollen gegen keine Gebote verstoßen, aber der Wunsch, sich zu sehen, wächst immer mehr. Die Großeltern haben ihren Enkel sonst häufig hier in Hamburg besucht, und wir waren oft auch bei ihnen in Friesland.
Aber egal, wie wir überlegen, wir landen immer bei demselben Punkt: Mit einem Zweijährigen kann man keinen Abstand halten. Allein die Vorstellung, dass wir es versuchen, ist absurd. Im Bekanntenkreis wollten es welche durchziehen und haben die Enkelkinder nur zum Winken bis zum Gartenzaun gelassen. Für mich ist klar: Das mache ich nicht! Also vertagen wir – mal wieder.
23. April: 63 Neuinfektionen in Hamburg
Der Garten ist passé! War von Anfang an klar, dass wir ihn nur ein paar Wochen haben können, aber die Stimmung ist trotzdem mies. Ich stehe mit meinem Sohn am Isebekkanal, und wir werfen Stöcker ins Wasser. Juchu! Eine ältere Frau fragt, ob das sein müsse. Ich gucke kurz zur Seite und sage: „Ja!“
25. April: 31 Neuinfektionen in Hamburg
Ich treffe Bekannte auf der Straße und frage, wie es geht. Ganz gut – seit die Kinder wieder in der Kita seien. Solche Gespräche gibt es nun immer häufiger. Wieso machen wir es uns so schwer? Wir zählen doch als Journalisten zu den systemrelevanten Berufen. Aber immer wenn ich kurz davor bin, zum Telefon zu greifen, denke ich: Wenn er erst mal in der Kita ist, dann werden wir doch auf gar keinen Fall mehr zur Oma fahren können. Oder?
26. April: 47 Neuinfektionen in Hamburg
Eine einzige Mail von der Arbeit bringt mich dazu, in Tränen auszubrechen. Ich hatte ein doofes Foto geschickt, zu dunkel, zu unscharf. War mir auch klar, aber ich habe eben gleichzeitig noch die siebte Feuerwehrautopanne an diesem Tag gewuppt, getröstet, Auas weggepustet und Mittagessen vom Fußboden entfernt. Ich sitze mit einem zappelnden Kind auf dem Schoß da und versuche, irgendwie diesen Text fertig zu bekommen. Heute klappt nichts. Und die E-Mails kommen trotzdem. Frag noch mal hier, frag noch mal da! Kannst du da noch kurz nachhaken? Es geht einfach nicht. Das war von Anfang an der Fehler: die Annahme, dass Arbeiten und Kleinkindbetreuung zu Hause geht. Und ich möchte keine Geschichten mehr hören von lieben Kindern, die stundenlang basteln und malen. Mich freut das sehr! Glückwunsch! Oder eher: Glück gehabt. Hier klappt das leider nicht. Interessiert das eigentlich irgendjemanden? Jetzt gerade offenbar nicht. Hauptsache, wir können wieder konsumieren. Super! Doch da kommt plötzlich die ganz liebe Antwortmail aus der Redaktion: „Das tut mir so leid! Ich vereinsame hier im Homeoffice ... Würde dir gerne mal das Kind abnehmen, wenn ich könnte. Also Kopf hoch.“ Und dann ist – einen Moment lang – doch wieder alles gut. Es trifft halt alle. Nur alle anders.
27. April: 22 Neuinfektionen in Hamburg
Von heute an gilt die Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr und beim Einkaufen. Ich werde mich immer an alles halten, aber ich versuche, das Thema auszublenden. Ich will mich nicht damit beschäftigen, wo ich schöne Masken herbekomme. Ich trage sie, aber ich finde sie doof. Ich komme mir wie ein Kleinkind vor, das einfach keine Mütze tragen will.
