Hamburg. Die Krise in Hamburg seit Mitte März hat beim Ersten Bürgermeister zu einer bemerkenswerten Rollenveränderung geführt.
Einen Moment lang sah es so aus, als ob der Finanzsenator, der Peter Tschentscher sieben Jahre lang war, sprechen würde und nicht der Erste Bürgermeister: Nach der ersten Runde der rot-grünen Koalitionsverhandlungen skizzierte der Sozialdemokrat am Donnerstagabend fachlich-routiniert die finanzielle Lage und Zukunft der Stadt in Zeiten der Coronapandemie – es wurde, wenig überraschend, ein eher düsteres Bild. SPD und Grüne haben zum Auftakt der Gespräche im Großen Festsaal des Rathauses den Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten abgesteckt, es wird wohl ein enges politisches Korsett werden.
Zwar kündigte Tschentscher ein Investitionsvolumen von 20 Milliarden Euro für die nächsten 20 Jahre als eine Art Konjunkturprogramm nach Corona an, aber dabei handelt es sich im Wesentlichen um Vorhaben, die ohnehin geplant waren und fortgeschrieben werden. Darüber hinaus, das machte Tschentscher deutlich, wird nicht viel gehen. „Wir müssen wirtschaftlich vernünftig investieren und Wachstumsimpulse setzen, aber auf der anderen Seite im laufenden Haushalt uns auf das begrenzen, was wir uns auf Dauer leisten können“, sagte der Bürgermeister. Das klingt nicht danach, als ob allzu viele grüne Blütenträume reifen werden.
Als Arzt verfügt Tschentscher über hohe Glaubwürdigkeit
Außer Tschentscher gaben auch die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne) sowie die Parteichefinnen Melanie Leonhard (SPD) und Anna Gallina (Grüne) kurze Einschätzungen ab. Doch während sich die Politikerinnen aufeinander bezogen und zum Beispiel auf gemeinsam bereits durchgestandene Krisen hinwiesen, wirkte Tschentscher fast ein wenig isoliert, unnahbar. Es wäre verständlich, wenn der Bürgermeister angesichts der Megaprobleme, die das Virus verursacht, mit den Gedanken einen Moment lang woanders gewesen wäre. Zu seinem üblicherweise extrem konzentrierten Agieren und Auftreten passt das indes nicht.
Die zurückliegenden Wochen der um sich greifenden Coronapandemie haben für Tschentscher nicht nur einen Dauereinsatz auf Landes- und Bundesebene mit einem permanenten Koordinierungs- und Abstimmungsbedarf bedeutet – zudem fast im direkten Anschluss an den kräftezehrenden Bürgerschaftswahlkampf. Die Zeit seit Mitte März hat für ihn auch zu einer bemerkenswerten Rollenveränderung geführt: Als Arzt verfügt Tschentscher gerade jetzt über hohe Glaubwürdigkeit, und es gelingt ihm offensichtlich, den Charakter der Infektion und die Wege ihrer Ausbreitung verständlich zu erklären sowie die Notwendigkeit auch harter Einschnitte überzeugend zu begründen.
Tschentschers nüchterne Sachlichkeit
Zwischen den Extremen der Panik und der Sorglosigkeit fährt er einen mittleren Kurs der nüchternen Sachlichkeit mit gelegentlich mahnend erhobenem Zeigefinger. Sein Vorgehen in der Krise wirkt präsidial und bisweilen sogar etwas landesväterlich.
Anders als sein schleswig-holsteinischer Amtskollege, Ministerpräsident Daniel Günther (CDU), der mit seinen zum Teil widersprüchlichen Ankündigungen der Abschottung auch gute Nachbarn irritiert hat, geht Tschentscher, bislang jedenfalls, gestärkt aus der Coronakrise hervor. Der Hamburger hat auch eher gelassen auf den Rauswurf von Hamburger Ferienwohnungsbesitzern aus dem nördlichen Nachbarland reagiert („eine sehr unfreundliche Episode“) und sich jedenfalls öffentlich bemüht, sogar ein wenig Verständnis für Günther zu zeigen.
Bundespolitische Wahrnehmung
Kurzum: Tschentscher hat an politischer Statur gewonnen und ist auch bundespolitisch wahrnehmbarer geworden. Das liegt zum Teil daran, dass ihm seine Aufgabe als stellvertretender Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz gelegentlich auch einen Auftritt zwischen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzler Olaf Scholz (SPD), seinem Vorgänger im Rathaus, in der Bundespressekonferenz beschert. Zur größeren Bundespräsenz Tschentschers gehören mittlerweile auch Auftritte in Fernseh-Talkshows. Vielleicht machen diese Erfahrungen und Konstellationen den Rollenwechsel in das Klein-Klein von Koalitionsverhandlungen schwierig.
