Hamburg. Zwischen 1968 und 1970 erkrankten Millionen Deutsche. Trotz dramatischer Szenen ertrugen die Menschen die Krankheit.
Der Abendblatt-Bericht vom 5. November 1968 las sich wie eine Kriegsreportage: „Bonn bereitet Abwehrmaßnahmen gegen eine Invasion der Hongkong-Grippe vor. Seit Anfang Oktober ist, wie berichtet, ein Grippevirus im Anmarsch, das in Hongkong erstmalig identifiziert wurde und jetzt über England und Italien in einer Zangenbewegung auf uns zukommt.“ Im politischen Bonn hatte man sich – ganz im Geiste des Kalten Krieges – auch schon einen Namen überlegt, der eingängiger klingen sollte: Statt Hongkong, wo das Virus entdeckt wurde, sprach die Politik lieber von der „Mao-Grippe“. Im Osten wiederum titelte das Neue Deutschland später: „Grippe grassiert in Europa. Keine Epidemie in der DDR.“
Dabei waren beide deutschen Staaten vom Virus betroffen – und wie. Millionen Menschen erkrankten beim zweiten, größeren Ausbruch im Winter 1969/70, Forscher gehen inzwischen davon aus, dass an der Grippe 40.000 Menschen zusätzlich starben. Größere Vorsichtsmaßnahmen gab es indes nicht: Da aber so viele Menschen im Dezember und Januar gleichzeitig erkrankten, schlossen die Behörden Schulen und verlängerten die Ferien, Industriebetriebe fuhren notgedrungen die Produktion herunter, weil Arbeitskräfte reihenweise erkrankten.
Auf Testergebnisse musste man damals Wochen warten
Als 1968 die ersten Fälle der Hongkong-Grippe im Ausland auftauchten, beruhigte die Hamburger Gesundheitsbehörde noch: „Bei einer möglichen Epidemie dieser Krankheit, die nicht als lebensgefährlich gilt und in der Form der bisher schon bekannten Grippe-Anfälle verläuft, würden vor allem Säuglinge, Alte und Gebrechliche anfällig sein“, hieß es dort am 9. November. „Für diesen Personenkreis, so betont die Gesundheitsbehörde weiter, sei bereits eine ausreichende Menge eines neu entwickelten Impfstoffes vorhanden.“
Sollte die Hongkong-Grippe auf Hamburg übergreifen, würden sofort Verhaltensmaßregeln bekannt gegeben. Es dauerte aber noch, bis die Grippe nach Hamburg kam. Fast im Wochentakt vermeldete das Abendblatt die beruhigende Botschaft: „Keine Hongkong-Grippe in der Bundesrepublik.“ Am 28. Januar 1969 las man: „Hamburg ist noch frei von der Hongkong-Grippe.“ Das verwundert, weil viele Nachbarländer wie Polen oder Holland längst Fälle meldeten – allerdings reisten die Deutschen vor 50 Jahren auch deutlich weniger. Nur einzelne Ausbrüche in der Bundesrepublik wie im Kreis Meppen oder einer Heil- und Pflegeanstalt in der Nähe von Braunschweig wurden vermeldet.
Die Lage spitzte sich zu
Trotzdem spitzte sich die Lage auch in Hamburg zu; vier Wochen später wandten sich Betriebe Hilfe suchend an die Krankenkassen und fragten um Rat, „wie sie der Erkältungswelle Herr werden konnten“. In manchen Betrieben, so das Abendblatt, sei der Produktionsablauf gefährdet, weil jeden Morgen wichtige Arbeitsplätze nicht mehr besetzt werden können. Trotzdem blieb es dabei: „Die gefürchtete Hongkong-Grippe ist in Hamburg noch nicht aufgetreten.“
Stattdessen gaben die Behörden Tipps zur Vorsorge: „Jeden Morgen eine heiß-kalte Wechseldusche. Die Haut kräftig mit einer Bürste massieren und anschließend mit einem Frottiertuch intensiv abreiben. Fünf Minuten Gymnastik zur Aktivierung des Kreislaufs.“ Zudem empfahl die Gesundheitsbehörde: „Nicht mehr so viele Hände schütteln und „das Küssen auf weniger erkältungsgefährdete Zeiten verschieben“.
Grippewelle weitete sich binnen Tagen in Hamburg stark aus
Im nächsten Winter aber schlug das Virus gnadenlos zu: Kurz vor Weihnachten 1969 bestätigte Eckbert Zylmann, Präsident der Hamburger Gesundheitsbehörde, die ersten beiden Todesfälle an der Hongkong-Grippe. Die Grippewelle weitete sich binnen Tagen in Hamburg stark aus. Bald starben auch jüngere Menschen – beispielsweise ein 29 Jahre alter Mann, der nach einer längeren Autofahrt völlig erschöpft ins Barmbeker Krankenhaus eingeliefert worden war.
Der ärztliche Notdienst warnte vor längeren Wartezeiten und riet dazu, den Genuss von Alkohol und Nikotin einzuschränken und eine vitaminreiche Ernährung zu bevorzugen. Das alles half wenig: Kurz darauf meldeten Schleswig-Holstein und Niedersachsen, dass 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung an Grippe und Erkältungen erkrankt seien – der höchste Krankenstand seit vielen Jahren. Fast drollig liest sich in diesem Zusammenhang der fast notorische Hinweis, die Hongkong-Grippe sei es aber nicht. 1969 gab es eben noch keine allgegenwärtigen Virologen ...