28. April: 24 Neuinfektionen in Hamburg
Ich schaue die Fotos der vergangenen Wochen an und denke: Wir haben es uns auch schön gemacht in dieser verrückten Zeit. Wir haben entlegene Elbstrände entdeckt und Wälder zu Spielplätzen gemacht, viel öfter gemeinsam gegessen (Abendbrot wie früher), das neue Kochbuch ist quasi durchgekocht und – Achtung: Die Wohnung hat nun auch Pflanzen!
29. April: 42 Neuinfektionen in Hamburg
Meine Mutter erzählt, dass bei den Bekannten auch die Enkelkinder da waren. Die hätten sogar bei der Polizei gefragt, ob das okay ist. Und die sagte, es geht, weil es die Kernfamilie sei. Ja, aber ich dachte: #Staythefuckhome? Was denn nun? Überträgt sich das Virus etwa nicht, wenn man sich lieb hat? Natürlich Quatsch. Das weiß ich ja. Und die Großeltern auch. Und dann packe ich die Reisetasche ...
9. Mai: 13 Neuinfektionen
Anruf von einer Freundin: „Tut mir total leid, dass das jetzt noch so lange dauert mit eurem Kind und der Kita.“ What? Was meint sie? Eben sei der Kita-Plan verkündet worden. Demnach ist unser Sohn Ende Juli dran. Ende Juli! An diesem Tag fassen wir einen Entschluss, und der heißt: Notbetreuung! Ab kommender Woche. So geht es nicht mehr weiter. Jedenfalls nicht bis Juli.
13. Mai: 3 Neuinfektionen in Hamburg
Die Restaurants dürfen wieder öffnen. Zumindest in dem Stadtteil, in dem ich lebe, führt das dazu, dass es wirkt, als wäre alles wie immer. Weißweinschorle in der Sonne, abends noch ’ne Pizza essen gehen. Das alles tut so gut. Ich nutze das gleich aus und gehe mit meinem Sohn ein Eis essen. Mit Sitzenbleiben. Verrückt! Mit guter Laune laufen wir Hand in Hand nach Hause. Als wir in unsere Straße einbiegen, sehe ich ein Schild vor einem Klamottengeschäft: „Räumungsverkauf“. Verdammt! Das ist auch Corona: Es gibt kein einheitliches Bild. Es ist noch lange nicht alles gut. Und gerecht schon gar nicht.
14. Mai: 6 Neuinfektionen in Hamburg
Ich habe in meinem Leben noch nie so schnell die Seiten gewechselt. Was habt ihr denn alle? Ist doch alles gut! Das Kind ist in der Kita, und ich kann in Ruhe arbeiten und muss dafür noch nicht einmal das Haus verlassen. Das Wetter wird immer schöner, und essen gehen können wir auch wieder. War da was? Um ehrlich zu sein, weiß ich jetzt schon nicht mehr, wie wir das geschafft haben. Aber ein Telefonat mit einer Freundin ruft mir wieder in Erinnerung, dass das nur ein sehr kleiner Ausschnitt ist: Sie hat drei schulpflichtige Kinder, an allen Schulen läuft es schlecht. Und es gibt nur wenig Perspektive, dass sich das Stunden-Stückwerk bald ändert. „Aber Hauptsache, jetzt können wieder alle schön zu zehnt essen gehen“, sagt sie. Unrecht hat sie nicht.
25. Mai: Keine Neuinfektionen in Hamburg
Thüringen also! Da will man die strengen Corona-Regeln nun abschaffen. Keine Kontaktbeschränkungen mehr, kein Mundschutz, kein Abstand? Auch in Sachsen sollen die Schulen nach den Sommerferien wieder regulär öffnen. Und in Hamburg? Wir sind vorsichtiger hier. Ich weiß nicht, ob das richtig ist, aber die Linie hier ist verlässlich. Lockern, warten, prüfen, lockern … Und in Zeiten, in denen sich alles jeden Tag ändern kann, fühlt sich „verlässlich“ gut an.
