Hamburg. Warum das in diesem Herbst eine „soziale Verantwortung“ ist, erklärt Prof. Dr. Philippe Stock vom Altonaer Kinderkrankenhaus.

Es ist zwei Monate her, dass in Deutschland die Impfpflicht gegen Masern eingeführt werden musste, weil die Impfquote zu niedrig war. Heute würden wahrscheinlich alle Eltern sich und ihre Kinder gegen Corona impfen lassen, wenn es denn einen entsprechenden Impfstoff gebe. Ein Gespräch über das alte und neue Impfverhalten mit Prof. Dr. Philippe Stock, Leiter der Pädiatrie am Altonaer Kinderkrankenhaus (AKK).

Wird sich die Einstellung der Deutschen zum Thema Impfen durch Corona ändern?

Prof. Dr. Philippe Stock: Das glaube ich fest. Die Notwendigkeit, sich und andere mit einer Impfung zu schützen, ist jetzt endlich in ganz vielen Köpfen angekommen.

Sie sagen, dass Impfungen zum Schutz des Rechts auf körperliche Unversehrtheit eines jeden beitragen. Wie meinen Sie das?

Stock: Impfungen haben zwei Dimensionen. Die erste ist der Schutz des Individuums. Die Impfung verhindert Krankheiten, die für jeden Einzelnen gefährlich werden können. Die zweite Dimension, und die dürfen wir nie vergessen, ist, dass wir in einer Gemeinschaft leben und eine soziale Verantwortung gegenüber Schwächeren haben. Das sind all die, die sich aufgrund ihres Alters oder einer Erkrankung nicht impfen lassen können. Das meint der Begriff Herdenimmunität. Nehmen wir das Beispiel Röteln: Das ist in aller Regel keine schwerwiegende Krankheit für den Einzelnen. Wenn allerdings eine Schwangere sich mit Röteln infiziert, kann es bei dem ungeborenen Kind zu massiven Fehlbildungen kommen. Der Sinn einer Röteln-Impfung ist also nicht primär der Schutz des Individuums, sondern die Herstellung einer Herdenimmunität, um andere zu schützen.

Das Coronavirus in Deutschland und weltweit:

Corona wird oft mit der Influenza verglichen. Gegen die gibt es ja einen Impfstoff, aber selbst in der Risikogruppe der über 60-Jährigen lassen sich, in guten Jahren, vielleicht 50 Prozent der Menschen impfen…

Stock: Das wird sich jetzt ändern. Ich werde auf einmal von ganz vielen Eltern gefragt, wogegen sie sich und ihre Kinder impfen lassen sollen. Ich gehe fest davon aus, dass sich die Zahl der Impfungen zum Beispiel gegen Influenza und Pneumokokken erhöhen wird.

Wenn alle sich gegen Influenza impfen lassen würden, würde es so gut wie keine Toten durch das Virus geben – 2017/18 waren es bekanntlich 25.000.

Stock: So ist es. Wenn 95 Prozent der Bevölkerung einen Impfschutz haben, könnte sich der Erreger, in diesem Fall die Influenzaviren, gar nicht mehr ausbreiten. Das müssen sich alle klar machen: Wir haben mit Impfungen die Möglichkeit, Epidemien beziehungsweise Pandemien, wie wir sie gerade erleben, zu verhindern. Es müssen nur alle mitmachen.

Coronavirus – die Fotos zur Krise:

Ist es dann in diesem Herbst nicht Bürgerpflicht, sich gegen Grippe impfen zu lassen, damit es im Zweifel nicht zu zwei schweren Krankheitswellen gleichzeitig kommt?

Stock: Ich würde es eher als soziale Verantwortung bezeichnen, dass sich gerade in diesem Herbst jeder gegen Grippe impfen lässt. Damit würde jeder einen Beitrag dazu leisten, dass unser Gesundheitssystem nicht überfordert wird. Denn auch viele Grippe-Patienten müssen im Krankenhaus behandelt werden.

Kinder sind bekanntermaßen starke Verbreiter der Influenza. Wäre es nicht sinnvoll, auch sie dagegen zu impfen, weil dann diese Verbreitung stoppen würde?

Stock: Das wäre sinnvoll, weil wir damit indirekt auch die Risikogruppen schützen.