Schlimmer als Hamburg erwischte es den Süden und Osten der Republik
Kurz vor Silvester 1969 wandte sich die Hamburger Gesundheitsbehörde an die Öffentlichkeit: Ehemalige Krankenschwestern, Pfleger und Krankenpflegehelferinnen sollten für ein paar Tage oder „Wochen in den stark überbelegten Hamburger Krankenhäusern“ aushelfen. Die Lage in den großen Kliniken sei angespannt. „Die Einweisung von vornehmlich älteren Patienten, die an Grippe oder schweren Erkältungen erkrankt sind, hält nach wie vor an.“ Ausgerechnet die Festtage wirkten dann wie eine Kontaktsperre – viele Hamburger blieben mehrere Tage zu Hause, das Virus verbreitete sich weniger.
Schlimmer als die Hansestadt erwischte es den Süden und Osten der Republik: In Bayern waren kurz vor Weihnachten 40 Prozent der Menschen erkrankt. Die Verkehrsbetriebe in München mussten das Angebot zurückfahren, weil sich zeitweilig 490 Schaffner und Fahrer krankmeldeten. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ berichtete über einen Bestattungsnotstand: In den Kühlkammern der Berliner Krematorien lagen 800 Verstorbene, die längst hätten eingeäschert werden sollen, in den Krankenhäusern gebe es keine Betten mehr. Es sind Meldungen, die an Bergamo erinnern.
„Gehobene Mittelklasse“ der Krankheiten
Die Symptome der Epidemie beschrieb das Abendblatt so: „Die typischen Zeichen der Hongkong-Grippe sind Fieber von 39 bis 40 Grad und ein Gefühl, als wäre man mit einem Holzpantoffel vor den Kopf geschlagen worden. Dazu kommen allgemeine Erkältungserscheinungen, Appetitlosigkeit, manchmal auch Schüttelfrost und Brechdurchfall. Nach ein paar Tagen scheint alles vorüber zu sein. Wenn das Fieber sinkt, fasst der Grippekranke neuen Mut. Aber seine Hochstimmung ist von kurzer Dauer. Bald fürchtet er, einen Rückschlag zu erleiden. Er hat wieder ein trockenes Gefühl im Hals. Die Bronchien oder der ganze Brustkorb tun ihm weh. Er merkt schon bei der leisesten Arbeit, dass er noch schwach und elend ist.“
Trotzdem sei die Grippe nicht so schlimm, eher die „gehobene Mittelklasse“ der Krankheiten, wie ein Arzt die Pandemie charakterisierte. Die Betroffenen zu testen erschien sinnlos: „Dies Verfahren ist teuer. Das Ergebnis liegt erst nach einigen Wochen vor, wenn der Betroffene längst wieder arbeitet und gar nicht mehr wissen will, wie das Virus heißt, das ihn für ein paar Tage ins Bett schickte.“
Grippe schien in der Wahrnehmung der Journalisten nicht so schlimm zu sein
In der Wahrnehmung der Journalisten schien die Grippe nicht so schlimm zu sein. Die großen Schlagzeilen fehlten. Im Januar 1970, als das Virus noch in Hamburg wütete, kalauerte das Abendblatt in einer Glosse: „Gefürchteter als die Hongkong-Grippe ist bei Männern eine alle halbe Jahr wiederkehrende Krankheit, die Frauen jedes Alters ergreift: das Ausverkaufsfieber.“
Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde
- Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum und halten Sie Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen
- Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
- Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
- Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
- Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden
Vermutlich wusste man es damals nicht besser: Viele Grippetote wurden als solche nicht erkannt, in den Medienberichten blieben selbst in der heißen Phase Horrorzahlen aus. Für Hamburg ist nur von elf Toten die Rede – allerdings gab es keine einheitliche Erhebung in der Bundesrepublik. Bald stellte sich eine Herdenimmunität ein. Am 1. April 1970 zogen Krankenkassen, ärztliche Notdienste und das Bundesgesundheitsministerium eine „Bilanz der Grippewelle“: Rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung in der damaligen Bundesrepublik – also weit über zwanzig Millionen Menschen – waren demnach an Grippe erkrankt. Auf dem Höhepunkt der Grippewelle in der Zeit von Anfang Dezember bis Anfang Januar starben mehr als 2000 Menschen.
Unbegründete Furcht
In den 90er-Jahren rechneten Experten schon mit 20.000 Toten in der Bundesrepublik. Inzwischen kalkulieren Historiker sogar mit 50.000 Toten in Westdeutschland, beziehungsweise einer „Übersterblichkeit von 40.000 Menschen“. Die Letalität läge demnach bei 0,1 bis 0,25 Prozent. Der „Spiegel“ konstatierte über diese Zeit in einem aktuellen Beitrag völlig zu Recht: „Es war die Zeit des Wirtschaftswunders, die öffentliche Meinung empörte sich nicht über Kranke und Tote, sondern fürchtete um die Früchte des Wiederaufbaus.“ Diese Furcht indes war unbegründet: Aus der Wirtschaftsstatistik lässt sich die Hongkong-Grippe nicht herauslesen: 1969 wuchs das westdeutsche Bruttoinlandsprodukt um gut drei Prozent, in den darauffolgenden Jahren sogar um vier bis fünf Prozent.