27. Mai: 5 Neuinfektionen in Hamburg
Ein großer Schritt zurück zur (gefühlten) Normalität: Kinos und Freibäder, Fitnessstudios und Sporthallen in Hamburg dürfen bald wieder öffnen,. Auch Yogastudios, Tanzschulen und Stadtteilkulturzentren und viele mehr können wieder loslegen. Dennoch sagt Bürgermeister Peter Tschentscher: „Wenn wir uns der Illusion hingeben, das Virus sei weg, dann wäre das eine Täuschung, das wäre fahrlässig.“ Die Stimmung im Bekanntenkreis ist sehr gemischt. Die einen sagen: Das geht alles zu schnell. Andere sagen, sie hätten kein Verständnis mehr für die vergleichsweise harte Linie angesichts der Zahlen. Was ich meine? Ich bin hin- und hergerissen. Aber jetzt niedrige Zahlen als Beleg dafür zu nehmen, dass alles übertrieben ist, finde ich schwierig. Das ist, als hätte man sich kräftig mit Sunblocker eingecremt und würde sich dann beschweren, dass das überflüssig war, weil man keinen Sonnenbrand bekommen hat.
1. Juni: 8 neue Corona-Fälle in Hamburg
Wir sitzen bei dem befreundeten Arzt im Garten. Der, der damals den Satz mit den Kitas gesagt hat, den ich für einen Witz gehalten habe. Wir essen Kuchen unterm Apfelbaum, die Kinder spielen, die Sonne scheint. Wir trinken Bier und Wein, wir umarmen uns.
Wir sind zwei Haushalte, wir dürfen das. Wenn ein Arzt dabei ist und der das auch so macht, muss es ja richtig sein. Er wirkt entspannt und gelassen. Das wirkte er auch bei dem Satz mit den Kita-Schließungen damals, er beobachtet und bewertet vielleicht anders als ich, wissenschaftlicher, weniger emotional. Aber als ich ihn frage, wie er das alles inzwischen sieht, wirkt er nachdenklich: „Viele Menschen denken, dass das Virus nun quasi weg ist.“ Wir seien eben gut im Verdrängen. Und wie es im Herbst weitergeht, wenn es kalt wird, sei völlig ungewiss. „Das Virus ist nicht steuerbar. Und es ist Corona im Zweifel egal, ob wir uns wochenlang angestrengt haben, es kann immer noch jeden erwischen.“ Jetzt bin auch ich wieder nachdenklich. Vielleicht hab ich mir mehr Klarheit gewünscht. Mehr Entwarnung. Aber wieso sollte es die auch ausgerechnet unter einem Apfelbaum an Pfingstmontag geben?
2. Juni: Null Neuinfektionen in Hamburg
Gute Nachrichten. Aber: 68 Neuinfektionen in Göttingen durch Privatfeiern. Strandbäder wie Scharbeutz und Haffkrug wurden gesperrt, weil zu viele Leute da waren. Auf Sylt hat es sogar eine richtige Massenparty gegeben. Die Quittung gibt es – so viel habe ich von dem Virus verstanden – schlimmstenfalls in zwei Wochen. Ich könnte sauer werden, aber ich bin es nicht.
So ein Virus ändert zwar viel, macht aber noch lange nicht alle gleich. Es gab vorher Idioten und jetzt eben auch. Und geärgert hab ich mich in den vergangenen Wochen ohnehin genug. Auf was ich mich nun einstelle? Auf alles: Die zweite Welle kommt wahrscheinlich (Robert-Koch-Institut); kommt vielleicht doch nicht (Christian Drosten); die Temperatur wird eine Rolle spielen (Virologe Hendrik Streeck); hohe Temperaturen können Covid-19 nicht aufhalten („Canadian Medical Association Journal“) ...
Wir werden es wahrscheinlich nie so ganz genau wissen. Ich hoffe einfach das Beste, halte mich an die Regeln und an die alte Knastweisheit: Einfach immer nur an morgen denken, sonst wirste irgendwann bescheuert ...