Dabei hat die Coronakrise auch die politischen Koordinaten zwischen den bisherigen und möglichen künftigen Koalitionspartnern von SPD und Grünen verändert. „Die Streitlust ist gering, der Einigungsdruck groß“, sagt ein Mitglied der Verhandlungsdelegationen. Der SPD mag dieser Befund insgesamt eher entgegenkommen. Für die Psychologie der Grünen ist der vermeintliche Krisen-Konsens dagegen viel schwieriger. Der Juniorpartner der SPD war nach der Verdoppelung des Stimmanteils auf 24,2 Prozent bei der Wahl extrem selbstbewusst und hatte sich viel vorgenommen.
Der Zeitdruck ist zwei Monate nach der Wahl sehr groß
Das grüne Gewicht sollte inhaltlich und personell in der Koalition gestärkt werden, auch wenn die SPD trotz deutlicher Verluste klar stärkste Kraft geblieben ist. Jetzt müssen beide Partner fast täglich Coronakompromisse schließen. Da fällt selbst die Inszenierung einer Eskalation mit der Drohung des Gesprächsabbruchs, die zur Dramaturgie von Koalitionsverhandlungen eigentlich gehört, ungleich schwerer.
Es kommt hinzu, dass der strategische Vorteil der SPD nach wie vor erhalten bleibt: Rechnerisch ginge es für die Genossen auch mit der CDU, obgleich das derzeit noch unwahrscheinlicher ist als direkt nach dem 23. Februar. Denn auch das ist wahr: Zwei Monate nach der Bürgerschaftswahl ist der Zeitdruck sehr groß geworden. Alles andere als die Bürgermeisterwahl durch die Bürgerschaft vor Beginn der Sommerferien Ende Juni wäre nur schwer vermittelbar.
Grünes Ringen um mehr Macht
Wenn für neue große politische Projekte kaum mehr Geld vorhanden ist, wird sich das grüne Ringen um mehr Macht und Einfluss umso stärker auf die Personalfragen konzentrieren. Es bleibt das Ziel der Partei, die Zahl der Senatoren von derzeit drei auf fünf von zwölf Posten zu erhöhen. Von der Frage, ob es am Ende vier oder fünf grüne Senatsmitglieder sind, wird für viele, auch für viele grüne Parteimitglieder die Entscheidung über Erfolg oder Misserfolg der Ökopartei in den Verhandlungen abhängen.
Die SPD hat deutlich gemacht, dass für sie ein Verzicht auf die Zentralressorts Finanzen, Inneres, Schule und Soziales nicht infrage kommt. Auch hier trifft zu: Für ein ganz großes Revirement dürfte die Zeit zu knapp werden. Auch deswegen gelten die Senatoren der Grünen, Katharina Fegebank (Wissenschaft), Jens Kerstan (Umwelt) und Till Steffen (Justiz) als gesetzt. Die Grünen streben darüber hinaus die Ressorts Stadtentwicklung und Verkehr an. Der Reiz liegt in den großen gestalterischen Möglichkeiten, die zudem in der Stadt schnell sichtbar werden können.
Verschiedene Szenarien
Derzeit gilt ein Wechsel des Grünen-Fraktionschefs Anjes Tjarks auf den Posten des Verkehrssenators als realistisches Szenario. Der Haken: Verkehr bildet mit Wirtschaft eine Behörde, und die SPD will die Wirtschaft mit dem Hafen nicht den Grünen überlassen. Die Teilung des Ressorts hätte zur Folge, dass es einen Senatorenposten mehr gibt, was unpopulär ist. Der Zuwachs könnte ausgeglichen werden, wenn das Gesundheitsressort – Senatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) will nicht weitermachen – wieder der Sozialbehörde angegliedert würde, wovon Sozialsenatorin Leonhard aber nicht besonders begeistert sein soll.
Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde
- Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum und halten Sie Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen
- Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
- Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
- Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
- Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden
Die Ausgangslage in der Stadtentwicklungsbehörde ist vergleichsweise einfach, da Senatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD) ihren politischen Abschied vorbereitet. Grünen-Landeschefin Anna Gallina könnte an die Spitze der Wilhelmsburger Behörde wechseln. Denkbar wäre auch, dass Gallina die Gesundheitsbehörde übernimmt und die Zahl der Senatsmitglieder doch erhöht wird. Denn: Wenn Stapelfeldt und Prüfer-Storcks das Kabinett verlassen, wäre Melanie Leonhard die einzige Senatorin mit SPD-Parteibuch. Das wäre weder für Tschentscher noch seine Partei im Jahr 2020 vermittelbar und durchzuhalten.