Hamburg. Zeitzeuge Gerd le Bell war ein überzeugter Hitlerjunge – bis die Briten kamen.
Im Januar 1945 – in meinem 13. Lebensjahr – kam ich aus Franken wieder von der Kinderlandverschickung in meine Geburtsstadt Hamburg zurück. In den letzten Apriltagen 1945 war im Volkssturm noch der Plan aufgekommen, die Eroberung Hamburgs dadurch zu stören, dass Jungvolkjungen per Fahrrad mit einer Panzerfaust bewaffnet den britischen Truppen südlich von Hamburg entgegenradeln sollten mit dem Auftrag, „so viel wie möglich“ Panzer zu „knacken“. Mit einer Gruppe von etwa gleichaltrigen uniformierten Jungen bin ich von wehrunfähigen, weil schwer verletzten Soldaten in den Gebrauch der Panzerfaust eingewiesen worden – dieser sagenhaften „panzerbrechenden Waffe“, die nicht besonders schwer war und die man von der Schulter aus abfeuerte …
Doch dann kam alles ganz schnell und Gott sei Dank anders. Es waren Frühlingstage, in denen sich die Ereignisse überschlugen und mich fast umwarfen: Am 1. Mai gab der Großdeutsche Rundfunk, den wir natürlich mit unserem Volksempfänger hörten, bekannt, dass „unser Führer Adolf Hitler heldenhaft für sein Deutsches Volk kämpfend gefallen sei“. Das zog mir fast den Boden unter den Füßen weg, und ich konnte nicht begreifen, dass es nach dieser Meldung Menschen mit gleichgültigen oder gar fröhlichen Gesichtern gab. Ich war tief erschüttert und verzweifelt. Doch auch meinen Eltern konnte ich irgendwie anmerken, dass ihnen wohl ein Stein vom Herzen fiel.
Am nächsten Tag erschien eine Extraausgabe der „Hamburger Zeitung“ mit einem Aufruf des Reichsstatthalters Karl Kaufmann an die Hamburger, der mich wiederum ungeheuer mitnahm und alles Erwartete der letzten Wochen Schall und Rauch werden ließ. Dieser „Aufruf“ und seine Folgen brachten eine fundamentale Wende in meinen jungen Lebenslauf.
Am folgenden Tag, dem 3. Mai 1945, rückten die Truppen der British Army über die Elbbrücken in Hamburg ein und besetzten zunächst die Innenstadt. Für das ganze Stadtgebiet war ein curfew, eine strikte Ausgangssperre, verfügt worden. Straßen und Plätze waren also leer, frei von Menschen, und die Panzerfahrzeuge der Briten rollten an diesem und dem nächsten Tag unbehelligt durch Hamburgs Stadtteile.
Meine Mutter, meine große, 17 Jahre alte Schwester Inge und ich warteten in Furcht gespannt und angestrengt hinter den Gardinen. Meine kleine Schwester Hannelore, der noch nicht ganz einjährige Nachkömmling, spielte indes in eigener Welt unbeeindruckt auf dem Fußboden.
Draußen war alles still, die Frühlingssonne kam heraus, als wir die ersten Motorengeräusche hörten: Unsere – meine – Feinde kamen. Wir öffneten einen Fensterflügel ein wenig, um besser hören zu können, obwohl dies streng untersagt war. Die Panzerfahrzeuge rollten um die Mittagszeit durch unsere unbedeutende kleine Nebenstraße, die Kernerreihe, die durch eine große parkartige Anlage mit Liegewiese von der Straße Langenfort mit ihrem imposanten Schulgebäude getrennt war. In diesem Schulbau, nach Plänen von Fritz Schumacher 1927–1929 erstellt, wurden kurz nach dem Einmarsch englische Truppen untergebracht.
Die Besetzung Hamburgs verlief allerorten so reibungs- und widerstandslos, dass die „Tommies“ (wie englische Soldaten damals genannt wurden) Vertrauen genug gewonnen hatten, um bei dem schönen Frühlingswetter die Panzerluken zu öffnen und die Köpfe herauszustrecken. Durch das leicht geöffnete Fenster im 3. Stockwerk hörte ich (und sah dann auch neugierig) aus einem offenen Panzerdeckel einen jungen „Tommy“ eine Melodie flöten. Es war „La Donna è Mobile“ aus Verdis „Rigoletto“. Ich war damals durch Radiokonzerte schon recht musikbewandert und erkannte gleich das, was mein Vater „Riegel-Otto“ zu nennen pflegte.
Man mag es nicht glauben, aber dieses kleine Ereignis war für mich ein Schlüsselerlebnis: Die erbitterte Feindschaft gegenüber unseren Kriegsgegnern, die mir jahrelang mit Erfolg eingebläut worden war und die mich Knaben zu einem radikaldeutschen Volksgenossen gemacht hatte, wich einem Gefühl wie: Die Feinde sind ja offenbar auch Menschen mit Kultur und Gefühlen. Die Notwendigkeit dieser simplen Erkenntnis wirkt heute grotesk. Aber so war’s nun mal.
Wir brauchten von diesem Tage an die Verdunkelungspflicht nicht mehr zu beachten. Wenn also die Stromversorgung funktionierte, was längere Zeit nur stundenweise der Fall war, erstrahlte die von Zerstörungen heimgesuchte Stadt wieder. Der Mann im Mond konnte wieder sehen, wo wir wohnten, erzählten wir unserer kleinen Schwester, was sie aber noch nicht verstand.
Der Krieg war vorüber. Das Land lag danieder. Es begann die neue, friedliche, aber schwere Nachkriegszeit.
Aufgezeichnet von Matthias Iken