Was sind die Gründe, warum Eltern ihre Kinder gegen die typischen Kinderkrankheiten nicht impfen lassen wollen – und wie versuchen Sie, sie zu überzeugen?

Stock: Impfungen gehören zu den größten Errungenschaften der modernen Kinderheilkunde. Impfungen ist es zu verdanken, dass viele der klassischen Kinderkrankheiten gar nicht mehr in unserem Bewusstsein sind. Sie haben daher auch ihren Schrecken verloren. Wer hat denn schon einmal wirklich ein Kind mit Diphterie, Kinderlähmung oder mit einer Gehirnentzündung durch Masern gesehen? Viele fühlen sich einfach extrem sicher – das ist derzeit auch gerechtfertigt, hält aber nur so lange an, wie wir die Herdenimmunität aufrecht erhalten.

Über die Rolle der Kinder in der Coronakrise wird stark diskutiert. Wie erleben Sie bei sich in der Klinik bisher die Krankheitsverläufe?

Stock: Wenn man Corona und Influenza vergleicht, stellt man fest, dass die Hauptrisikogruppe bei beiden die über 60-Jährigen sind. Während das Influenzavirus aber vor allem für Kinder mit schweren Vorerkrankungen gefährlich ist, sehen wir das beim Coronavirus nicht in der Form. Ob Kinder eine Vorerkrankung haben oder nicht, eine Infektion mit Corona scheint in aller Regel ganz mild zu verlaufen.

Wie viele Kinder mussten Sie im AKK in den vergangenen Wochen mit einer Coronainfektion stationär aufnehmen?

Stock: Drei. Alle anderen Kinder, die bei uns in der Notfallaufnahme vorstellig wurden, waren so minimal erkrankt, dass wir sie guten Gewissens nach Hause schicken konnten. Und die drei Kinder, die hier bleiben mussten, haben wir nur kurz überwacht. Auch sie waren mild betroffen, obwohl sie zum Teil sehr klein waren.

Niemand weiß, wann ein Impfstoff gegen Corona kommt. Was machen wir, bis es soweit ist, wie schaffen wir eine Herdenimmunität?

Stock: Natürlich wäre es wünschenswert, eine Herdenimmunität zu haben. Trotzdem fände ich es falsch, jetzt auf einen Schlag wieder alle Kitas und Schulen zu öffnen, um in jüngeren Gruppen eine schnellere Durchseuchung zu erreichen. Es ist richtig, die Maßnahmen gegen Corona stufenweise zu lockern, alles andere wäre wohl zu gefährlich.

Die Coronakrise hat auch eine erstaunliche Auswirkung auf das AKK: In die Notaufnahme, die sonst eigentlich immer voll ist, kommt kaum noch jemand.

Stock: Ich finde das ganz interessant. Denn was wir jetzt sehen in den Notaufnahmen sind die wirklichen Notfälle. Seit Jahren diskutieren wir darüber, ob all die Patienten, die in die Notaufnahme kommen, auch tatsächlich dahin gehören. In diesen Wochen gibt es eine Antwort darauf.

Was bedeutet die Coronakrise für das Altonaer Kinderkrankenhaus als Ganzes, auch wirtschaftlich?

Stock: Für uns sind mit der Krise massive Einschränkungen verbunden. Wir haben alles, was planbar war, verschoben. Das bedeutet für uns natürlich viel weniger Patienten. Ich glaube das geht vielen Kliniken so. Ich allein erhalte jeden Tag 15 bis 20 E-Mails von Eltern von Patienten, die fragen, wann sie denn endlich wieder zur Untersuchung kommen können. Es ist nicht nur wirtschaftlich, sondern vor allem aus medizinischen Gründen höchste Zeit, dass wir unsere Patienten wieder untersuchen und versorgen können.

Coronavirus: So können Sie sich vor Ansteckung schützen

  • Niesen oder husten Sie am besten in ein Einwegtaschentuch, das Sie danach wegwerfen. Ist keins griffbereit, halten Sie die Armbeuge vor Mund und Nase. Danach: Hände waschen
  • Regelmäßig und gründlich die Hände mit Seife waschen
  • Das Gesicht nicht mit den Händen berühren, weil die Erreger des Coronavirus über die Schleimhäute von Mund, Nase oder Augen in den Körper eindringen und eine Infektion auslösen können
  • Ein bis zwei Meter Abstand zu Menschen halten