Hamburg. Vor 125 Jahren schuf der Kaufmann Ernst Drucker mit dem nach ihm benannten Theater eine Bühne für alle Bevölkerungsschichten.
Der Mann hatte Stil und war ziemlich mutig. Vor rund 125 Jahren, am 16. April 1895, übernahm ein ausgebildeter Schauspieler das in die Jahre gekommene Varieté-Theater am Spielbudenplatz in eigener Regie. Vier Wochen später verpasste der neue Direktor ihm dann auch noch seinen eigenen Namen: „Ernst Drucker Theater“.
Unbedarft in geschäftlichen Dingen war der 39-Jährige allerdings nicht. Er hatte die traditionsreiche Bühne, die es seit 1841 vor Ort gab (ursprünglich als Urania Theater), schon 1884 gekauft, sie danach aber jahrelang an wechselnde Direktoren vermietet. Mehr noch: Drucker war zuvor bereits Chef zweier Theater in der Nachbarschaft gewesen: Das Carl-Schultze-Theater an der Reeperbahn und das Theater der Centralhalle, das sich ebenfalls am Spielbudenplatz befand, hatten zeitweise unter seiner Leitung gestanden. Nun also nahm er – Künstler und Kaufmann in einem – erstmals die Zügel im eigenen Haus selbst in die Hand. Und eine Vision brachte er auch mit.
Die Konkurrenz war groß
Das Durchschnittspublikum im Dunstkreis des heutigen St. Pauli begeisterte sich damals vor allem für Operettenklassiker, Varieté, Tingeltangel und ähnlich Leicht-Seichtes. Doch die Konkurrenz war groß, und der Bühnenlandschaft vor Ort fehlten Impulse. Ernst Drucker wollte neue Wege gehen und nach eigenem Bekunden ein ganz und gar unverwechselbares Theater schaffen: eine Spielstätte für alle, an der sich sämtliche Bevölkerungsschichten zusammenfinden sollten.
Dabei ging es ihm auch darum, Bühnenkunst stärker als bisher einem kleinbürgerlich-proletarischen Publikum zu erschließen. Sein Start als unabhängiger Direktor im eigenen Haus bedeutete dann auch einen Schritt, mit dem er „nachhaltig in das Hamburger Theaterleben eingriff“, schreibt die Leiterin der Hamburger Theatersammlung, Michaela Giesing, in der „Hamburgischen Biografie“.
Ernst Drucker spielte auch selbst kleine Rollen
Drucker setzte vor allem auf Lokalpossen, und Volksstücke in plattdeutscher Sprache wurden fester Bestandteil des Spielplans. Wer richtig lachen wollte, ging abends zum Spielbudenplatz und sah sich volksnahe Stücke in breitem Hamburgisch oder auf Plattdeutsch an. Aufführungen wie „Familie Eggers oder eine Hamburger Fischfrau“ – besser bekannt als „Tetje mit de Utsichten“ – oder „Die Zitronenjette“ feierten große Publikumserfolge. Drucker hob Lokal-Burlesken wie „Ein Hamburger Nestküken“ und „Die Venus vom Hopfenmarkt“ ins Programm, präsentierte aber auch derbe Schwänke und nicht jugendfreie Sittenstücke („Lolottens Strumpfband“), die nicht zu Unrecht längst vergessen sind.
Obendrein wagte sich Drucker an anspruchsvollere Stoffe. 1898 ging in seinem Theater die Hamburger Erstaufführung von Ibsens „Die Frau vom Meer“ über die Bühne, weitere Inszenierungen von Ibsen- und Hauptmann-Werken folgten.
Es war ein eigenwilliger, schwer einzuordnender Mix, der dem Publikum vor allem viel Abwechslung bei permanent guter Unterhaltung bot. Um die neue Zeit auch nach außen deutlich zu machen, ließ Drucker das Haus 1898 nach Plänen des Architekten Richard Jacobsen umbauen, der auch die heute noch bestehende markante Fassade im Renaissancestil entwarf.
Was zu Druckers Lebzeiten kaum jemand in Hamburg wusste: Der Theaterdirektor mit dem eindrucksvollen Kaiser-Wilhelm-Bart war 1855 in der Neustadt als Sohn des jüdischen Kaufmanns Isaac Drucker geboren worden und hieß ursprünglich Nathan. Nach Engagements an mehreren deutschen Bühnen war er 1877 in die damalige Hamburger Vorstadt St. Pauli zurückgekehrt, wo er häufig jugendliche Liebhaber und Lebemänner spielte. Erst 1882 nahm er den Vornamen Ernst an. Auch Jahre später schlüpfte er immer wieder in kleinere Rollen, gelegentlich arbeitete er an Bühnenstücken auch eigenhändig mit.
Ernst Drucker führte die Geschäfte seines Theaters zunächst bis 1908, ein zweites Mal dann von 1915 bis zu seinem Tod im Jahr 1918. Sein Grab auf dem Ohlsdorfer Friedhof ist auch heute noch erhalten.
1921 kaufte Siegfried Simon, ehemaliger Direktor des Flora-Varietés am Schulterblatt, den Drucker-Erben das Theater ab, allerdings starb er schon drei Jahre später. Seine Witwe Anna führte das Haus danach bis 1964 weiter, nachdem sie sich einigermaßen mühsam in die Materie eingearbeitet hatte. Von ihr wird berichtet, dass sie sich mit „Frau Direktor“ anreden und täglich vom Chauffeur vorfahren ließ.
Von 1895 bis 1941 war das Ernst Drucker Theater in Hamburg eine bekannte Größe mit einem gut eingeführten Namen. Man ging oft und gerne „ins Drucker“ – wie es umgangssprachlich hieß. Als zur Feier des 100-jährigen Bestehens im Jahr 1941 eine Festschrift erschien (übrigens mit Grußworten von Emmy Göring und Heinrich George), registrierte das „Amt für Kunstpflege“, dass der Namensgeber Jude gewesen war. Die Festschrift wurde eingestampft und das Haus noch vor der Feier zwangsweise in St. Pauli Theater umbenannt. Dabei blieb es auch nach 1945.
Über viele Jahrzehnte war die Bühne auch unter ihrem neuen Namen durchgehend mit genau dem Stil erfolgreich, den Ernst Drucker einst geprägt hatte. Ältere Hamburger erinnern sich beispielsweise noch, dass Henry Vahl in den frühen 1970er-Jahren dort mehr als 160-mal die „Zitronenjette“ spielte (mal mehr, mal weniger textsicher), die immer noch ein Dauerbrenner war.
Seit 2011 ist der von den Nazis getilgte Name wieder zu sehen
Dass Ernst Druckers Name einst getilgt worden war, kam in Hamburg im Laufe der Jahre immer wieder mal zur Sprache, und schließlich mehrten sich Stimmen, die eine Rückbesinnung auf den einst Verfemten forderten. Im Jahr 2011 – anlässlich des 170. Geburtstags der Bühne am Spielbudenplatz – war es dann so weit. Eine regelrechte Umbenennung des St. Pauli Theaters, die damals etwas vollmundig angekündigt worden war, gab es zwar nicht, aber immerhin eine geschickte Namensergänzung. Die damalige Kultursenatorin Barbara Kisseler enthüllte den unterhalb des Theaternamens St. Pauli Theater angebrachten Schriftzug „ehemals Ernst Drucker Theater“. „Jetzt gehen die Hamburger wieder ins Drucker“, sagte Kisseler damals. Damit schloss sich ein Kreis. In Hamburg erinnert man wieder an Ernst Drucker, der sich vor 125 Jahren anschickte, ein Theater für alle zu wagen.